
Bevorzugen Jungen eine andere Erzählperspektive als Mädchen? Und wie spreche ich als Jugendbuchautorin Jungen und Mädchen und alles dazwischen gleichermaßen an? Ein Erfahrungsbericht von Julia Dibbern
In weniger als einer Minute würde er tot sein.
Eiskalt krampften sich Nicholas’ Finger um die rutschige Abbruchkante der Klippe. Sein Herz hämmerte, dass es ihm in den Ohren dröhnte, trotz der donnernden Brandung zehn Meter unter ihm. Übermannshohe Wellen krachten dort nachtschwarz an die Felsen. Er hörte ihren Rhythmus mehr, als dass er ihn sah. Krachen, spritzende Gischt, dann das saugende Gurgeln, wenn die Welle sich zurückzog, um Anlauf zu nehmen für den nächsten Schlag.
„Setz dich auf deinen Hintern – wenn nötig in Stretchhosen – und fang mit einem Mann an der Kante einer Klippe an“, sagt John Dufresne sinngemäß in seinem TEDx-Talk How To Write A Story (www.youtube.com/watch?v=urJDbQl5W0I). Mir gefiel der Satz, und deswegen tat ich genau das. Die Klippe war kein Problem, ich hatte schon lange eine Liebeserklärung an meine Lieblingslandschaft schreiben wollen. Und der „Mann an der Kante der Klippe“ war in meinem Fall ein 17-Jähriger. Also los. Die Klippenszene war die erste, die ich je für einen Jugendroman schrieb, und sie hat Überarbeitungen und Lektorat nahezu unverändert überstanden. Schwierig wurde es erst später.
Wobei die ersten 250 Seiten über alles bestens lief, doch dann schlug das Schreibtief zu, und ich wusste nicht, warum. Ich hatte einen wunderbaren, ausgefeilten Plot (dachte ich), ich war bis über beide Ohren verknallt in meinen Protagonisten, ich wusste, was ich erzählen wollte – und trotzdem hakte es. Ich verhedderte mich und war plötzlich überzeugt, das schlechteste Buch der Geschichte zu schreiben. Viele Autorinnen und Autoren kennen das. Das Tief ist bis zu einem bestimmten Punkt ein normaler Teil des Prozesses.
Grundsatzfrage: Können Frauen „Jungsgeschichten“ schreiben?
Dieses Tief jedoch stürzte mich in Grundsatzfragen. Schrieb ich gerade wirklich eine „Jungsgeschichte“? Können Frauen das überhaupt?
Zum Zeitpunkt jener Überlegungen kannte ich die Initiative „boys and books“ (www.facebook.com/boysandbooks.de) noch nicht, die sich explizit die Leseförderung von Jungs zum Thema gemacht hat und zum Beispiel forscht, was „Jungsbücher“ bieten müssen. Rein aus der persönlichen Beobachtung heraus wusste ich, dass es Geschichten gibt, die für Jungs, Mädchen und alles dazwischen interessant sind. Katja Brandis, Ursula Poznanski und viele andere beweisen, dass es möglich ist, geschlechterübergreifend spannend zu schreiben. Dennoch haderte ich, weil meine Geschichte trotz des tollen Plotplans nicht so fluppte, wie sie sollte.
Und plötzlich traf mich die Erkenntnis: Die Perspektive ist es! Warum schreibe ich eigentlich in der dritten Person? Das musste es sein! Also schrieb ich die ersten 100 Seiten um.
Ertrinken fühlt sich echt übel an. Aber als ich ertrank, ahnte ich nicht, dass mir das Schlimmste noch bevorstand. Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht gesprungen. Andererseits: Hätte es was geändert? Für Joe? Höchstens für mich, und wohl nicht gerade zum Besseren.
Als ich an der Klippe hing und wartete, dass sie endlich kamen, dachte ich darüber natürlich nicht nach. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nur, dass ich vor ihren Augen sterben musste, sonst wäre es um mich geschehen. Deswegen klammerten sich meine Finger auch dann noch um die scharfe Abbruchkante der Klippe, als sie bereits eiskalt waren.
In der ersten Person wurden die Sätze fließender, länger, weniger hart. Mir gefiel das erst ganz gut, denn plötzlich lief es wie geschmiert. Klar, ich kaufte mir mit der ersten Person ein paar Schwierigkeiten ein. Vorher hatte ich mit mehreren personalen Erzählern gearbeitet, jetzt war ich plötzlich auf die Sicht meines Helden beschränkt. Aber das würde sich lösen lassen.
Welche Erzählperspektive für Jungen funktioniert wirklich besser?
