
Welche Momente lösen Geschichten aus? Und wie kommt man vom Geschichtenkeim zum Roman? Elf erfolgreiche AutorInnen unterschiedlicher Genres erzählen, wann ein Roman in ihnen zu wachsen beginnt und wie er dann geschrieben werden möchte.
Welcher Funke muss entzündet werden (und vor allem wie), damit die Idee für einen Roman geboren wird? Welches Moment löst ihn aus? Und wie wachsen daraus Hunderte von Seiten? Seiten mit lebendigen Charakteren, die beim Lesen vergessen lassen, dass sie doch eigentlich nur fiktiv sind? 1993 führten mich genau diese Fragen an die Universität nach Hildesheim, wo ich kreatives Schreiben bei Hanns-Josef Ortheil (https://hanns-josef-ortheil.de) studierte. Als Diplomarbeit schrieb ich meinen ersten Roman. Weitere Romane und Erzählungen folgten. Aber besagte Fragen, die kann ich bis heute nicht beantworten. Müsste ich? Schließlich unterrichte ich an der University of Applied Sciences in Emden/Leer seit einigen Jahren selbst kreatives Schreiben.
Wie funktioniert das mit der Kreativität?
In Vorbereitung auf diesen Artikel lese ich als Erstes noch mal den Essay Über das Marionettentheater. In ihm hat Heinrich von Kleist 1810 grundlegende Überlegungen dazu angestellt, wie das denn nun mit der Kreativität funktioniert.
Der Ich-Erzähler berichtet hier vom Tänzer C.: „Jede Bewegung [der Marionette], sagte er, hätte einen Schwerpunkt; es wäre genug, diesen […] zu regieren; die Glieder, welche nichts als Pendel wären, folgten, ohne irgendein Zutun […] von selbst.“
Die Bewegungen, die C. so faszinieren, werden also instinktiv, ohne jede Kenntnis ausgeführt und erlangen dadurch ihre Perfektion.
Wenn er Gefallen an der Kunst findet und sie weiterentwickeln möchte, wird er so jedoch schnell an seine Grenzen stoßen. Unbewusstes Handeln wird mehr und mehr vom Verstand durchsetzt. Das Freie, Unbeschwerte weicht Zweifeln und Unsicherheit. Was vorher stimmig war, gerät aus dem Gleichgewicht. Aber wer Geduld hat und Ausdauer, wird die nächste Stufe erreichen, auf der das Bewusstsein zurücktritt, die erlernte Technik mehr und mehr unbewusst ausgeführt wird und die Grazie, wie von Kleist es nennt, wieder hervortritt.
Mehr wollte, mehr musste ich für mein Schreiben nicht wissen. Allein … es bleibt die Frage, wie es sich beim Schreiben generell mit erlernten Techniken verhält. Ja, man kann in zig Bücher über kreatives Schreiben hineinschauen. Interessehalber. Ob man sein eigenes Schreiben nach ihnen ausrichten muss? Fraglich. Zumal diese Bücher nicht unbedingt erklären, wie sie denn nun entsteht, die Kreativität, aus der Romane erwachsen. Um das zu klären, wollte ich Leute fragen, die welche schreiben. Und das mit Erfolg.
