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Wie originelle Figuren und Völker in die Fantasy kommen

Federwelt
Philipp Bobrowski
Bild zum Thema Fantasyfiguren

Oh Mann, schon wieder Orks? Zwerge, Elfen? Fällt dem nichts Neues ein? Und ja, natürlich ein Zauberer, der dem Helden zur Seite steht und noch dazu genauso aussieht, wie man sich Gandalf immer vorgestellt hat!

Will man sich diesem Vorwurf aussetzen: nicht originell zu sein, nur zu kopieren? Natürlich nicht!

Andererseits: Ist der Vorwurf nicht ungerecht? Kaum jemand wird einem Märchen vorwerfen, wenn es von Prinzen, Prinzessinnen, Hexen und Drachen handelt. Und niemand beschwert sich, wenn in einem Krimi wieder mal ein Polizist oder ein Privatermittler die Hauptrolle spielt. Gehören solche Völker und Figuren inklusive ihrer Magie nicht zur Fantasy wie der Mord zum Krimi?

Ja! Und nein!

Ich verstehe jeden, der sich in einige oder alle der klassischen Fantasyvölker und -figuren verliebt hat, seien es nun Trolle oder Drachen, Waldläufer oder Diebe, und sich wünscht, neue Geschichten von eben diesen zu erzählen oder zu lesen. Und ich bin sicher, da gäbe es noch viel Neues und Überraschendes zu entdecken.

Ich verstehe aber auch jeden, der vollkommen zu Recht darauf hinweist, dass doch gerade die Fantasy praktisch unendliches Potenzial für vollkommen neue Ideen bietet. In welchem Genre könnte man sonst seiner Fantasie so freien Lauf lassen?

Was also tun?

Entscheidung

Es gilt bei dieser Frage wie bei so vielen anderen: Man kann es nie allen recht machen. Sie werden so oder so immer nur einen bestimmten Leserkreis ansprechen können und einen Teil der LeserInnen außen vor lassen. Und sich die entsprechenden Vorwürfe einfangen.

Sie sollten also eine Entscheidung treffen. Und die wird zuvorderst von Ihren eigenen Vorlieben abhängen. Wenn Sie nun mal von Orks, Zwergen oder Elfen angetan sind, lassen Sie sie ihren Platz in originellen und spannenden Geschichten finden. Und die LeserInnen, die nicht schon allein wegen der Anwesenheit solcher Völker abgeschreckt sind, werden es Ihnen danken.

Wenn es Ihnen andersherum Spaß macht, sich mit neuen Völkern und untypischen Figuren zu beschäftigen, belassen Sie es nicht dabei. Beeindrucken werden Sie letztlich auch dann nur mit einer wirklich guten Geschichte.

Gott spielen

Bei der Besiedelung Ihrer Welten mit Völkern, die nie ein Mensch zuvor gekannt hat, haben Sie völlig freie Hand. Sie erfinden also zum Beispiel das Volk der Gruselis und …

Hm. Schreiben Sie ein Kinderbuch? Nicht? Dann wird dieser Name vermutlich eher Verwunderung hervorrufen. Möglicherweise werden manche LeserInnen Ihren Roman vom Auftauchen dieses Namens an nicht mehr ernst nehmen. Vielleicht ist das ja gewollt, weil es in Ihrer Geschichte ohnehin recht lustig zugeht, ansonsten denken Sie über diesen Namen lieber noch einmal nach.

Torks? Finden Sie das besonders kreativ?

Bolgs? Gibt es schon. So heißen die Orks in Die Ringe der Macht von Horst von Allwörden und Helmut W. Pesch.

Gar nicht so einfach, oder? Wie bitte? Die Ptschak? Hab ich noch nie gehört. Klingt aber gut. (Sie sollten sofort eine Sprache dazuerfinden, in der das irgendetwas bedeutet!)