Meinen treuen Testleserinnen gab ich beide Varianten. (Ich hoffe, Ihnen fällt der Fehler an dieser Stelle auf. Meine ersten Testleser waren durch die Bank weiblich.)
„Wahnsinn! Bei der Ich-Perspektive werde ich richtig eingesaugt“, sagte meine Freundin denn auch – 45-jährige Frau, nicht ganz die intendierte Zielgruppe, aber ich lege Wert auf ihr Urteil, denn sie ist ehrlich.
„Ich-Perspektive, auf jeden Fall!“, sagte auch die 14-jährige Testleserin, und die 13-jährige stimmte zu: „Ist schon gut, wenn man auch die Perspektive des Mädchens hat, aber ... mir gefällt die Ich-Perspektive besser.“
Gut, dachte ich. Kein Ding. Ich schreib das Buch komplett um. Aber nicht, ohne noch mehr Meinungen eingeholt zu haben. Und dieses Mal fragte ich auch Jungs.
„Ich weiß nicht ...“ Ein 13-Jähriger war zögerlich. „Ich glaube, das aus der dritten Person gefällt mir besser. Aber ich weiß nicht genau, warum.“ (Ich schon, inzwischen.)
Mein Mann hingegen war weniger höflich. „Die Ich-Erzählung ist schon ziemlich schwafelig, oder?“
Da stand ich also, genauso klug wie vorher. Mir ging die Ich-Perspektive leicht von der Hand. Aber ich bin eine Frau. Ich bin nicht die Zielgruppe. Die Zielgruppe sind Mädchen und Jungen ab 14. Eigentlich sogar eher Jungen und Mädchen.
Ich wollte wissen, wie repräsentativ meine an zwei Händen abzählbaren Lesermeinungen waren und fragte den Cheflektor eines großen Jugendbuchverlages und den Deutschlehrer meines Sohnes: „Die Mädchen stehen auf die Geschichte mit dem Ich-Erzähler, die Jungs auf die aus der dritten Person. Gibt es da aus Ihrer Beobachtung heraus Tendenzen? Vielleicht sogar Studien? Oder ist das Zufall?“
Studien dazu kannte keiner von beiden. Aber beide bestätigten meinen Eindruck. Der Deutschlehrer antwortete per Mail: „Das Phänomen ist mir gut bekannt und erklärt sich mir auch über die unterschiedliche Leseentwicklung [...]. Während sich bei Mädchen das Leseinteresse in eine phantasie- und lustvolle Richtung entwickelt und Belletristik eine immer größere Bedeutung bekommt, distanzieren sich Jungen mehr und mehr, Sachbücher rücken in den Vordergrund. Jungen brauchen scheinbar mehr Distanz, um einen eigenen Zugang zu Literatur zu entwickeln. Das ist jetzt recht pauschal und kann auch anders verlaufen, aber diese Tendenz gibt es ganz eindeutig.“ – Er könne auch beobachten, dass Jungen ab 13 beziehungsweise 14 Jahren Literatur mit einem Ich-Erzähler tendenziell eher mieden, während Mädchen zu beiden Perspektiven ihren Zugang fänden, wobei sie Ich-Erzählerinnen vorzögen.
Der Lektor stimmte dem zu. Mädchen würden tendenziell mehr Gefühle, Gedanken, „Innerlichkeiten“ mögen, wohingegen bei den Jungs mehr passieren müsse, Szenerie und Handlungen eine größere Rolle spielten. „Wobei“, schränkte er ein, „sich Jungs sicherlich auch von einer starken Ich-Perspektive fesseln lassen – vorausgesetzt natürlich, es handelt sich beim Erzähler um einen Jungen …“
Aus persönlicher Beobachtung kann ich das bestätigen. Kein anderes Buch erfreut sich hier im Haus einer so großen Beliebtheit wie Der Marsianer mit seinem absolut coolen, distanzierten, lakonischen Ich-Erzähler.
Ich wusste auch schon, dass die Jungs und Männer in meiner Umgebung andere Stellen in anderen Büchern berührend finden als ich. (Lukas, einer meiner jugendlichen Testleser, war immer herzerfrischend ehrlich genervt, wenn meine Protagonisten zu viel redeten oder gar küssten, anstatt sich um die Lösung des Problems zu kümmern. „Boah, jetzt reicht’s aber echt!“, stand dann am Rand. Oder: „Ich brauche einen Eimer.“) Mir war klar, dass Jungs tendenziell mehr Action, mehr Sachlichkeit, mehr Heldentum brauchen. Mir fiel es damals leichter, in der dritten Person entsprechend „distanziert“ zu schreiben.