Millionenverkäufe ohne Bewusstsein über das auslösende Moment
„Ein bisschen grinsen musste ich ja schon, als ich die Fragestellung zu diesem Interview las“, schrieb mir Elke Bergsma (https://elke-bergsma.de), die vor allem Ostfrieslandkrimis schreibt und selbst veröffentlicht. „Mir bis ins Detail Gedanken zu auslösenden Momenten, Romangerüst oder Charakteren zu machen, ist mir in meiner täglichen Schreibarbeit nämlich völlig fremd. Spontan hat mich die Fragestellung an einen Vortrag zum Thema Wie schreibe ich richtig erinnert. Je weiter der Vortrag damals gedieh, desto klarer wurde mir: Messe ich meine Schreibprojekte an den hier genannten Kriterien, mache ich alles falsch!“
Okay, bei fast zwei Millionen verkauften Büchern kann Elke Bergsma wohl nicht so viel falsch machen. Und wie ist das nun mit den auslösenden Momenten, Frau Bergsma? „Natürlich gibt es die auch bei mir. Wo, wann oder wie genau diese Inspiration entsteht, vermag ich jedoch nicht zu sagen. Sie kommt, ohne dass ich bewusst danach suche. Ganz sicher hat es schon Hunderte solcher Momente gegeben, in denen ich mir gesagt habe: Das könntest oder solltest du mal verarbeiten. Bei meinem jetzigen Krimi zum Beispiel war es ein Foto auf Facebook, das mir den letzten Input für den Start zu einem bereits angedachten Plot lieferte. Manchmal sind es Bemerkungen, manchmal Stimmungen, manchmal Gebäude oder Landschaften, die bei mir einen kreativen Denkprozess in Gang setzen. Es kommt auch vor, dass ich mir Notizen mache, um diesen Input gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt aufgreifen zu können. Dass ich mich aber sofort an den Computer setze, um diesen einen Gedanken zu einem ausgewachsenen Roman reifen zu lassen – nein, diesen Zwang kenne ich eigentlich nicht. Irgendwann wird diese Inspiration schon zu ihrem Recht kommen. Oder auch nicht.“
Den Findungsmoment nicht hinterfragen
Wie man das auslösende Moment findet, das ist für Hansjörg Schertenleib (www.shertov.com), der auch Hörspiele schreibt oder Theaterstücke, fast ein heiliger Akt, der nicht hinterfragt werden sollte. „DAS kann ich nicht beantworten, da mir dieser Findungsmoment noch immer ein Rätsel ist. Ein Rätsel, das ich auf keinen Fall lösen will, da ich fürchte, eben dieses Moment damit zu stören oder gar zu zerstören. Sobald die Idee für einen Roman in meinem Kopf ist, zeigt sich schnell, ob sie trägt und es also wert ist, weiterverfolgt zu werden.“
Auch Hanns-Josef Ortheil, meinem ehemaligen Dozenten für kreatives Schreiben, habe ich meine Fragen geschickt. Statt direkt zu antworten, verwies er vor allem auf sein Buch Wie Romane entstehen, das er zusammen mit seinem Lektor Klaus Siblewski geschrieben hat. Da stünde alles drin.
Der Roman: bedroht alle Planungsabsichten
Ich wagte einen Blick und stieß erst einmal auf ein Zitat des britischen Schriftstellers Edward Morgan Forster: „Der Roman“, sagte Forster 1927, „ist eine gewaltige amorphe Masse – kein Gipfel, den man ersteigen könnte […]. Der Roman ist recht eigentlich eine der feuchteren Gegenden der Literatur […].“
Oder, kurz von Ortheil zusammengefasst: „Der ‚Roman‘ ist ein unübersichtliches, sich häufig chaotisch darstellendes Gelände, das alle Planungsabsichten von vornherein bedroht oder in Frage stellt.“ Ortheil spricht auch von Materialsammlungen, „die durch eine bestimmte subjektive Prägung oder einen subjektiven Instinkt ihres Autors geformt und fokussiert“ sind. Subjektiv sind sie tatsächlich, die Auslöser, von denen ich weiter höre und lese:
Auslöser Alltagsbeobachtungen
Jan Brandt (www.dumont-buchverlag.de/autor/jan-brandt/), dessen Debüt Sönke Wortmann als „Großes Kino“ bezeichnete, sagt: „Am Anfang steht oft eine Geschichte, die ich selbst erlebt habe – oder ein Ereignis aus der Familiengeschichte. Manchmal ist das nicht mehr als eine Anekdote, aus der sich dann beim Schreiben mehr entwickelt.“
Ganz ähnlich geht es SPIEGEL-Bestsellerautor Tommy Jaud, der berichtet: „Es gibt am Tag unzählige Momente, die als Auslöser für Geschichten taugen, und fast alle geschehen um mich herum im Alltag, also sozusagen offline. Faszinierend und zugleich frustrierend daran ist, dass ich jede dieser Beobachtungen nutzen möchte, aber dies natürlich nicht geht. Das wäre ja ein ganz schönes Durcheinander im Roman. Also bleibt mir nur, meine Beobachtungen und Gedanken zu sammeln.“
