Sie sind hier

Suchformular

Perspektiven verstehen - Romanfiguren spannend beschreiben

Federwelt
Hans Peter Roentgen
Romanfiguren aus der richtigen Perspektive beschreiben, ist für das Gelingen einer Geschichte sehr wichtig.

Verwandeln Sie sich in Ihre Figuren und in Ihren Charakter, statt sie nur von außen zu beschreiben.

Als Autorencoach, der seit vielen Jahren Schnupperlektorate anbietet, bekomme ich regelmäßig die Anfangsszenen von Romanprojekten. Und in den letzten Jahren häuft sich ein Problem, da lese ich zum Beispiel:
Max Müller war ein muskulöser Mensch mit blondem Haar, der auf Frauen sehr sexy wirkte. Er ging durch die Stadt und sah, wie ein Polizeiwagen um die Ecke bog. Vor dem Haus seines langjährigen Freundes Martin parkte der Wagen. Max ahnte, dass Martin in Gefahr sein könnte. Er beschloss, seine Beine in die Hand zu nehmen. An der Haustür bemerkte er einen Polizisten, der ihm den Zutritt verweigerte ...

Spannend? Eher nicht.
Und wer erzählt hier? Wessen Perspektive erlebt der Leser, die Leserin?
Beabsichtigt ist die Perspektive von Max. Aber ist es auch seine? Sind Sie schon mal durch die Stadt gelaufen und haben gedacht Ich sehe einen Polizeiwagen?
Vermutlich nicht. Sie denken höchstens: Ein Polizeiwagen vor Martins Haus. Ist ihm was passiert?
Wenn Sie in einem Text betonen, dass Ihr Held „etwas sieht“, statt es einfach zu schildern, dann blicken Sie von außen auf den Helden. Aus der Perspektive des Autors, der wahrnimmt, dass Max etwas sieht. Statt das Etwas direkt zu benennen.
Lisa Kuppler nennt solche Konstruktionen „Distanzierer“. Sie schieben den Autor, die Autorin, also sich selbst, zwischen die LeserInnen und die Ereignisse, die der Held erlebt. Die Autorin erzählt uns etwas über Max, was das Tempo bremst, statt die Leser das erleben zu lassen und sie so zum Mitfiebern zu bringen.
Gehen Sie näher ran! Stehen Sie nicht länger im Weg zwischen Ihren Figuren und den LeserInnen:
Max schlenderte durch die Uhlandstraße, warf einen Blick auf den Eingang zum Penny. Die Kassiererin blickte auf, lächelte und wandte sich gleich wieder ihrer Kundin zu. Max grinste.
Eine Sirene heulte auf, ein Polizeiwagen bog mit Blaulicht um die Ecke, bremste, zwei Polizisten sprangen heraus und klingelten an der Haustür. Ein zweiter Polizeiwagen folgte.
Das war Martins Haus! Oh Gott. Martin würde doch nichts passiert sein? Gestern Abend hatte er noch gescherzt, dass Max mal ganz ruhig bleiben solle, so eine Flasche Jägermeister würde ihn schon nicht umbringen. Max sprintete zur Haustür. Doch die Polizistin, die auf der Schwelle stand, verwehrte ihm den Eintritt.

Wo habe ich hier geschrieben, dass Max etwas sah? Nirgends.
Weder „Max sah das Lächeln der Kassiererin“, noch „Er sah, dass die Polizisten klingelten“ und auch nicht „Er fühlte, dass Martin in Gefahr sein könnte“. Ich schildere die Ereignisse einfach. Dass Max sie sieht, kann sich der Leser denken.
Falls Max etwas nicht sieht, dann müsste das geschrieben werden. Alles andere können Sie sich sparen.

Action verlangt Tempo
Ich wiederhole: Actionszenen haben Tempo und der Text sollte das Tempo vermitteln, die LeserInnen atemlos weiterlesen lassen. Wenn Sie als AutorIn zwischen der Action und den LeserInnen stehen und ihnen alles erklären, bremsen Sie das Tempo. Und die erleben nicht mehr atemlose Action, sondern Ihre langwierigen Erklärungen:
Max beschloss, seinem Freund zu helfen. Er überlegte, wie er in das Haus gelangen könnte. Er bog um die Ecke und begann, über den Gartenzaun zu klettern.
Haben Sie schon einmal in einer dramatischen Szene gedacht: Ich beschließe, dass ich meinem Freund helfen will? Vermutlich nicht. Eher schießt Ihnen ein Verdammt! Wie komm ich ins Haus? durch den Kopf. Sie erklären sich die Situation nicht, Sie überlegen, was Sie tun können oder was passiert ist. Und diese Überlegung ist kurz und mit aktiven Verben verbunden. Mit Verben, die sprechen, die zeigen, was genau vorgeht. Ein Verb wie „beginnen“ ist eher blass, und „helfen“ passt in diesem Fall gar nicht zur Situation.
Würde Martin allerdings vor seinem Haus an seinem Fahrrad basteln, dann wäre „helfen“ das angemessene Verb: Kann ich dir helfen?, könnte Max ihn fragen.
Wie steht es mit dem Satz: Max überlegte, ob er ihm helfen könnte?
Auch das wäre eine Überlegung, die nicht Max anstellt, sondern der Autor, der Max und Martin beobachtet.
Achten Sie darauf, was Ihre Figuren tatsächlich denken würden. Und ob Ihre Sätze das erleben lassen. Oder ob es Kommentare sind, die von Ihnen stammen.

