
Von Leonard Bernstein stammt der Satz: „Um große Dinge zu erreichen, sind zwei Dinge nötig: ein Plan – und zu wenig Zeit.“
Da ist was dran.
Finden wir uns nämlich mit einer engen Deadline konfrontiert, aus der wir uns nicht herausreden können – sprich: Schlimme Dinge passieren, wenn wir den Termin nicht einhalten –, dann aktiviert das in uns alle Kräfte. Auf einmal erkennen wir mühelos, was wichtig ist und was nicht, was zum Ziel führt und was nur Ablenkung ist, und überhaupt sehen Ablenkungen in diesem Moment nicht mehr so verlockend aus wie sonst.
Haben wir dagegen reichlich Zeit, verlieren wir uns nur zu gern in Aktivitäten, die uns zwar beschäftigen, aber zu nicht viel führen.
Das erklärt, warum mitunter Leute dicke Romane geschrieben kriegen, die sich die Zeit fürs Schreiben von einem dicht gepackten Tagesplan abzwacken müssen, während andere, die sich ein Jahr frei nehmen, „um sich ganz ihrem Werk zu widmen“, am Ende dieses Jahres oft nur mit unbrauchbaren Fragmenten dastehen und sich wundern: Ist wirklich so viel Zeit mit Surfen, Computerspielen und Herumhängen in Cafés draufgegangen?
Nun sollte man sich als Schriftsteller um Himmels willen nicht angewöhnen zu warten, bis man unter Termindruck gerät, um dann die Nächte durchzuschreiben: Derlei führt, wie viele Biografien lehren, zu einem ungesunden Lebenswandel, zu Kaffeemissbrauch, von anderen Drogen ganz zu schweigen, und nicht selten zu einem verfrühten Ableben.
Aber ein bisschen Termindruck dann und wann kann durchaus lehrreich sein!
Gerade wenn man leidenschaftlich „How to write“-Bücher liest und sich gern mit anderen über Schreibmethoden austauscht (der Autor dieser Zeilen bekennt sich schuldig in beiden Punkten), passiert es leicht, dass man so viele Arten und Weisen kennt, an eine Romanidee heranzugehen, dass man sich nicht mehr entscheiden kann, welche davon man nehmen soll. Man probiert es mit Methode A, stößt auf Schwierigkeiten und denkt, hmm, vielleicht hätte ich doch Methode B anwenden sollen. Man verwirft, probiert es anders, kommt nicht vorwärts … Kurz, man ist verwirrt.
Hier kann Termindruck Klarheit schaffen.
Dieser Effekt ist mir erstmals bei den 44 Stunden von Wolfenbüttel aufgefallen.
Schreiben unter Druck – und was dann passiert
Zur Erklärung: In den Nullerjahren habe ich, zusammen mit Klaus N. Frick, dem Chefredakteur der Perry-Rhodan-Serie, Schreibseminare an der Bundesakademie in Wolfenbüttel gegeben. 2005 inszenierten wir ein ehrgeiziges Experiment: Wir wollten versuchen, einen kompletten Roman von mindestens 300 Seiten an einem einzigen Wochenende zu schreiben – indem wir die 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gleichzeitig daran arbeiten ließen.
Das Seminar begann am Freitag um 16 Uhr und endete am Sonntag um 12 Uhr: Das waren genau 44 Stunden für Schreiben, Essen und Schlafen. In dieser Zeit würde jeder mindestens 20 Seiten verfassen müssen, was für die meisten durchaus eine Herausforderung war. Wir wussten also nicht, ob es funktionieren würde.
Damit hatten wir echten Termindruck gesetzt: Am Sonntagmittag um 12 Uhr würden wir einen fertigen Roman von 300 Seiten geschafft haben – oder eben nicht. Hinzu kam sozialer Druck, denn natürlich wollte niemand derjenige sein, an dem das ganze Projekt scheiterte.
In dieser Situation dachte keiner mehr über Methoden nach. Jeder griff instinktiv zu der Arbeitsweise, die für ihn oder sie die beste war. Und für viele hatte diese intensive Erfahrung einen klärenden Effekt; einige von denen, die daran teilgenommen haben, sind heute regelmäßig mit ihren Werken in den Bestsellerlisten zu finden, was sie natürlich nicht in erster Linie diesem Experiment verdanken, sondern ihren eigenen Talenten und Anstrengungen. Andere haben sich vom belletristischen Schreiben ab- und anderen Künsten zugewandt: Auch so können Einsichten aussehen.