Der „Auslöser“ zu seinem Roman Hummeldumm: eine Namibia-Reise. „Ich hatte ein Notizbuch dabei und schon nach wenigen Kilometern im engen Tourbus wusste ich: Entweder du steigst jetzt aus und fliegst zurück oder du machst einen Roman daraus. Nur so habe ich den Urlaub überlebt. Ich wurde vom Touristen zum Autor. Dieser Switch hilft übrigens auch im momentanen Alltag ganz gut.“
Momente, die Fragen nach sich ziehen
Mareike Fallwickl (www.mareikefallwickl.at) erinnert sich an eine Szene, die in ihr literarisches Debüt Dunkelgrün fast schwarz Einlass fand. „Ich habe ein Kind dabei beobachtet, wie es, von der Rutsche kommend, mit voller Wucht und Genuss im Blick auf seinen kleinen Bruder gesprungen ist. Es hat mich grinsend, fast provozierend angeschaut, als wollte es sagen: ‚Und was machst du jetzt?‘ Das Kind war vier Jahre alt. Mir ist dieser Moment nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ich habe mich gefragt: Warum sind manche Kinder in so jungen Jahren bereits absichtlich bösartig? Kommt das wirklich von den Eltern oder ist es vielleicht doch angeboren? Und was geschieht, wenn solche Kinder erwachsen werden?“
Wochenlang habe sie darüber nachgedacht und plötzlich gemerkt: „Da entsteht eine Geschichte, da entsteht ein Roman.“ Dass etwas selbst Erlebtes sie so intensiv packt, sei jedoch eher die Ausnahme. Andere Ideen würden „verblassen“ oder „nicht über einen gesamten Roman“ tragen. „Ich denke, das ist etwas, das man spürt, sobald man sich damit beschäftigt. Ob sich Figuren aus den Schatten lösen, ihre Stimmen hörbar werden, weil sie etwas zu erzählen haben – oder ob der Auslöser letztlich nicht zündet.“
Taugt die Idee?
Prüfungstipp von Tommy Jaud: „Wenn eine Idee lange bleibt, sollte man sich dieser schon annehmen, auch mit dem Risiko, dass sie dann doch nichts taugt für die lange Strecke, also den Roman. Ich selbst schreib mir meine Ideen meist auf. Und wenn ich sie nach einer Weile immer noch gut finde, dann versuche ich, eine ganze Seite darüber zu schreiben. Fast so, als müsste ich die Idee an mich selbst verkaufen. Wenn’s dann immer noch passt, können ein paar mehr Seiten draus werden, so was wie ein Exposé. Ist das dann immer noch gut: unbedingt mit dem Schreiben anfangen!
Ein Satz, der einem zufliegt
„Der Winter wird kalt, Marie.“ Dieser Satz fiel Gabrielle Alioth (www.gabriellealioth.com) ein, die Romane, Kinder-, Reise- und Sachbücher schreibt, als sie an einem Novembermorgen in Irland mit ihrem Hund Luzifer den Strand entlang spazierte. Ihr erster Roman Der Narr sollte aus diesem einen Satz entstehen.
Woher er kam? „Ich wusste weder, wer Marie ist, noch wer diesen Satz sagt, aber der ganze Roman, ja im Grunde mein Leben als Schriftstellerin, entwickelte sich daraus.“
Warum ein Moment eine Geschichte auslöst, empfindet sie als so schwer zu beantworten wie die Frage, warum wir uns an etwas erinnern. „Oft sind es ja nicht die Momente, an die wir uns erinnern wollen oder die wir glauben, nie mehr vergessen zu können, die sich einprägen, sondern etwas scheinbar Zufälliges, Nebensächliches.“ Ebenso könne eine Geschichte aus einem „nebensächlichen Eindruck entstehen“: „einem Gedanken, dem plötzlichen Wunsch, über Wasser zu schreiben zum Beispiel oder einem Nebensatz in einem Text. Ich denke, diese scheinbaren Nebensächlichkeiten, Zufälligkeiten stoßen etwas an in mir, werden zur Verkörperung von etwas Wesentlichem wie Schmerz, Verlust, Verzweiflung. Oder auch von Liebe, Erlösung und erlauben mir, darüber zu schreiben.“
Auch Jochen Schimmang (https://edition-nautilus.de/autorinnen/schimmang-jochen/), Walter-Kempowski-Preisträger 2019, schreibt, dass ein „schöner, erster Satz“ Auslöser für eine Geschichte sein kann – selbst wenn er „dann vielleicht am Ende als solcher gar nicht stehen bleibt“. Von seinem Roman Neue Mitte hatte er die ersten Abschnitte als Katalogtext für eine Ausstellung in Köln geschrieben. „Das war 2002. Ich stieß immer wieder auf diesen Text und hatte das Gefühl, er müsse weitergeschrieben werden. Damit angefangen habe ich aber dann erst im Januar 2010.“
Was wäre, wenn …?