Frühstück mit Autor
Eve und Ronald saßen wie jeden Tag am Frühstückstisch.
„Gibst du mir bitte mal die Butter?“, fragte Ronald.
„Aber gerne doch“, antwortete Eve lächelnd und reichte sie ihm.
„Danke, meine Liebe“, sagte Ronald und dachte daran, wie sehr er sich freute, seit fünfundzwanzig Jahren mit Eve verheiratet zu sein.

Wie nahe sind wir als LeserInnen hier den Charakteren? Sagt uns die Szene etwas über die beiden?
Leider nur, dass Ronald Butter mag.
Die Szene wird vom Autor erzählt. Der hat ein Bild im Kopf und seine Figuren müssen es erfüllen, sie hängen als Marionetten an den Fingern (oder der Tastatur) des Autors und wirken deshalb nicht lebendig.
Achten Sie auch auf Ronald [...] dachte daran, wie sehr er sich freute [...]. Würde jemand überlegen: Ich denke daran, dass ich mich freue?
Nein, das ist eindeutig die Stimme des Autors, die hier spricht. Ronald würde vielleicht denken: „Seit fünfundzwanzig Jahren sitze ich ihr gegenüber und habe das keinen Tag bereut.“
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen beiden Formulierungen. „Er freute sich“ ist eine Behauptung des Autors, der über Ronald schreibt. Prüfen Sie in Ihrem Text, ob Sie Ihrer Figur ein Gefühl zuschreiben. In diesem Fall spricht in der Regel der Autor oder die Autorin. Fragen Sie sich dann: Was würde Ronald in diesem Fall denken? Schreiben Sie das, statt etwas zu behaupten wie „er freute sich“, „er hatte Angst“ oder „sie ärgerte sich“.
Denken Sie immer daran: Sie wollen in den LeserInnen einen Film ablaufen lassen. Das ist das Ziel. Und dafür müssen die Figuren lebendig werden, nur dann erzeugen sie Emotionen. Nicht dadurch, dass Sie diese behaupten.

Verwandeln Sie sich in Ihre Charaktere
Die Regisseurin Margarethe von Trotta hat in einem Vortrag in Babelsberg geschildert, wie sich die Schauspielerin Barbara Sukowa auf die Rollen vorbereitet. Als sie Rosa Luxemburg spielte, hinkte sie nicht nur während der Drehzeiten, sondern auch außerhalb. Als Hannah Arendt sprach sie zum Leidwesen ihrer Familie lange Zeit Englisch mit einem fürchterlichen deutschen Akzent – sie verwandelt sich jedes Mal in die Person, die sie spielen muss. Sie wird diese Person.
Okay, Sie müssen nicht hinken, wenn eine Ihrer Figuren hinkt. Obwohl ... vielleicht tut es mal gut, einen Tag zu hinken, um zu spüren, wie man sich da fühlt.
Was Sie aber müssen, ist: Sie müssen fähig sein, sich in Ihre Charaktere zu verwandeln. Und dann lassen Sie sie agieren. Lassen Sie sie los! Sie werden feststellen, dass sie bald ein Eigenleben entwickeln und Sie im besten Fall überraschen. Mit unerwarteten Reaktionen.
Damit werden Sie auch die Leserinnen und Leser überraschen. Und was gibt es Besseres?

Eve und Ronald frühstückten.
„Gibst du mir bitte mal die Butter?“, fragte Ronald.
„Aber gerne doch“, antwortete Eve und reichte ihm die Butter.
Ronald streichelte ihr über den zarten Handrücken. „Danke, meine Liebe.“ Seit fünfundzwanzig Jahren saß er Eve jeden Morgen gegenüber und hatte es keinen einzigen Tag bedauert.
Eve lächelte. „Marie und Peter lassen sich scheiden.“

Jetzt haben wir immer noch das Frühstück eines Ehepaars, das fünfundzwanzig Jahre verheiratet ist. Aber die Figuren werden lebendig. Ronald genießt das Frühstück. Eve sagt etwas, das so gar nichts zur glücklichen Stimmung beitragen wird.
Wenn Sie Ihre Figuren freilassen, nicht mehr Helikopter-AutorIn spielen, der ihnen jeden Schritt vorschreibt, dann gewinnen diese an Tiefe. Und plötzlich poppt zwischen den Zeilen auf, was sonst untergehen würde.

