
Prof. Dr. med. Silke Heimes im Gespräch mit Anke Gasch. Prof. Dr. med. Silke Heimes hat Germanistik und Medizin studiert, als Ärztin in der Psychiatrie gearbeitet und sich zur Poesietherapeutin ausbilden lassen.
Sie ist Professorin für Journalistik, Leiterin des Instituts für kreatives und therapeutisches Schreiben und Autorin. Für ihr aktuelles Werk ich schreibe mich gesund wechselte sie vom Wissenschafts- und Schulbuchverlag Vandenhoeck & Ruprecht zu dtv, einem renommierten Publikumsverlag. Sie hofft, so noch mehr Menschen von der Heilkraft des Schreibens zu begeistern. ich schreibe mich gesund ist als persönliches Gesundheitstagebuch aufgebaut. Es hilft Erkrankten, herauszufinden, für was ihre Beschwerden stehen, was der Körper ihnen damit sagen will und was sie ändern könnten. Das Wirkprinzip: Über den achtsameren Kontakt zu sich selbst kommen Körper und Seele wieder in Balance.
Kann man das tägliche Schreiben auch als Berufsautor*in mit Burnout nutzen, um gesund zu werden? Und kann man als Schreibcoach etwas falsch machen, wenn man Menschen mit psychischen Leiden zum unzensierten Drauflos-Schreiben anleitet? Das und mehr lesen Sie im folgenden Interview.
Frau Heimes, angenommen, ich habe seit zwei Jahren permanent die Signale meines Körper überhört, um meinen Fans regelmäßig Lesestoff zu liefern, leide nun an einem Burnout und habe, obwohl das Schreiben eigentlich meine große Liebe ist, plötzlich keine Kraft und Lust mehr, auch nur eine Zeile zu Papier zu bringen. Kann ich mir auch dann noch mit Schreiben helfen? Und wenn ja: Wie?
Ich denke ja, wobei wir zunächst einmal vielleicht zwischen professionellem und privatem Schreiben unterscheiden sollten. Beim professionellen Schreiben geht es letztlich immer darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, was bedeutet, dass das Schreiben funktionalisiert wird. Dadurch steht man bei dieser Art des Schreibens zugleich unter einem gewissen Erfolgsdruck. Beim privaten Schreiben hingegen geht es um uns selbst. Darum, was wir brauchen und wünschen. Um unsere Grenzen und Bedürfnisse, unsere Nöte und Sehnsüchte. Dieses private Schreiben könnten wir deswegen auch als Psychohygiene verstehen, weil wir hier keine besonderen Leistungen erbringen müssen und nicht bewertet werden, sondern uns selbst erforschen und uns in Selbstempathie üben können. Insofern kann das private Schreiben helfen, wenn uns das professionelle an den Rand der Erschöpfung gebracht hat. Eine kreative Schreibübung, die entspannt und zugleich gehaltvoll ist, können Sie gleich selbst ausprobieren. Schreiben Sie die Buchstaben Ihres Vor- und Nachnamens untereinander. Dann notieren Sie hinter jedem Buchstaben das erste Wort, das Ihnen einfällt. Nun schreiben Sie eine Geschichte, in der alle diese Worte vorkommen. Viel Vergnügen!
Ich kenne einige Autor*innen, die Schuldgefühle haben, wenn sie „nicht funktionieren“. Wie mit solchen Schuldgefühlen umgehen: Ließen sich auch die schreibend verarbeiten?
Nicht nur Autor*innen kennen diese Schuldgefühle, sondern unsere gesamte Gesellschaft ist so sehr auf Leistung und Funktionalität ausgerichtet, dass wir uns schuldig und vielleicht sogar wertlos fühlen, sobald wir aus dem Funktionszustand herausfallen. Bei Autor*innen ist das besonders brisant, weil sie beständig aus ihren kreativen Quellen schöpfen, so lange, bis diese buchstäblich erschöpft sind. Dann geht es darum, diese kreativen Quellen wieder zu füllen. Den Schuldgefühlen selbst könnten wir beispielsweise in einem Listengedicht begegnen. Also einem Gedicht, in dem jede Zeile mit einem bestimmten Halbsatz beginnt und dann mit einem einzigen Gedanken vervollständigt wird, bis alle Gedanken auf dem Papier Platz gefunden haben. In einem ersten Schritt könnten wir den Halbsatz verwenden: „Ich fühle mich schuldig, weil ...“
Nachdem wir auf diese Weise alles aus uns herausgeschrieben haben, was uns belastet, könnten wir ein zweites Listengedicht mit dem Halbsatz beginnen: „Ich wünsche mir, dass ...“
Dann hätten wir zugleich ein Gegengewicht geschaffen und Ideen erhalten, was uns helfen und guttun könnte.