Nina MacKay (https://ninamackay.com), die oft Fantasy-, Thriller- und Mystery-Elemente mit Liebe verwebt, schwört auf „Was wäre, wenn“-Fragen: „Im Alltag fragt man sich ja manchmal ‚Was wäre, wenn jetzt vor meinen Augen ein Flugzeug abstürzt?‘ oder: ‚Was wäre, wenn es in dieser Umkleidekabine eine Tür zur Unterwelt geben würde?‘ Und daraus entstehen wiederum Szenen, Ziele und Figuren.“
Bei ihrem Buch Plötzlich Banshee habe sie sich gefragt, wie es wohl wäre, „wenn man eine Todesfee ist, die über den Köpfen der Menschen die verbleibende Lebenszeit ablesen kann und außerdem für ihren Todesfeen-Job viel zu tollpatschig ist.“
Ihr Tipp: „Wenn einen die Idee dann nicht mehr loslässt, hat man die richtige gefunden.“
Tommy Jaud ist überzeugt, dass die „Was wäre, wenn“-Frage auch oft hilft, Geschichten weiter auszustaffieren, etwa mit Nebensträngen, und -charakteren. „Was wäre, wenn der Tourguide die komplette Reisegruppe verlässt, weil er es einfach nicht mehr aushält? – Das ist uns Gott sei Dank nicht passiert, aber ab und an hab ich’s mir für den Guide gewünscht.“
„Die Nebenstränge und Nebenfiguren ergeben sich oft aus der Hauptgeschichte“, erzählt Jan Brandt. Und was macht er, um Nebenfiguren authentisch zu gestalten? „Wenn ich zum Beispiel über Ärzte schreibe, führe ich Interviews mit Ärzten, weil ich sonst Angst hätte, den falschen Ton zu treffen, nicht deren Lebenswirklichkeit abzubilden. Das ist der äußere Rahmen der Figur. Der muss sitzen, damit ich alles Weitere schreiben kann.“
Inspirationsquell: Medien
Auch Medien können als Inspirationsquelle dienen. „Go to the movies a lot! soll ein berühmter amerikanischer Romancier“ mal auf die Frage geantwortet haben, „wo sich Anstöße für eigene Texte finden lassen“, schreibt mir Georg Klein (www.rowohlt.de/autor/georg-klein-927), Bachmannpreis-Träger 2000. „Die Wirklichkeit, die uns heutzutage mit der größten Wahrscheinlichkeit inspiriert, ist die Wirklichkeit der Medien. Wer Glück hat, findet in einem der Gratis-Reklameblätter, die man uns am Wochenende in den Briefkasten steckt, die Ideen zu seinem Roman. Und auch das Zappen und Surfen sollten wir nicht per se verachten.“ Außerdem regt er an: „Warum nicht getreu oder ganz frech und frei nacherzählen, was uns von einem Zeitgenossen berichtet wurde?“
Was treibt mich um?
Für Lucy Fricke (www.rowohlt.de/autor/lucy-fricke-625) ist das Finden des auslösenden Moments ein aktiver Prozess, den sie erst einmal ganz praktisch betrachtet. „Das mag jetzt sehr unromantisch klingen, aber diese Momente (um ihrer selbst willen) hat es bei mir nur in der Jugend gegeben, als das Schreiben etwas war, das ich nur für mich allein tat. Aber nun ist es seit fast fünfzehn Jahren mein Beruf und der Weg zu einem Text verläuft anders herum: Es gibt einen Auftrag, einen Vertrag, ein Konto im Minus.“ Die Suche nach Ideen und das Erschaffen von Geschichten fangen dennoch bei der Autorin an. „Was treibt mich gerade um, was irritiert mich, fasziniert mich? Und immer auch die Frage nach einem Schmerz, den meiner Meinung nach jeder bewegende Roman braucht. Wo liegt die Wunde?“
Die Zeit der aktiven Suche
