
Seit 2012 arbeite ich hauptberuflich als Autorin, habe sechs Romane und ein Kinderbuch veröffentlicht und zwei weitere Bücher geschrieben. Seit 2014 unterrichte ich mein Handwerk sogar in den PLOT BOX-Schreibseminaren. Ich erkläre die Dreiaktstruktur, die Kapiteleinteilung, spreche über Spannungsbögen und Figurenentwicklung. Ich habe ein riesiges Sammelsurium an Wissen und Erfahrungen angehäuft, das mich oft denken lässt, dass ich nicht erst sechs, sondern schon zwanzig Jahre schreibe.
Doch eine Sache habe ich bis heute nicht unter Kontrolle. Es ist etwas, das mich fasziniert und zugleich immer wieder aus der Bahn wirft: wenn Figuren zu mir kommen. Ungefragt, selbstverständlich.
Die Figur als Botschafterin
Oft werde ich gefragt, wie ich auf die Ideen für meine Bücher komme. Ich gebe immer dieselbe Antwort: Sie kommen zu mir. Und eigentlich fast immer über eine Figur als Botschafterin. Ein Beispiel: Vor Kurzem war ich mit einer Kollegin aus. Es sollte ein lockerer Abend werden, wir wollten ein bisschen was trinken, etwas essen, später vielleicht tanzen. Kurz vor dem verabredeten Termin schrieb sie mir, sie bringe eine norwegische Freundin mit und die freue sich schon darauf, mich kennenzulernen. In der Nachricht stand dieser besondere Name der Freundin, über den ich ins Grübeln kam. Gesagt, getan: Wir trafen uns. Meine neue Bekanntschaft und ich verstanden uns prima, es war ein großartiger Abend.
Warum erzähle ich das? – Nun ja, am nächsten Morgen wachte ich nicht nur mit einem schweren Kopf auf, sondern auch mit einer neuen Idee: Der besondere Name hatte vor meinem geistigen Auge eine komplette Figur entstehen lassen, die nun mit Sack und Pack und ihrer Geschichte vor meiner Tür stand. Und ich öffnete ihr.
Ein anderes Beispiel: Vor zwei Jahren erzählte mir eine geschätzte Autorenkollegin und Freundin, dass sie auf ihren Stiefvater aufpassen solle, weil ihre Mutter mit einer Freundin in den Urlaub wolle und ihr Stiefvater gerne mal zu tief ins Glas schaue. Ich fand die Idee des „umgekehrten“ Babysittings spannend – und am nächsten Morgen saß der alte Walter im Schlafanzug auf meiner Wohnzimmercouch, die männliche Hauptfigur aus meinem Roman „Das Leben ist (k)ein Ponyhof“. Natürlich hätte ich Walters Auftauchen ignorieren können, wie einen unliebsamen Geist, den ich nicht gerufen hatte. Genauso wie die Frau mit dem besonderen Namen. Doch sie waren DA. Sie existierten in meinem Kopf, in meiner Vorstellung. Und da meine Imagination alles ist, woraus ich schöpfe, und sie untrennbar mit mir und meinem Leben verbunden ist, existierten die Figuren also auch in meinem Leben. Es wäre schier unmöglich gewesen, sie nicht zu beachten. Walter zum Beispiel flüsterte mir ab dem Tag seines ersten Erscheinens kluge Sprüche ins Ohr, die er sich immer so zurechtlegte, wie er sie gerade brauchte. Es hätte mich in den Wahnsinn getrieben, ihn nicht zu erhören. Also stellte ich ihm die ehrgeizige Antonia zur Seite, die er von da an piesacken konnte. Ich wusste, es würde die erfolgreiche und perfektionistische Karrierefrau an ihre Grenzen bringen, wenn ein völlig chaotischer, leicht verwirrter alter Mann sie statt mich Tag und Nacht wach hielte – und schon stand der Plot.
Was will ich damit sagen?
Wie zur Geschichte kommen?
Die Frage, wie man zu einer guten Geschichte kommt, wird immer noch am häufigsten gestellt. Ich sage: Suchen Sie sie nicht. Lassen Sie sie zu Ihnen kommen.
Wie?
Nun, ich erwähnte ja bereits, dass ich in eigenen Schreibkursen das Handwerk des Schreibens unterrichte. Doch was ich angehenden Autorinnen und Autoren nicht beibringen kann, ist hinzuhören. Hinzuschauen. Die kleinen Dinge des Alltags aufzunehmen und wirken zu lassen. Ich kann ihnen das nur raten.
Und das ist, was ich auch Ihnen sagen möchte: Hören Sie hin. Wenn Ihnen etwas begegnet, das Sie fasziniert, Sie aufhorchen lässt, Sie ärgert, Sie trifft: Gehen Sie dem auf den Grund. Warum berührt Sie gerade dieser Mensch? Was macht die Geschichte Ihrer Freundin von dem Stiefvater mit Ihnen? Welches Bild erzeugen spezielle Menschen, die Ihnen begegnen, an Ihnen vorbeirasen?
Halten Sie die Bilder fest, denken Sie über sie nach. Und dann lassen Sie sie los.
Sie werden eines Tages als Figur zu Ihnen zurückkehren und stehen dann mit Sack und Pack und ihrer ganzen Geschichte vor Ihrer Tür.
Lassen Sie sie eintreten und Sie haben Ihre Geschichte.
Autorin: Britta Sabbag | www.brittasabbag.de, www.plotbox-koeln.de
In: FEDERWELT, Heft 116, Februar 2016
Illustration: Carola Vogt und Peter Boerboom