Stichwort „Vermeidungstaktiken“: Wie kreativen Gedanken Raum geben, ohne termingefährdend zu prokrastinieren?
Ich verstehe das private Schreiben keinesfalls als Prokrastination, sondern vielmehr als absolute Notwendigkeit, weil wir daraus die Kraft schöpfen, die wir brauchen, um mit dem professionellen Schreiben fortzufahren. Es gilt auch zu bedenken, welche inneren Anteile von uns bei welchem Schreiben zu Wort kommen. Im professionellen Kontext schreibt unser erwachsenes Ich, das sich um Logik, Struktur und Rechtschreibung kümmert und darum, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen. Im privaten Kontext schreibt vielleicht unser kindliches Ich, das auf phantastische Reisen gehen will und sich weder um Orthographie noch um Sinnhaftigkeit oder Plot kümmern will.
Gibt es eine Übung, die besonders geeignet ist, um sich Ängste von der Seele zu schreiben?
Hier könnte auch wieder das Listengedicht eingesetzt werden, beispielsweise mit dem Halbsatz: „Ich habe Angst, dass ...“ Alternativ könnte man mit seiner Angst einen Dialog führen oder ihr einen Brief schreiben. Etwa: „Hallo liebe Angst, du begleitest mich jetzt schon seit ... Ich weiß, du willst mich nur schützen, aber ...“
Können Autor*innen, die nebenbei als Schreibcoaches arbeiten, etwas falsch machen, wenn sie Menschen, die zum Beispiel an Schizophrenie leiden, anleiten, gleich nach dem Aufstehen loszuschreiben: frei, unzensiert und ohne abzusetzen?
Es kommt darauf an, in welcher Phase sich der Mensch mit der Schizophrenie befindet. Ist er gerade in einer Psychose, so ist das assoziative Schreiben kontraindiziert, weil man ihn damit nur weiter in die psychotischen Gedankeninhalte treiben würde. Dann wären strukturierende Übungen hilfreicher, möglicherweise sogar Gedichte, bei denen die Form als Leitplanke dienen könnte. In einer nicht psychotischen Phase könnte man zwar assoziativ schreiben, aber selbst dann würde ich lieber klarere Anweisungen geben und vor allem Zeitlimits setzen (maximal 30 Minuten, eher noch kleinere Übungseinheiten von 10 bis 15 Minuten), damit der Schreibende sich nicht im Schreiben verliert.
Wo sehen Sie die Grenzen der Arbeit von Schreibcoaches ohne medizinische oder therapeutische Ausbildung?
Zentral scheint mir, dass man erkennt, wann jemand tatsächlich professionelle therapeutische Begleitung braucht und man in diesem Augenblick zurücktritt und die Aufgabe an einen Arzt oder Psychologen übergibt.
In den letzten Monaten habe ich – in verschiedenen Varianten – öfter diesen Satz gehört: „Jetzt habe ich mehr Zeit zum Schreiben als sonst, müsste die auch dringend nutzen, aber nichts geht!“ Was wäre Ihr Rat in dieser Situation?
Hier spielt wieder diese enorme Erwartungshaltung eine Rolle. Kein Wunder, dass wir uns mit einem solchen Satz und dem darin enthaltenen „Muss“ blockieren. Eine Variante dieses Satzes könnte lauten: „Jetzt habe ich Zeit, jetzt darf ich schreiben, wenn ich will und es fließt. Aber ich darf es auch lassen und stattdessen lesen oder einen Spaziergang machen“ – ganz nach dem Lustprinzip, sodass wir die frei gewordene Zeit nicht sofort wieder mit Pflicht anfüllen, sondern dazu nutzen, uns zu erholen und unseren kreativen Brunnen wieder zu füllen.
Autorin: Anke Gasch | www.anke-gasch.com | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 143, August 2020
Blogbild: Altin Ferreira auf Unsplash
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