Das weitere Vorgehen klingt dann weniger geschäftsmäßig und lässt die wahre Triebfeder hinter dem Schreiben spüren. Lucy Fricke: „Was ich in dieser Zeit des Suchens brauche, ist eine unbedingte Offenheit und Neugier, Bücher, Filme, Menschen, Länder. Zwischen den Büchern lebe ich recht umtriebig. Ich bin überall unterwegs, reise viel und sauge alles auf, bis ich merke, dass sich eine Richtung auftut, Themen, an denen ich hängen bleibe, Menschen und Orte, die mich beeindrucken. Zuallererst gilt: Für das, was ich schreibe, muss ich mich hundertprozentig interessieren und darf noch nicht alles darüber wissen. An einem Buch arbeite ich zwei bis drei Jahre, da will ich mich nicht langweilen und nur das schreiben, was ich eh schon weiß.“
Der Weg zum Roman
Wie wird nun aus einer kleinen Ideenpflanze ein großer Baum? Und zwar ein Baum mit nicht zu vielen Verästelungen, die ins Unendliche führen. Darauf hat Hansjörg Schertenleib eine klare Antwort: „Recherche, Recherche, Recherche. Diese Phase der Romanarbeit ist mir fast ebenso wichtig und lieb wie der eigentliche Schreibakt. Ich lese Texte, die mir Material zu meinen Figuren liefern, zu ihren Berufen, ihrem Leben, ich rede mit Fachleuten, reise, um Handlungsorte zu erleben und ja, ‚zu spüren‘, damit ihre Beschreibungen nicht Papier bleiben.“ Früher habe er wie ein Architekt das Gerüst eines Romans sehr genau geplant. Und heute? „Heute plane ich das Gerüst weniger voraus, tappe gerne im Nebel, schreite in die Dunkelheit, erlaube mir, mich zu verlaufen.“
Ähnlich verfährt Schertenleib mit seinen Nebensträngen und weiteren Charakteren. „Neben bereits in Vorarbeiten eingeplanten Nebenfiguren erlaube ich gerne auch ungeplanten Nebenfiguren, Erzählraum einzufordern. Gerade diese Nebenfiguren erlauben es, Hauptfiguren neu zu beleuchten und in ein anderes Licht zu rücken, bin ich doch, je länger ich schreibe, desto stärker an Grau- und Zwischentönen interessiert.“
„Archivbesuche, Interviews, Ortsbegehungen“, bringt Jan Brandt seine Recherche für die Hauptgeschichte auf den Punkt.
Von Figuren gefunden werden
„Die Nebenstränge und das erweiterte Personal finden den Autor, nicht umgekehrt“, sagt auch Jochen Schimmang. „Man sollte sich keineswegs vor Umwegen und überraschenden Einfällen hüten: dass sie da sind, beweist ja, dass sie wichtig sind.“ Gerade auf diesem Sektor gelte der berühmte Satz, „dass der Text immer klüger ist als der Autor“.
„Wenn Autor*innen erzählen, dass die Figuren in ihnen auftauchen, quasi mit ihnen sprechen, denkt man ja immer: Was hat der- oder diejenige geraucht und wo bekomme ich das?“, scherzt Mareike Fallwickl, wird aber gleich ernst: „Tatsächlich ist es wahr. Monatelang höre ich die Stimmen meiner Figuren, mal weniger laut, mal sehr intensiv – und sie bringen ihre Geschichte mit.“
Tragfähige Gerüste nötig?
Mit Gerüsten für ihre Geschichten habe sie früher gearbeitet. „Mein aktuelles Romanprojekt ist ganz anders: hundert Ansätze, lauter kleine Szenen, viele Ideen und bisher noch überhaupt keine Struktur. Das hat mich zwischendrin verzweifeln lassen, gleichzeitig finde ich es auch sehr amüsant. Weil man im Leben sowieso wenig planen kann, und Kreativität schon gar nicht. Wenn ich dieses Mal keinen durchgetakteten Fahrplan habe, dann ist das eben so. Dann muss ich das annehmen und neue Wege finden.“
Für Georg Klein sind Gerüste „wiederverwendbare Hilfsmittel. Aus unseren Leseerfahrungen wissen wir nahezu instinktiv, wie eine Abenteuer-, eine Horror- oder eine Liebesgeschichte gebaut ist.“ Ein Grund, diesem Bauwerk zu folgen? „Wenn so ein altes Stützgestell beim erneuten Aufbau gefährlich wackeln sollte oder bizarr windschief zu werden droht, umso besser!“ Ist die Idee da, folge der Rest, oder besser, sei immer schon da, stehe „nur an der Peripherie oder hinter unserem Rücken und will nach vorne ins Licht gelockt werden“.
