
Dichten lernen - Baustein 1: Die lyrische Sprache – ein Kapitel für sich
Schreiben Sie Gedichte auf Deutsch? Dann verwenden Sie, ohne dass es Ihnen vielleicht bewusst ist, eine fremde Sprache. Denn lyrische Texte verlangen nach einer Sondersprache – und diese folgt anderen Regeln.
Im Laboratorium der Worte
Die poetische Sprache unterscheidet sich – auch bei gleichem Worteinsatz – von der Normalsprache. So nehmen Sie sich beim Dichten die Freiheit, auf Grammatikregeln zu verzichten. Sie kombinieren Wörter in ungewohnter Weise, sodass neue Bedeutungen entstehen. Sie erfinden sogar Begriffe oder zerlegen sie und beginnen mit Buchstaben und Lauten zu spielen.
Die Alltagssprache wird zu Ihrem Material, das Sie bearbeiten und in seiner alten Form aufbrechen. In Ihrer Versschmiede klopfen, hämmern und schleifen Sie diesen Werkstoff. Der Dichter Gottfried Benn (1886-1956) spricht von einem „Laboratorium für Worte, in dem der Lyriker sich bewegt. Hier modelliert, fabriziert er Worte, öffnet sie, sprengt, zertrümmert sie, um sie mit Spannungen zu laden [...].“ (1)
In kurzen oder langen Versen passen Sie Ihre Sätze bestimmten Klangfolgen und Rhythmen an, Sie schaffen mit Strophen und Gedichtformen Texte, die in ihrer relativ überschaubaren Zeilenzahl auf dem sonst leeren Papier auffallen. Gedichte schicken optische Signale, auf die wir, noch bevor wir die Lektüre beginnen, reagieren. Wir ändern unsere Leseerwartung und stellen uns auf eine fremde Sprache ein, deren Regeln und Aufbau wir (er)kennen wollen/müssen, um das Gedicht zu verstehen.
Mit lyrischer Sprache ins Neuland
Sprachgestaltung heißt also Ihr Zauberwort, wenn Sie Lyrik schreiben und dabei in die poetische Sprache wechseln. Reduziert auf das Wesentliche gewinnt im Gedicht jedes Wort, jedes Satzzeichen Bedeutung: Alles wird poetisch aufgeladen. Alles trägt zur Verdichtung bei. Die lyrische Sprache verfremdet und verschiebt die Blickwinkel. Mit einem Gedicht entsteht nicht nur ein Sprachgebilde, sondern Sie betreten Neuland, in dem das im Alltag Ausgesparte, das noch nicht Gesagte Form und Ausdruck findet. Gelungene Gedichte eröffnen uns deshalb eine überraschende Sicht auf die Welt.
Gedichtzeilen – ein erster Baustein
Mindestens zwei bewusst gestaltete und so in ihrer Länge begrenzte Zeilen braucht es, um ein Gedicht vom Fließtext zu unterscheiden. Erst dann signalisiert der Umbruch, wie es im Begriff Vers – abgeleitet aus dem Lateinischen „versus = gewendet“ – steckt, einen lyrischen Text. Indem Sie bei der Anlage der Gedichtzeilen Vers- und Satzeinheit gegeneinander ausspielen – vielleicht erinnern Sie sich noch an die Zutatenliste in der letzten Federwelt (Heft 112, 3/2015) –, erzeugen Sie ein hohes Maß an poetischer Spannung.
Dieser grundlegende Baustein der Lyrik, wieder aufgenommen und erweitert, veranschaulicht nicht nur, wie die poetische Sprache widerspenstig und uns fremd ureigene Wege geht, unser Wissen über die gewohnte Sprache wachhält – und irritiert. Vielmehr lässt sich beispielhaft schon an diesem einzelnen Gestaltungsmittel erkennen, wie vielschichtig und ineinander verzahnt die Lyrik ihr Bezugssystem errichtet.
Zeilenstil und Enjambement
Je nachdem, wie Sie Haupt- und Gliedsatz in eine Verszeile umwandeln, bauen Sie Harmonie oder Spannung auf. Beim Zeilenstil endet die syntaktische Einheit mit dem Versschluss. Verlaufen die Verse allerdings zu gleichmäßig mit den gewohnten Satzeinheiten, indem Komma/Punkt stets mit dem Zeilenende zusammenfallen, entsteht aus der Harmonie leicht Monotonie. Bewährte Gegenmittel sind in diesem Fall kurze Einschübe, die auflockern, oder in der Schlussstrophe – gerade die ältere Dichtkunst liefert Exempel – ein schwaches Enjambement. Diese Bauweise – auch als Zeilensprung oder Hakenstil bekannt – erzeugt Spannung: Die syntaktische Einheit setzt sich an einer als natürlich empfundenen Schnittstelle in die nächste Verszeile fort. Das Gedicht Eduard Mörikes enthält diese Varianten:
Septembermorgen
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
(Eduard Mörike, 1804-1875)
Die moderne Dichtung bevorzugt das starke Enjambement. Die Sätze sind in ihren Sinneinheiten durchtrennt. Zerrissenheit und Dissonanzen sind Folge. Es ergibt sich jedoch auch die Möglichkeit, Wörter am Zeilenende oder zu Beginn der Folgezeile besonders hervorzuheben. Im Beispiel aus Ulla Hahns „Lauter“ dient der extreme Verssprung auch der Betonung und Steigerung des Jubels:
[...]