Der Roman war übrigens am Sonntag um 11 Uhr 07 fertig und hatte 338 Seiten.*
Das Problem: Der Termindruck muss echt sein
Das Problem ist freilich, dass ein solcher Termindruck echt sein muss. Man kann ihn sich nicht einreden. Oder anders gesagt: Für mich selber hatten die 44 Stunden nicht diesen Effekt.
Das passierte erst, als ich vor der Herausforderung stand, meinen dicken Perry-Rhodan-Roman zu schreiben – und zwar pünktlich.
Als mir klar wurde, dass das 50-jährige Jubiläum der ersten Mondlandung und das Erscheinen von Heft 3000 der Perry-Rhodan-Serie (die ebenfalls mit der ersten Mondlandung beginnt) ins selbe Jahr fallen würden, hatte ich die Idee, einen Roman darüber zu schreiben, wie es kam, dass nicht Neil Armstrong, sondern Perry Rhodan als erster Mensch den Mond betreten hat – nur hatte ich diese Idee verdammt spät. Als ich überschlug, wann welche Etappenziele erreicht sein mussten, wurde mir siedend heiß klar, dass ich pro Tag doppelt so viel würde schreiben müssen wie bislang! Und es gab keinen Weg, das zu umgehen, denn es wäre sinnlos gewesen, den Roman erst 2020 erscheinen zu lassen.
Termindruck also. Echter. Und ohne dass ich darüber nachdenken musste, setzte derselbe Effekt ein: Ich vergaß alle Experimente und griff instinktiv zu einer Methode, die für mich optimal funktionierte.
Meine Methode
Weil man mich andernfalls danach fragen würde, sei sie hier geschildert: Zuerst schreibe ich ein Exposé, das die Handlung auf fünf bis zehn Seiten zusammenfassend erzählt. Das setze ich handschriftlich in grobe Etappen um, das heißt: Ich male Kästchen, in denen stichwortartig steht, was passieren muss, und verbinde sie mit Pfeilen, um die Reihenfolge klarzumachen. Eines oder mehrere dieser Kästchen ergeben jeweils eine Szene, die ich ebenfalls handschriftlich vorskizziere, und zwar mit Clustern nach der Methode von Gabriele L. Rico. Mit einem Vorrat von drei bis vier solcher Szenencluster mache ich mich dann ans eigentliche Schreiben.
Und alles, was erledigt ist, streiche ich lustvoll mit farbigen Markern aus: die Kästchen mit violett, die Cluster mit rot.
Jeden Morgen überarbeite ich die letzten zwei, drei Seiten vom Vortag – nicht, um im Lektorat Zeit zu sparen, sondern weil das für mich der beste Weg ist, um wieder in den Text „reinzukommen“, insbesondere, wenn ich das als Allererstes am Tag mache, noch vor den E-Mails.
Außerdem führe ich einen Arbeitskalender: Ich unterteile die angepeilte Zahl der Worte anhand der Wochen, die mir zur Verfügung stehen, und weiß daher immer, welchen Umfang ich zum Ende einer Woche erreicht haben will. Erreiche ich ihn nicht, bleibt das Internet ausgesteckt, bis ich wieder auf dem Laufenden bin.
Damit wir uns richtig verstehen: Das hat sich als meine optimale Methode herausgestellt, als ich unter Druck stand. Es heißt absolut nicht, dass das auch Ihre optimale Methode ist. Es ist sogar höchst unwahrscheinlich, denn meiner Beobachtung nach gibt es keine zwei Schriftsteller, die gleich arbeiten. Aber ein Termin kann Ihnen helfen, Ihre optimale Methode zu finden.
Das übliche Pensum mal drastisch überschreiten
Wie gesagt: Auf Termindruck angewiesen zu sein, um überhaupt etwas zu Papier zu bringen, sollte man sich absolut nicht angewöhnen; das kann buchstäblich tödlich sein.
Aber mal eine terminliche Herausforderung anzunehmen, die es verlangt, dass man sein übliches Pensum drastisch überschreitet, kann ungemein lehrreich sein – eine Herausforderung wie: „Eine Kurzgeschichte von zehn Seiten, und wir brauchen sie bis Samstag!“. Vorausgesetzt, man achtet dabei nicht nur auf die Uhr, sondern auch darauf, zu welchen Methoden und Hilfsmitteln man instinktiv greift.
* Erhältlich unter: Wolf N. Büttel, Sie hatten 44 Stunden [...], ISBN 978-3929622232. Der Anhang zum Roman enthält eine Dokumentation der Vorbereitungen und des Ablaufs, Erfahrungsberichte und das Lektoratsgutachten.
Autor: Andreas Eschbach | www.andreaseschbach.de | [email protected]
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Foto: Olivier Favre
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