Ihre Ptschak sind von weitgehend humanoider Gestalt, allerdings kräftiger und breiter gebaut als die meisten Menschen, muskulös, mit langen Armen und leicht gebeugter Haltung. Ihre Haut ist ledrig und von gelblich grauer bis schmutzig grüner Farbe, Stiernacken, Fangzähne ... Moment! Wenn die Ptschak sich jetzt noch entsprechend verhalten, wird man Sie fragen, warum Sie sie nicht einfach Orks genannt haben.

Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, mal eben ein wirklich originelles Völkchen zu erfinden. Und zwar selbst dann, wenn man sich (anders als ich soeben) wirklich etwas einfallen lassen will. Vor allem, weil das eigentlich noch recht junge, aber gleichzeitig uralte Genre der Fantasy so archetypisch ist. Nicht nur die Figuren, auch die klassischen Fantasyvölker besetzen ihre Rollen perfekt. Sucht man nach Typen, die von der gegnerischen Seite mit Vorliebe als Krieger angeworben werden, weil sie grobschlächtig, kampferfahren, stark und dumm sind, landet man unweigerlich bei den Orks. Zumal die sich (zumindest in der Masse) bestens als Kanonen... besser: Schwertfutter eignen, ohne dass irgendeiner inklusive der LeserInnen ihnen eine Träne nachweint. Anders gesagt: Gäbe es die Orks nicht, müsste der Fantasyautor, der eine Geschichte schreiben wollte, die vom Kampf der guten gegen die bösen Mächte berichtet, sie erfinden.

Und es ginge einer Autorin ganz ähnlich mit den Wesen, die in ihrer Welt wandeln sollen und den dort ansässigen Menschen beinahe gottähnlich erscheinen: gleichermaßen zart wie mächtig, schön und unnahbar, von Magie umgeben und mit der Natur verbunden ... Sie würde die Elfen/Elben neu erfinden.

Wer wirklich originell sein will, wird erkennen müssen, dass diese Originalität die Geschichte selbst einschließen muss, dass es nicht ausreicht, nur die Völker auszutauschen, denn dann erreicht man möglicherweise mit dem Endprodukt eine weniger eindrucksvolle Wirkung als gewünscht.

Aber ein Schritt nach dem anderen.

Originelle Würze

Wie gesagt, nicht jeder will die Welt komplett neu erfinden. Und wenn man sowieso nicht jeden gleichermaßen glücklich machen kann, gibt es ja sicher auch diejenigen, die sich einfach ein paar originelle Akzente wünschen. Solche, die ihr Lieblingsessen mit neuen Gewürzen aufpeppen wollen, ohne gleich ganz darauf verzichten zu müssen.

Schon dann sind die Möglichkeiten vielfältig und die Übergänge fließend. Wenn ich Ihnen also im Folgenden am Beispiel der Orks ein paar Stufen vorstelle, haben diese nur Modellcharakter.

Stufe 1:

Sie lassen den Orks ihren Namen, ihr Äußeres und die Eigenschaften, die sie üblicherweise zu Orks machen. Wobei die Bandbreite dabei größer ist, als man annehmen könnte. Auch Orks sind je nach Herkunft (je nach Roman, Film, Game) mal größer, mal kleiner, mal grüner, mal schwärzer, mal schlitzäugiger, mal stärker, mal schwächer, mal dümmer, mal gefühlskälter. Vom reinen Schwertfutter in großen Schlachten über rüpelhafte Kneipengänger bis hin zu Gefährten des Helden ist alles dabei. Und oft ist selbst in ein und demselben Roman Ork nicht gleich Ork, nicht nur, weil sie unterschiedlichen Rassen oder Stämmen angehören.

Wenn Sie hier ein bisschen variieren, können Sie Ihre ganz eigenen Orks erschaffen. Sie sollten natürlich das Orkische behalten, nicht zu Menschen, Zwergen oder gar Elfen werden, sonst bräuchten Sie sie ja gar nicht Orks zu nennen.

Ergänzen Sie Stufe 1 unbedingt mit Stufe 5.