Und wie schreibe ich für alle gleichermaßen spannend?
Nach dem bisherigen Feedback von männlicher Seite war klar, dass ich für mein Jugendbuch mit Klippenanfang bei den personalen Erzählern bleiben würde. Eine aus dem Bauch geborene und später intellektuell begründete Entscheidung: So könnte es Mädchen und Jungen und alles dazwischen ansprechen.
Für ein anderes Buch versuchte ich mich an einem hochbegabten männlichen Ich-Erzähler, der bei 80 Prozent der Testleser*innen durchfiel, obwohl ich ihn wirklich schnuckelig fand. Vom Tonfall her war er ähnlich wie Der Marsianer. Die männlichen Testleser mochten ihn.
„Egomanisch, arrogant, unerträglich“, sagten hingegen die Kolleginnen aus meinem Autorenlabel ink rebels.
Das brachte mich bei dem Ziel, für alle spannend zu schreiben, zu einer weiteren groben Faustregel: In dem Moment, wo ein Ich-Erzähler sich durch besondere Fähigkeiten hervorhebt, ist es möglicherweise einfacher, seiner Überlegenheit in der dritten Person gegenzusteuern.
Und wie kommen andere, die Jugendbücher schreiben, auf ihre Erzählperspektiven?
Um das herauszufinden, habe ich drei von ihnen befragt: Frank Maria Reifenberg, der zusammen mit Dr. Christina Garbe das bereits erwähnte Leseförderprojekt „boys and books“ ins Leben gerufen hat, Ursula Poznanski, die als Markenzeichen für spannende Literatur gilt, und Jennifer Benkau, die bei Schullesungen immer wieder die Erfahrung macht, dass ihre Bücher auch von Jungen hervorragend angenommen werden, sie aber dennoch oft als „Mädchenautorin“ vermarktet wird.
Für welche Zielgruppe und in welcher Erzählperspektive war dein erstes Jugendbuch geschrieben?
Frank Maria Reifenberg: Mein erster Jugendroman Landeplatz der Engel ist ein Buch, das einigermaßen erfahrene Leserinnen und Leser braucht, die schon ein bisschen Spaß an einer literarischen und auch sprachlichen Entdeckungsreise haben. Es hat zwei Ich-Erzähler, wurde vom Verlag ab 13 angeboten, war und ist aber meines Erachtens eher was für ältere Jugendliche oder junge Erwachsene.
Jennifer Benkau: Mein erstes Jugendbuch war vermutlich Himmelsfern – „vermutlich“, weil die Zielgruppen Jugend und junge Erwachsene ja fließend ineinander übergehen. Ich habe es für Leserinnen und Leser ab 14 aus der Ich-Perspektive meiner Hauptfigur Noa geschrieben.
Um ehrlich zu sein, halte ich alle meine Bücher für geschlechtsneutral und habe – für die rosa Herzchen-Cover – einen ziemlich großen Anteil an männlichen Lesern. Etwas Love und etwas Thrill mögen Jungs ja nicht weniger als Mädchen. Ob nun ein Mädchen oder ein Junge Hauptfigur ist, halte ich für nicht so entscheidend. Problematisch ist gegebenenfalls die Gestaltung, aber auf die habe ich ja keinen Einfluss.
Ursula Poznanski: Mein erstes Jugendbuch Erebos war für LeserInnen ab 13 Jahren gedacht und ich habe es in der dritten Person in personaler Perspektive geschrieben.
Warum hast du damals diese Erzählperspektive gewählt?
Ursula: Ich wollte so nah wie möglich an meiner Hauptfigur Nick dranbleiben, eine Ich-Perspektive habe ich trotzdem nicht passend gefunden, also habe ich die nächst nähere Möglichkeit genommen.
Jennifer: Das „Ich“ habe ich gewählt, weil mein Roman lange vom Geheimnis lebt, das die weiteren Figuren in Noas Leben bringen und lange nicht aufklären. Es reichte also vollkommen und erschien mir als Gewinn, dass der Leser nicht mehr weiß als Noa. Daher brauchte ich nur eine Perspektive. Ob personal erzählt oder aus der Ich-Perspektive, war dann eine reine Bauchentscheidung.
Frank Maria: Ich habe sie nicht gewählt. Die Geschichte oder vielmehr die Figuren haben sie gewählt. Ich habe damals mit einem sehr distanzierten Erzähler in der dritten Person begonnen, der von oben auf die Geschichte schaut. Nach über 90 Seiten spürte ich (endlich), dass dies der falsche Weg war.