Fehlerquelle: Beschreibungen
In Beschreibungen spricht häufig die Autorenstimme, nicht die der Heldin oder des Helden. Köln ist schön, hat einen Dom, den Rhein, Schandmasken an einigen Häusern der Altstadt, die Liebesschlösser an der Hohenzollernbrücke ... Die Stadt bietet Stoff für viele Seiten Beschreibung, sogar für ein ganzes Buch. Solche Bücher nennt man Reiseführer und sie haben eine ganz andere Aufgabe als ein Roman.
Erinnern Sie sich an einen Weg, den Sie häufig gehen? Schreiben Sie auf, was Ihnen auffällt, wenn Sie ihn mit dem Auto zurücklegen. Vermutlich kommen dort die Ampeln vor, vor denen Sie immer endlos im Stau stehen.
Beschreiben Sie ihn als Fußgänger. Wie erleben Sie den Weg dann? Was würden Sie als Straßenbahnnutzerin, als Buspassagier wahrnehmen? Vielleicht gar nichts, weil Sie die Gelegenheit nutzen, Ihre WhatsApps aufzurufen?
Wie würden Sie den Weg schildern, hätte Ihnen dort Ihre große Liebe das Jawort gegeben hat? Wie, wenn gerade Ihre Mutter gestorben ist?
Das ist eine gute Übung. Denn Ihre Heldin, Ihr Held erlebt Köln ganz anders, je nachdem, ob sie oder er auf der Flucht vor einem Killer ist oder auf dem Weg zu einer Party.
Auch wenn Sie Ihre Geschichte in der dritten Person Singular verfassen, lohnt es sich, eine Szene samt Beschreibungen in der ersten Person, der Ich-Form, zu schreiben. Weil Sie damit Ihren Helden näherkommen. In die dritte Person können Sie immer noch wechseln.
Natürlich gibt es Orte oder Dinge, da ist die Autorin gefragt. Eine neue Waffe, eine unbekannte Welt, da muss den LeserInnen gezeigt werden, wie sie aussieht, sich anfühlt. Einen Absatz lang. Nicht drei Seiten. Und dann gilt es, den Gegenstand oder Ort durch die Augen der Figuren beschreiben. Nicht alles, sondern das, was für sie wichtig ist. Pars pro Toto heißt das, wenn Details für das Gesamtbild stehen.

Autorenstimme versus Allwissender Erzähler
Die Autorenstimme wird oft mit der auktorialen, der allwissenden Perspektive verwechselt. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied. Ein allwissender Erzähler geht immer wieder nahe an seine Figuren heran. Er lässt die Geschichte erleben, schreibt nicht vor, welche Gefühle die Leserin, der Leser haben sollte, sondern weckt sie durch die Geschichte.

Das Wichtigste in Kürze
Verwandeln Sie sich in Ihre Figuren. Was würden diese tun, was wahrnehmen? Achten Sie auf Distanz-Anzeiger: Er sah, er fühlte ...
Benennen Sie nicht die Gefühle, die Ihre Figuren haben sollen wie „er hatte Angst“ oder „sie war wütend“, sondern zeigen Sie durch die Handlung und den inneren Monolog, was diese gerade durchmachen.
Beschreiben Sie das, was Ihre Figuren wahrnehmen. Was zu deren Stimmung, deren Persönlichkeit, der Handlung passt.
Viele Details in einer Beschreibung – das ermüdet leicht. Einige wenige typische Details, die beispielhaft für ein Gesamtbild stehen, wirken besser.

Linktipps:

Autor: Hans Peter Roentgen | www.hanspeterroentgen.de | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 132, Oktober 2018
Blogbild: Photo by Randy Jacob on Unsplash

 

SIE MÖCHTEN MEHR LESEN?
Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 132, Oktober 2018: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-52018
Sie möchten diese Ausgabe erwerben und unsere Arbeit damit unterstützen?
Als Print-Ausgabe oder als PDF? - Beides ist möglich:

PRINT
Sie haben gerne etwas zum Anfassen, und es macht Ihnen nichts aus, sich zwei, drei Tage zu gedulden?
Dann bestellen Sie das Heft hier: /magazine/magazine-bestellen
Bitte geben Sie bei »Federwelt-Heft-Nummer« »132« ein.

PDF
Download als PDF zum Preis von 4,99 Euro bei:

•    beam: https://www.beam-shop.de/sachbuch/literaturwissenschaft/517700/federwelt-132-05-2018-oktober-2018
•    umbreit: https://umbreit.e-bookshelf.de/federwelt-132-05-2018-oktober-2018-11712038.html
•    buecher: https://www.buecher.de/shop/ebooks/federwelt-132-05-2018-oktober-2018-ebook-pdf/durst-benning-petra-gruber-andreas-uschmann-oliver-pagendamm-bri/products_products/detail/prod_id/54114324/
•    amazon: https://www.amazon.com/dp/B07HQM3563/

Oder in vielen anderen E-Book-Shops.
Suchen Sie einfach mit der ISBN 9783932522932.