Stufe 2:

Geben Sie den Orks einen anderen Namen und sorgen Sie dafür, dass man sie äußerlich nicht sofort wiedererkennt. Seien Sie sich aber bewusst, dass Sie diesen Schritt nicht als Erstes gehen. Um das Andersartige (und möglicherweise das besonders Kalte/Böse) zu betonen, werden zum Beispiel gern Echsenvölker herangezogen.

Das größere Problem wird aber vermutlich sein, weit genug vom Original abzuweichen, ohne ins Lustige oder gar Lächerliche abzudriften. So haben die Orks bereits nahezu alle Hautfarben abgedeckt, die wir uns in einem fantastischen Rahmen als natürlich vorstellen können, die wir aber gleichzeitig in Kombination mit weiteren Eigenschaften (pockennarbig, ledrig, mit Warzen besetzt, schuppig et cetera) als abstoßend empfinden.

Wenn es Ihnen nicht gelingt, ein vollkommen eigenständiges Äußeres zu kreieren, bleiben Variationen in einzelnen Details (Schnäbel, Säbelzähne, Kiemen, Flossen, Federn ...).

Ergänzen Sie Stufe 2 unbedingt mit Stufe 5.

Stufe 3:

Suchen Sie für Ihre Orks, die ja nun nicht mehr Orks heißen und auch nicht mehr so vollkommen nach Orks aussehen, nach neuen, für Ihr Volk typischen Eigenschaften in Charakter, Verhalten und Denken. Vielleicht erschaffen Sie ein schwer zu kontrollierendes Völkchen, eines, das unabhängig und frei handelt, eines, das vom Grunde her eher ängstlicher Natur ist oder eines, das hochintelligent ist.

Lehnen Sie sich aber auf Stufe 3 noch nicht allzu sehr aus dem Fenster, denn hier suchen Sie ja noch nach einem Volk, das sich zwar von den Orks unterscheidet, in Ihrer Geschichte aber immer noch weitgehend deren Rolle übernehmen kann. Und ja, wie bereits gesagt, da stoßen Sie schnell an Grenzen.

Immerhin, wenn Sie hier gründlich vorgehen, können Sie sich Stufe 5 fast schon sparen.

Stufe 4:

Spielen Sie mit den Lesererwartungen. Nein, der Erste sind Sie da sicher nicht, aber Spaß werden Sie haben. Stellen Sie sich beispielsweise folgende Auftaktszene vor:

Ein Mensch, ein Ork und ein Elf sitzen in einer Schänke zusammen und spielen ein Würfelspiel. Auf einmal springt der Mensch auf und schreit: „Du hast betrogen!“ Er schaut dabei den Elf an, der unschuldig fragt, warum der Mensch glaubt, er, nicht der Ork sei es gewesen. Der Mensch erwidert laut: „Willst du etwa behaupten, der Ork habe betrogen?“ Die gesamte Schänke bricht in schallendes Gelächter aus.

Was Sie hier tun, ist, mit den Rollenbildern der klassischen Fantasyvölker zu brechen. Genauer gesagt, sie vertauschen sie einfach. Sie kehren Klischees um.

Ich will ehrlich sein: Wenn Sie nicht ohnehin humorvolle oder gar satirische Fantasy schreiben wollen, wird es Ihnen nur mit viel Geschick gelingen, dieser auszuweichen. Und wenn es Ihnen gelingt, wird es manche LeserInnen geben, denen das nicht gefällt. Aber Sie wissen ja ...

Stufe 5:

Tun Sie nun das, was meiner Meinung nach das Wichtigste beim Entwickeln eigener Völker ist: Geben Sie Ihren Orks/Bolgs/Ptschak/... Historie, Kultur, Identität, Ideale. Erschaffen Sie ein Volk, das sowohl von gesellschaftlichen wie individuellen Leistungen geprägt ist. Ein Volk also, das gewachsen ist. Wenn Sie das ernst nehmen und gut machen, können Sie eigentlich nur etwas Individuelles erschaffen und sind möglicherweise origineller, als wenn Sie nur versuchen, alles anders zu machen.