Eigentlich hätte ich es vorher wissen können: Eine der Hauptfiguren ist ein junger Mann mit Tourette-Syndrom. Diese Fehlfunktion im Gehirn, das war es, was ich spannend fand, daher kam der Ursprung der Geschichte. Eine kleine Fehlschaltung in diesem Gewirr von Vernetzung und Verschaltung, und dein ganzes Leben läuft anders, als es hätte sein können. Genau genommen war damit schon klar, dass ich nicht von außen draufschauen durfte, sondern hineinmusste in den Kopf und dann natürlich auch ins Herz der Figur. Die Aufgabe war, sehr subjektive Bilder für das zu finden, was da passiert.
Wie ich das im Manuskript umgesetzt habe, war eine sehr riskante Gratwanderung, das hätte – trotz vieler Gespräche mit Betroffenen und ausführlicher Recherchen – sehr danebengehen können. Ich war sehr froh und auch ein bisschen stolz darauf, dass sowohl Betroffene als auch Mediziner nachher positiv darauf reagiert haben. Für die Leser war es teilweise anstrengend und quälend. (Anmerkung der Redaktion: Auszug aus einer Amazon-Rezension: Das Buch ist für Junge und Alte, sogar mein Vater hat es gelesen und das kommt echt selten vor, dass wir beide was gut finden. Geiles Buch, bekommt klare fünf Sterne von mir.)
Würdest du das Buch heute noch einmal in derselben Erzählperspektive schreiben oder dich anders entscheiden?
Frank Maria: Wie gesagt, es gab da keine „bewusste“ Entscheidung. So wie es ist, ist es richtig.
Ursula: Ich würde es heute immer noch so machen. Es hat bei Erebos einfach sehr gut funktioniert – ebenso wie das Herumtricksen mit den Zeiten. Die Teile der Handlung, die in der realen Welt spielen, habe ich im Präteritum erzählt, die, die im Computerspiel stattfinden, im Präsens.
Jennifer: Einige Leser kritisierten, was ich im Buch als Stärke empfinde – dass die Situation so lange unklar bleibt. Daher würde ich vermutlich darüber grübeln, der zweiten Hauptfigur, dem Love Interest, ebenfalls eine eigene Perspektive einzuräumen, sodass er für mehr Klarheit sorgen kann. Aber am Ende täte es mir um das Geheimnis vermutlich zu leid und ich würde das Buch – von Kleinigkeiten abgesehen – noch einmal genauso schreiben.
Wonach entscheidest du generell, in welcher Erzählperspektive und Zeit du erzählst?
Jennifer: Die wichtigste Frage im Jugendbuch ist für mich: Wie viele Perspektiven brauche ich? Bei einer wähle ich gern das Ich, bei mehreren nehme ich eher den personalen Erzähler aus einer ganz dichten Perspektive, also beinahe ein „Ich“. Wechselnde „Ichs“ mag ich eher weniger.
Am Ende bleibt es aber eine Gefühlssache. Nicht selten schreibe ich einen Roman in zwei Varianten an und entscheide dann, was sich besser anfühlt. Und – ganz profan: Oft habe ich nach der einen Entscheidung in Sachen Perspektive auch einfach Lust auf Abwechslung und mach es deshalb ganz anders.
Ursula: Ehrlicherweise nach Bauchgefühl. Ich habe keine logisch nachvollziehbaren Kriterien, nach denen ich mich entscheide.
Frank Maria: Im Kinder- und Jugendbuch muss man diese Frage von zwei Seiten betrachten. Einerseits geht es darum, wen ich erreichen will, also: Gibt es eine klar definierte Zielgruppe oder einen vom Verlag gewünschten Programmplatz? Bei jungen und unerfahrenen Leserinnen und Lesern ist es oft ratsam, geradliniger zu erzählen: klare Identifikationsfigur als Erzähler/Hauptperson, keine/wenig Perspektivwechsel, eindeutige Zeitstruktur mit linearen Abläufen.
Bei Büchern, die in erster Linie Lesefutter für Leseratten sein sollen oder noch nicht so begeisterte Leser ans Buch heranführen, kann man das auch „planen“ und vorher in die Gestaltungsentscheidungen einbeziehen.
Wenn ich bei der Entwicklung einer Geschichte davon ausgehe, dass sie auf vorwiegend ausgereifte und erfahrene Leser trifft, habe ich mehr Freiheiten. Es ist aber immer so, dass es für mich bei einer Geschichte nicht darum geht, eine kalte Entscheidung „von außen“ zu treffen, sondern die richtige Perspektive zu erspüren. Dazu gehört die Wahl des Erzählers, der eigentlichen Erzählperspektive. Ist der Erzähler auf demselben Stand wie der Leser? Erzählt er zurückschauend? Ist er an der Handlung beteiligt, ist er gar der Protagonist?