Lauter Jubel um Augen und
Ohren lauter Lust zu leben so
[...]
(Ulla Hahn, *1945)
Atem und Stimme
Der Zeilenbau verzahnt im Gegengewicht zum geschriebenen Wort auch eine „akustische“ Seite. Punkt und Komma markieren nicht nur Satzgrenzen, mit denen wir Sinneinheiten gliedern und abschließen. Mit der Interpunktion schaffen wir zugleich Atempausen und bestimmen den Redefluss. Ähnlich verhält es sich mit der Stimme, die sich im Satzverlauf ändert, bei Komma und Punkt tiefer wird.
Fallen Satz-/Gliedsatzende und Versschluss also im Zeilenstil zusammen, so senkt sich in diesem „Einklang“ die Stimme und die Atempause tritt ein. Das Zusammenwirken von Normal- und lyrischer Sprache bewirkt eine in sich runde Melodie. Braucht es gegen die Monotonie Einschübe, so verkürzen sich die Atembögen innerhalb der Zeile; das ebenfalls zunehmende Auf und Ab der Stimme sorgt für eine lebendige Sprachmelodie.
Beim schwachen Enjambement bleibt trotz des Umbruchs die Sinneinheit gewahrt. Dass ein solcher Zeilensprung häufig in den letzten Versen eingefügt ist, hat einen hörbaren Grund: Das Zeilenende verlangt die Stimmsenkung, während der fortlaufende Satz die Stimme gehoben lässt. Der Sprechton bleibt in der Mittellage, eine Pause geht einher – die für den abschließenden Höhepunkt genau passende poetische Aufladung und Steigerung.
Das Spiel mit der Lesererwartung
Im Gedichtbeispiel Ulla Hahns ist die „und-Verbindung“ mit hartem Schnitt nach der Konjunktion gekappt. Anstatt Teile zu verknüpfen, bricht die Zeile jäh ab und hinterlässt eine Lücke. Die Erwartung des Lesers staut sich im „luftleeren“ Raum, bis der zweite Vers den Anschluss herstellt.
Bei mehreren Enjambements nacheinander (worin Ulla Hahn Meisterin ist), kann dieser Zeilenstil das Sprechtempo enorm beschleunigen. Im harten Durchtrennen engster Spracheinheiten besteht für die Leserin das umso größere Bedürfnis, die Bindung möglichst rasch wiederherzustellen. Im rapiden Sprachfluss steigert sich zugleich die Atemlosigkeit.
Mit diesem Einfluss auf den Atem haben Sie ein wichtiges Ziel erreicht: Sie stellen mithilfe Ihrer Sprachgestaltung den Zugang zu den Gefühlen Ihrer Leser her. Denn was geschieht, wenn wir uns freuen, wir wütend oder schockiert sind? Wir atmen intensiver, schneller, „schnauben“ oder wir halten die Luft an. Genau das kann auch der Redefluss in Ihrem Gedicht suggerieren. Das Postulat des französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé (1842–1898) bestätigt sich: „Ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten.“ (2)
Michaela Didyk im Internet: www.unternehmen-lyrik.de
(1) Benn, Gottfried: Marginalien. In: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Dieter Wellershoff. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1975. Bd. 3.
(2) Mallarmé, Stéphane, zitiert nach Gottfried Benn. Gleiches Werk wie oben. Bd. 4.
Buchtipps
• Hummelt, Norbert und Siblewski, Klaus: Wie Gedichte entstehen. München: Luchterhand 2009
• Jahrbuch der Lyrik 2015. Herausgegeben von Christoph Buchwald und Nora Gomringer. München: DVA 2015 (erscheint alle 2 Jahre; mit Ausschreibung zur Teilnahme)
• Nitzberg, Alexander: Lyrik Baukasten. Wie man ein Gedicht macht. Köln: DuMont Verlag 2006
• Weber, Martina: Zwischen Handwerk und Inspiration. Lyrik schreiben und veröffentlichen. 3., vollständig überarb. Auflage. München: Uschtrin Verlag 2011
Linktipps
• http://literaturhaus-sh.de/projekte/liliencron_dozentur.html: Liliencron-Dozentur für Lyrik
• http://lyrikzeitung.com: Lyrik-Zeitung & Poetry News – aktuelle Nachrichten zur deutschen und internationalen Lyrik von Michael Gratz
• www.fixpoetry.com: Fixpoetry von Julietta Fix: Aktuelles, Feuilleton, Poetryletter
• www.lyrik-kabinett.de: Lyrik Kabinett München, Bibliothek, Lesungen, Publikationen
• www.lyrikline.org: DichterInnen lesen ihre Gedichte. Zu hören: 1039 DichterInnen, 9374 Gedichte, 63 Sprachen.
• www.poetenladen.de/martina-weber-leonce-lena-wettbewerb-2015-darmstadt.htm
• www.unternehmen-lyrik.de: Website von Michaela Didyk
In: FEDERWELT, Heft 113, August/September 2015
Weitere Lyrik-Bausteine von Michaela Didyk finden Sie in diversen Federwelt-Ausgaben sowie auf: https://blog.unternehmen-lyrik.de/category/themen-der-lyrik/lyrisches-handwerk/
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