Stufe 6:

Diese Stufe habe ich schon angesprochen. Sie legen den Fokus damit nicht mehr auf das Erschaffen eigenständiger Völker, sondern konzentrieren sich darauf, eine originelle Geschichte zu erzählen. Sie werden damit fast automatisch Völker erfinden, wie Ihre Geschichte sie braucht. Ob sich daraus dann überhaupt noch ein Volk entwickelt, dessen Rolle in ähnlicher Weise auch von den Orks eingenommen werden könnte, werden Sie ja sehen.

Stufe 7:

Ja, eine Stufe habe ich noch:
Sie entwickeln eine Geschichte wie in Stufe 6, beachten Stufe 5 und behalten dabei das Individuum im Kopf.

Bei aller Berechtigung, die sogenannte Völker in der Fantasy haben, ist ein Aspekt davon letztlich Simplifizierung. Und das ist gar nicht negativ gemeint, das will ich noch einmal betonen. Ich finde, man reist in eine Fantasywelt auch deshalb, um sich für eine Weile von der eigenen, oft so viel komplizierteren zu verabschieden.

Wer aber eben zeigen will, dass dies nicht so sein muss, der sollte sich auch bewusst machen, dass Figuren, gleich welchem Volk sie entstammen, vor allem eines sind: Individuen. Wenn Ihre Figuren also der Sozialisation unterschiedlicher Völker entstammen, ist das nur die eine Seite. Und möglicherweise eine, die in der Historie Ihrer Welt Wandlungen unterworfen war, was in aller Regel zu weniger Unterscheidbarkeit geführt haben dürfte.

Je nachdem, wie Ihre Völker beschaffen sind, wird es natürlich dennoch Charakteristika geben, die erheblichen Einfluss auf das Individuum haben. So dürfte sich eine sehr hohe Lebenserwartung oder sogar Unsterblichkeit deutlich auf die Sichtweise eines Lebewesens auswirken.

Und damit sind wir dann auch schon bei der eigenständigen Figurenentwicklung.

Neue Figuren statt alter Zauberhüte

Wer Fantasy liest, hat sicher bei dem einen oder anderen Roman schon gedacht: Mensch, der kommt mir aber bekannt vor. Hat da wieder mal jemand Gandalf kopiert?

Tatsächlich dürften alte Männer mit weißen Rauschebärten, die weise vor sich hin quasseln (meist in Rätseln), zu den Figuren gehören, die uns am häufigsten begegnen. Nicht nur in der Fantasy übrigens. Und ja, Sie dürfen jetzt gern auch an den Nikolaus denken. – Das hat nicht (ausschließlich) damit zu tun, dass AutorInnen voneinander abschreiben, sondern mit den Archetypen.

Archetypen in der Fantasy

Unter Archetypen versteht man Bilder und Symbole, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind, die also jeder von uns bereits von Geburt an in sich trägt. Nach dem Psychiater C. G. Jung geht es dabei um sogenannte Urbilder, die bei jedem von uns unbewusst ähnliche Grundassoziationen und Emotionen hervorrufen. Das kann Feuer sein, eine Blume oder auch ein Kind. Es können aber auch Motive oder eben bestimmte Personaltypen sein, also Rollenbilder, die letztlich Teil der eigenen Persönlichkeit sind.

Anders gesagt: Archetypen haben immer mit uns selbst zu tun, weil sie unsere ureigenen Assoziationen und Emotionen hervorrufen. Daraus lässt sich schon ableiten, welch enorme Bedeutung sie für Geschichten haben, denn eine Geschichte, die uns ansprechen und aufwühlen soll, muss zwingend mit uns selbst zu tun haben, ob es uns nun bewusst wird oder nicht.