Tommy Jaud gesteht, dass auch er sich schwertut mit den „großen Handlungsbögen“: „Das hat mich immer viel Zeit und Kraft gekostet. Im Grunde hab ich jeden Roman fünfmal geschrieben. Eine gewisse Struktur, die Hauptwendepunkte, das Ende und die Figuren braucht man halt schon. Auf der anderen Seite kann man sich auch zu Tode planen. Die Wahrheit liegt vermutlich im Autorentyp und wie immer in der Mitte.“
„Manchmal – oft – bringt die Figur die Geschichte“, berichtet Gabrielle Alioth. „Eine Stimme beginnt zu erzählen, sie klingt interessant, und ich folge ihr in die Geschichte hinein. Ich weiß nur ganz selten, wie eine Geschichte endet, und oft habe ich auch nur eine vage Vorstellung, wie sie sich entwickeln könnte.“
Seinen Roman Gegen die Welt über ein ostfriesisches Dorf hat Jan Brandt nicht nur ausgehend von selbst erlebten Geschichten entwickelt, er nutzte „auch solche, die andere erzählt haben – immer ausgerichtet am Thema ‚soziale Kontrolle‘ und den dazugehörenden Fragen: Wie ist es, in einem Dorf aufzuwachsen? Was prägt einen? Welche Freiheiten und welche Beschränkungen gibt es?“ Wichtig sei dabei gewesen, das Ganze nicht nur aus der eigenen Perspektive zu sehen. Anstelle eines Romangerüstes konzipiert Brandt Teile. „Aus denen collagiere ich dann den größeren Text.“ Um diesen zu strukturieren und einen guten Plot zu erarbeiten, nutzt Nina MacKay einen Zeitstrahl oder die „Sieben-Punkte-Struktur nach Dan Wells“.
Lebendige Figuren
Und wie kommt man zu lebendigen Figuren?
„Also eine alte Autorenregel heißt ja ‚Beute deine Umgebung aus!‘“, sagt Tommy Jaud. „Warum also was erfinden, was schon vortrefflich und nicht besser beschreibbar vor einem steht? Natürlich sollte man dann dies oder jenes zum Schutz der armen Person verändern, derer man sich da bedient oder sie einfach fragen: ‚Hey, du bist so unfassbar bescheuert, darf ich eine Romanfigur aus dir machen?‘“
„Figuren dürfen nicht zu Ende und damit zu Tode erzählt werden“, erklärt Georg Klein. „Nur was Lücken, Dunkelheit, Geheimnis und Widersprüchlichkeit behält, überlebt einen längeren Erzählweg.“
Dialoge und Unzulänglichkeiten sind für Lucy Fricke die Mittel, Figuren lebendig werden zu lassen. „Man identifiziert sich nicht mit Superhelden, sondern mit Figuren, die genauso hadern und scheitern wie wir selbst.“
Auch Tommy Jaud nennt Dialoge als Lebendigmacher – und „wesentliche äußere Merkmale“. Lange Beschreibungen aber finde er beim Lesen „selbst langweilig“. „Und so wird aus einer knittrigen und übellaunigen Seniorin mit kleinem Kopf halt ein ‚Rosinengesicht‘.“ Das könne sich dann ja jeder selbst vorstellen. Außerdem setzt er auf „kleine Ticks und besondere Verhaltensweisen“, um Figuren Mensch werden zu lassen: „Das kann ein ‚Eh!‘ an jedem Satzende sein wie beim Tourguide Bahee oder ständiges Öffnen eines Klettverschlusses bei anderen Mitreisenden.“
Überhaupt das Handeln – darüber werden Figuren für Mareike Fallwickl lebendig: „Als Leser*in muss man sich die Figur erarbeiten. Mit ihr mitgehen, mit ihr mitdenken und mitfühlen, bis man ein Gespür bekommt. Und dann ist die Figur in der Vorstellung viel lebendiger, als sie es durch Erklärungen hätte werden können.“
Der Schreibprozess
Nach Monaten voller Notizen auf Karteikarten, aus denen sich langsam erst ein Thema, dann die Geschichte, schließlich Charaktere entwickeln, beginnt für Lucy Fricke das eigentliche Schreiben. Ein Schreiben, das auf Erfahrung beruht und dem Vertrauen, „dass man Sätze schreibt, die einen selbst überraschen. Für mich ist das Schreiben auch eine Reise. Manchmal weiß ich nicht, was genau in zehn Seiten passieren wird, wo genau ich sein werde. Als würde ich durch ein Land fahren, von dem ich eine Karte habe, einen Reiseführer. Hier und da habe ich ein Zimmer gebucht, vielleicht gibt es ein paar Attraktionen, die ich besuchen will, ich folge einem Plan, aber ich kenne dieses Land nicht und alles auf dem Weg fasziniert mich, selbst der Kaffee an einer Tankstelle. Es passiert einfach und es ist das, was einem am meisten Spaß bringt: Wenn man sich endlich auf den Weg gemacht hat und einem Geschichten und Sätze widerfahren, die man nicht für möglich gehalten hätte.“
Und wenn es einem schwerfällt, in den Schreibprozess reinzukommen?