Ein Ich-Erzähler suggeriert eine größere Nähe zu den Figuren der Geschichte, es ist aber oft nur eine scheinbare Nähe, die zudem gleichgesetzt wird mit einer besonderen Nähe zur jugendlichen Leserschaft. Man kann den Leser aber in jeder Perspektive nah an die Figur heranführen. Oft vertuscht die Wahl eines Ich-Erzählers nur, dass man eigentlich nicht wirklich an die Figur herankommt.
Wichtig ist, dass man weiß, was man tut, und es dann auch durchhält. Wenn ich selbst lese, ärgere ich mich, wenn ein Autor aus der Perspektive ausbricht, weil er schlichtweg an der Stelle sonst nicht mehr weiterkommen würde, und dann willkürlich zurückrutscht, wenn es wieder hinhaut. Das passiert sogar renommierten Autoren und ich tappe auch selbst in diese Falle. Natürlich können Perspektivwechsel ebenso ein Stilmittel sein. Dann muss es aber eine klare Logik dafür geben, der man konsequent folgen sollte.
Wie nah möchte ich die Leserin, den Leser an meine Figur heranführen?
In der Schule habe ich damals gelernt, dass es drei Perspektiven gäbe:
- die allwissende Perspektive mit einem auktorialen Erzähler;
- die personale Perspektive, in der von einem „Er“ oder einer „Sie“ in der dritten Person erzählt wird, die Leser aber dennoch nur das wissen, was diese Person weiß;
- die „Ich-Perspektive“, bei der die Geschichte, wie der Name schon sagt, von einem Ich-Erzähler berichtet wird, der seine Wahrheit erzählt.
Olaf Kutzmutz, Leiter des Programmbereichs Literatur bei der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel, hat einen anderen Ansatz – und ich stimme ihm zu. Eigentlich gäbe es nur zwei Perspektiven und damit Fluchtpunkte: „Bescheidwisser“ (= auktoriale Perspektive) und „Was ist los?“ (= personale Perspektive). „Mit der Wahrscheinlichkeit und ‚Lebenserfahrung‘ stimmt das nicht unbedingt überein, zumal wir auch Romane kennen, bei denen Tote erzählen und in die Psychen anderer Figuren hineinblicken können.“
Welches Personalpronomen bei der personalen Perspektive gewählt würde, stelle keinen großen Unterschied dar. Viel wichtiger sei die Entscheidung, wie nah man an seine Figuren herangehe. Es komme einfach darauf an, wo die Kamera stünde, ob stets vor dem Kopf oder auch darin und wenn darin, wie lange.
Hatte ich hier meine Antwort? Zumindest würde es erklären, warum Frank Maria Reifenbergs Bücher auch mit Ich-Erzählern gut bei Jungs ankommen und warum mein Sohn den Marsianer mag, der so lakonisch anfängt mit: I’m pretty much fucked. That’s my considered opinion. Fucked.
Die Ich-Perspektive verleitet gerade Schreibanfänger*innen zu dem, was mein Mann als „Schwafeln“ bezeichnet. Und einige klischeehafte Mädchengeschichten halten sich entsprechend seitenlang mit Rückblicken und Innensichten auf. Mit Erfolg. Aber es gibt auch den superdistanzierten Ich-Erzähler, wie beim Marsianer, der kaum mehr Innensicht gewährt, als ein Weitwinkelobjektiv das täte. Von der ersten Seite an distanziert sich der Erzähler durch Sarkasmus und Humor von der Tragik seiner Situation und versucht, sie sachlich zu betrachten und zu lösen. Eine „männlichere“ Ich-Perspektive kann es kaum geben.
Erzählperspektive für Jungen – mein Fazit
Als Fazit für mich bleibt: Es gibt wie immer nicht die eine einzig richtige Lösung, die eine perfekte Erzählperspektive. Und so habe ich auch bei den nächsten Büchern wieder ausprobiert, habe geschaut, wie nah ich an die Figur heranwill, wie viele Perspektiven der Geschichte dienen, welcher Charakter zu welchem Zeitpunkt was wissen muss ... Und dabei immer im Hinterkopf behalten, dass Lukas nicht so viel Geknutsche lesen will.
Autorin: Julia Dibbern | www.juliadibbern.de | [email protected] | www.ink-rebels.de
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Blogbild: Carola Vogt
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