Archetypisch ist schon die Struktur einer Geschichte, in der ein Protagonist oder eine Protagonistin vor einem Problem steht, das es zu lösen gilt. Eine Situation, mit der wir uns identifizieren können, weil wir uns seit Menschengedenken immer wieder in vergleichbaren Situationen befinden.

Held oder Heldin – die wichtigste Rolle

Und damit sind wir auch schon bei der wichtigsten archetypischen Rolle in einer Geschichte: der des Helden oder der Heldin. Schon im psychoanalytischen Sinn ist der Held mit dem Ich gleichzusetzen, jenem Teil unserer Persönlichkeit, das sich von der Mutter lösen muss, um seine Identität zu finden. Und genau das tun auch unsere fiktiven HeldInnen, wenn sie ihre gewohnte, heimatliche Umgebung hinter sich lassen, um sich in ein Abenteuer zu stürzen, das letztlich vor allem dazu dient, zu lernen, sich zu entwickeln, an die eigenen Grenzen zu gehen und sie zu überschreiten, um sich in extremen Situationen als die wahren Helden zu beweisen.

Sie sehen schon, worauf ich hinauswill: Archetypen und archetypische Strukturen sind nichts, was wir so einfach umgehen können, weil wir hoffen, auf diese Weise etwas ganz Neues zu erzählen. Sie sind stattdessen genau die Verbindungen, die die Geschichte des Helden oder der Heldin auch zu der des Lesers machen, weil sie es sind, die im Leser die Saiten der eigenen Persönlichkeit zum Klingen bringen. Die LeserInnen spüren instinktiv, dass in der Geschichte ein Kampf gefochten wird, dem sie selbst täglich ausgeliefert sind und dem sie sich im Unterschied zum Helden/zur Heldin oft verweigern.

Der Schatten als Antagonist

Das Problem des Helden oder der Heldin besteht zum großen Teil darin, dass er/sie gegen den Schatten antreten muss. Auch der ist ein Archetypus, der sich gewöhnlich am deutlichsten im Antagonisten zeigt (und der in der Fantasy recht häufig wirklich schattenhaft auftritt). Aber wie das mit Archetypen so ist, findet sich der Schatten nicht nur im Bösewicht oder seinem weiblichen Pendant und all seinen/ihren Handlangern, sondern auch in der Figur des Helden/der Heldin selbst. Denken wir nur an Frodo aus dem Herrn der Ringe, bei dem der Schatten vor den Feuern des Schicksalsberges sogar die Oberhand gewinnt.

Archetypen als Persönlichkeitsanteile: für mehr Vielschichtigkeit

Die Archetypen stecken also symbolträchtig in bestimmten Figuren, sind aber gleichzeitig auch Teile der Persönlichkeit (idealerweise) jeder einzelnen Figur, weil ja auch jede dieser Figuren Held oder Heldin ihrer eigenen Geschichte ist.

Wie auch in Märchen sind die Archetypen in der klassischen Fantasy oft überdeutlich gezeichnet, allen voran der Mentor, der so oft als alter, weiser Mann mit Zauberkräften auftritt (Gandalf, Dumbledore, Allanon, Merlin ...). Weitere Archetypen sind etwa der Herold, der Schwellenhüter, der Gestaltwandler oder der Krieger.

Noch einmal: Archetypen nehmen eine Rolle in der Geschichte ein, die letztlich in jedem von uns steckt. Und weil das so ist, können sie diese Rolle auch einnehmen, wenn sie dabei weniger offensichtlich archetypisch daherkommen oder wenigstens hier und da mit dieser Rolle brechen (schließlich trägt eigentlich jede unserer Figuren mehr als nur einen Archetypus in sich). Selbst der große Gandalf bezeichnet sich an mancher Stelle als Narr. Er ist obendrein recht eitel und für einen alten, weisen Mann zuweilen ziemlich aufbrausend. Manchmal ist er mehr der Herold, dann wieder der Krieger. Immer auch Gestaltwandler. Und seine dominierende Rolle als Mentor teilt er mit weiteren Figuren wie Aragorn oder Galadriel.