Tommy Jaud: „Wenn man einen sehr schönen Dialog im Kopf hat oder eine Schlüsselszene, wegen der man vielleicht auf die gesamte Geschichte gekommen ist, dann einfach damit anfangen. Und nicht mit der berühmten ersten Seite und dem ersten Satz. Den ersten Satz sollte man eigentlich ganz zum Schluss schreiben, weil er ja meist eine solche Angst macht.“
Standardlaufplan: Idee haben, recherchieren, loslegen?
Nach der Idee kommt also die Recherche? Es kann auch komplizierter sein. In Wie Romane entstehen schreibt Hanns-Josef Ortheil, wie er auf die Ideen für seine Trilogie historischer Romane gekommen ist, etwa für Die Nacht des Don Juan. Darin erzählt Ortheil von Mozart und der Uraufführung von dessen Oper Don Giovanni 1787 im Ständetheater in Prag. Wie kam es dazu?
1989 fährt Ortheil zum ersten Mal nach Prag. Der Anlass ist zufällig. Ortheil kommt bei seinen Spaziergängen am Ständetheater in der Altstadt vorbei, das sein Interesse weckt. Schließlich ist er Mozartkenner, hat bereits ein Buch über den Musiker geschrieben. Ortheil entdeckt das Hotel, in dem Mozart einst gewohnt hat, das Gartenhaus außerhalb der Stadt, in dem er gearbeitet hat, … und ist schon mittendrin im neuen Stoff: im neuen Roman, für den weitere Recherchen nötig sind. Und wie ist das entstanden? Abermals durch Recherchen, durch frühere Recherchen, die quasi den Boden bereitet haben für neue auslösende Momente.
Gibt es Tricks und Kniffe?
Darauf angesprochen, ob es auch Tricks und besondere Kniffe gibt, sagt Hansjörg Schertenleib: „Bei dieser Frage klingt jede Antwort zu sehr nach Schreibschule. Daher passe ich. Ich verabscheue es, wenn ich als Leser spüre, die Autorin oder der Autor wendet Tricks und Kniffe an, um mich zu manipulieren oder die Geschichte in eine Richtung zu drücken, die nicht plausibel ist, sich jedoch vielleicht einfacher liest. Tricks haben in der Literatur, die ich mag, nichts verloren. Ich verlange Schärfe, Klarheit, Offenheit, Mut, Radikalität.“
„Der Trick heißt – auch auf die Gefahr hin, dass Sie das Wort nicht mehr hören können: Achtsamkeit“, erfahre ich dagegen von Tommy Jaud. „Wenn ich mit Kopfhörern und Smartphone durch die Stadt laufe und alles Mögliche im Sinn habe, nur nicht das, was ich gerade mache, dann wird’s auch schwer mit den Beobachtungen. Dies ist aber eher die Voraussetzung für alles als ein Trick, den gibt es nämlich nicht.“
Allerdings gibt es Tricks, mit denen Autor*innen sich selbst überlisten können, sollte die Arbeit ins Stocken geraten. Dazu Georg Klein: „Einer, der mir meist hilft: Missratene Absätze oder schlechte Sätze nicht weiter schlimm finden, nicht dran hängen bleiben und ewig herumtüfteln, sondern das Verunglückte erst mal ruhig stehenlassen und weiterschreiben. Gerade aus dem mickrigsten Kätzchen im Wurf kann noch die schönste Katze, kann eventuell ein prächtiger Kater werden.“
„Manchmal vergisst man, warum man ursprünglich angefangen hat, und dahin muss man zurück, in diesem Anfang steckt das Ziel“, erklärt Lucy Fricke. Vom Aufgeben beim Schreiben hält sie nichts. „Bisher habe ich jedes Buch, das ich über die ersten 20 Seiten hinaus geschafft habe, auch fertiggeschrieben.“
Fertigschreiben
Wie das klappt? „Hart arbeiten, immer weitermachen, wenn es stockt, an anderer Stelle weiterschreiben, einfach mal fünf Seiten auslassen. Einen Abgabetermin haben. Seinen Lektor besuchen und jammern.“