Warum also sollte in Ihrem Roman nicht eine junge Gandalfine die Rolle der Mentorin übernehmen, obwohl sie gar keine Zauberin, sondern eine vollkommen magieunbegabte Zwergin ist, die alle Zwergennase lang über ihre viel zu großen Füße stolpert und sich nur deshalb zur Mentorin eignet, weil sie selbst an einer sehr ähnlichen Aufgabe bereits gescheitert ist, weshalb sie genau weiß, welche falschen Entscheidungen man besser nicht trifft?

Eines möchte ich noch einmal betonen: Eine Figur in einer archetypischen Rolle ist alles andere als ein Stereotyp. Letztere sind im Gegensatz zu Archetypen kulturell geprägt und entstehen, indem Personen einerseits auf angeblich typische Eigenschaften reduziert werden, während ihnen andererseits genau diese Eigenschaften unreflektiert zugeschrieben werden. Während Archetypen geradezu der Motor für Figurenentwicklung sind, sind Stereotype in ihren Eigenschaften festgelegt und nicht wandelbar.

Werden Sie also beim Einsatz von Archetypen kreativ und greifen Sie nur dort auf Stereotype zurück, wo es sinnvoll ist, auf Charakterisierung zu verzichten.

Mit Bekanntem brechen

Zusammenfassend kann ich sagen: Ja, seien Sie originell! Erfinden Sie Ihre eigenen Figuren und Ihre eigenen Völker. Aber versuchen Sie nicht, sich um jeden Preis von Bekanntem abzusetzen. Ihre Motivation sollte immer bleiben, eine gute Geschichte zu erzählen, nicht, absolut alles anders zu machen.

Originell werden Ihre Figuren und Völker, wenn Sie es sich immer zur Aufgabe machen, sie nachvollziehbar zu motivieren. Tatsächlich ist es das, was auch Nichtmenschen menschlich oder zumindest auch für Menschen verstehbar macht. Aus ist es mit dem Schwertfutter.

Und selbst dann, wenn es Ihnen wichtig ist, dass eine Figur oder ein ganzes Volk größtmögliche Distanz zu menschlichem Verhalten wahrt, sorgen Sie dafür, dass die LeserInnen angeregt werden, über diese Fremden und ihre Andersartigkeit nachzudenken – damit sorgen Sie für Individualität, ob Sie nun ein neues Volk erfinden oder ein bekanntes Ihrer Geschichte und Ihrer Welt anpassen. Und das gilt natürlich ebenso für jede einzelne Figur.

Solche Überlegungen sind viel wichtiger als die Frage, ob sich Ihre Ptschak nun durch weiße Schuppen oder ein violett und pink gestreiftes Fell auszeichnen. Natürlich sollen Sie auch beim Aussehen von Figuren und Völkern Ihre Fantasie spielen lassen. Doch wenn die LeserInnen Ihre Fantasywelt ernst nehmen sollen (was ja nicht immer so gedacht ist), versuchen Sie es besser nicht mit einem gefärbten Fell. Gestalten Sie stattdessen Figuren und Völker in einer Weise, dass sie auch nach unserem Verständnis ohne größere Probleme als lebensfähig und in gewisser Weise als natürlich anerkannt werden. Sicher ist dieses Bestreben einer der Gründe, warum so manches bis dato unbekannte Wesen in der Fantasyliteratur gewisse Ähnlichkeiten zu Vertretern der uns bekannten Tierwelt aufweist.

Es ist also alles möglich. Im schlimmsten Fall auch, dass Sie die LeserInnen unfreiwillig zum Lachen bringen.

Aber Lachen ist ja gesund.

Philipp Bobrowski: http://lektorphilipp.wordpress.com/

In FEDERWELT, Heft 111 April/Mai 2015

 

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Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 111, April 2015: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-22015
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