Für Jochen Schimmang hat es sich als hilfreich erwiesen, bei der Arbeit an einem größeren Werk „am Ende eines Arbeitstages ‚mittendrin‘ aufzuhören, gern auch mitten im Satz, und nicht etwa brav einen Abschnitt abzuschließen. So kann man am nächsten Tag leicht an etwas Begonnenes anknüpfen und muss nicht de facto neu anfangen.“
Deshalb läuft aber nicht immer alles glatt, was bei Schimmang auch gar nicht gewollt ist. „Ein ohne Widerstände durchgeschriebenes Buch kann nicht gut sein. Man überwindet diese entweder durch intensive Analyse oder aber auch, indem man den Text mal drei Wochen ruhen lässt. Wenn beides nicht hilft, muss man es eben sein lassen.“
Mareike Fallwickl hingegen meint: „Man muss es einfach tun, sich lösen von ‚Ich würde ja, wenn …‘ oder dem ‚Erst einmal muss ich …‘.“ Denn: „Das sind seltsam verkitschte Vorstellungen, die wir vom Schreiben haben: der richtige Tisch, die ideale Umgebung, Vanillekerzen und der Kuss der Muse, und plötzlich fließt es wie von selbst. Und außerdem sind es sehr bequeme Ausreden. Das Gute am Schreiben ist: Es funktioniert immer und überall. Mehr als ein Notizbuch und einen Stift brauchen wir nicht, also hinsetzen und machen.“
„… und sich auf sich selbst verlassen“, rät Elke Bergsma, für die vor allem wichtig ist, „seinen ganz eigenen Schreib- und auch Arbeitsstil zu finden und damit Authentizität zu schaffen.“ Das nehme einem keiner ab. Daran kommt man aber auch nicht vorbei. „Welcher Schriftsteller würde sich schon nachsagen lassen wollen, dass seine Texte klingen wie schon tausendmal gelesen?“
Doch mal aufgeben?
Wenn Gabrielle Alioth nach 30 bis 50 Seiten merkt, dass eine Geschichte nicht trägt oder sie langweilt und auch langes Grübeln über den Grund dafür nichts bringt, gibt sie eine Geschichte schon einmal auf. „Früher dachte ich, ich würde dann vielleicht später darauf zurückkommen. Inzwischen weiß ich, dass ich mir da selbst was vormache. Aber ‚Fail again. Fail better‘, meinte schon Samuel Beckett, und aus meinem Scheitern habe ich immer am meisten gelernt.“
Der größte Antrieb sei, „aus Leidenschaft zu schreiben und nicht, weil man Bücher publizieren, Leser*innen erreichen, jemandem etwas mitteilen oder gar berühmt oder reich werden will“, so Gabrielle Alioth.
Wie ist das nun mit den Techniken?
Was haben mir die zahlreichen Gespräche gebracht? Kreatives Schreiben, braucht man das? Ja, unbedingt! Aber nur, wenn es nicht darum geht, Schreiben über Regeln vermitteln zu wollen. Es braucht jemanden, der das Gefühl für Texte schult, der seine SchülerInnen zunächst wie KunststudentInnen vor alte Meisterwerke setzt, um sie diese abmalen zu lassen. Eine Dozentin, die ihren Eleven dabei hilft, ein Gefühl für Sprache zu entwickeln, der eigenen Stimme zu lauschen, nein, sie erst einmal zu erkennen, das Hören auf sie zu lernen und ihr zu vertrauen. Es braucht einen Dozenten, der die Neugierde weckt und sie ebenso wach hält wie Begeisterungsfähigkeit, Ausdauer und Selbstvertrauen.
Ich bin froh, einen solchen Dozenten gehabt zu haben und dass ich nur die Bücher meiner Lieblingsautoren aufschlagen muss, wenn die Flamme fürs Schreiben ein wenig zu schwach flackert und neu entfacht werden muss.
Autorin: Insa Segebade | www.insasegebade.de | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 147, April 2021
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