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Der Recherchefachmann packt aus - Teil 3

Federwelt
Niels Kolditz
Bild zum Thema Der Recherchefachmann packt aus

Was muss jetzt eigentlich in den Text? Welche Informationen sind überhaupt wichtig für mich und mein Buch? Wie und wo recherchiere ich die am besten? Wie mache ich mir die Recherchearbeit so leicht wie möglich? Und wie teile ich das, was ich herausgefunden habe, am geschicktesten mit meinen LeserInnen? Wie faktentreu muss die Handlung in einem Krimi oder einem historischen Roman sein? ... All diese Fragen beantwortet Niels Kolditz in seinem dreiteiligen Artikel.

Kolditz arbeitet seit über 15 Jahren als selbstständiger Dienstleister in Sachen Recherche und Lektorat. Zu seinen Kunden zählen vor allem AutorInnen, DokumentarfilmerInnen, kleinere Redaktionen und Verlage.

In Teil drei geht es um die Fragen, wie viel Faktentreue sein muss und welche Recherche-Ergebnisse wie und in welchem Maß in die Geschichte einfließen sollten, um den LeserInnen den größtmöglichen Genuss zu bescheren.

 

5. Die Frage der Verantwortung

Schlechte Recherche (siehe 4. und b: → Die Komfortzone nicht verlassen und Das Risiko bewerten) hat einen Nachteil: Sie stärkt Vorurteile und Nichtwissen bei den LeserInnen.

In Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ wird zum Beispiel so getan, als wären Seegurken und Meeresfrüchte keine Tiere, sondern Obst und Gemüse. Auch das China des Jim Knopf hat keine Ähnlichkeit mit dem wirklichen China, auch nicht mit dem China vergangener Tage. Anstelle von Fakten werden viele alte europäische Klischees präsentiert. So hielt es auch Karl May. Er verwendete in seinen Büchern zwar immer die Namen von real existierenden Ländern, von denen wusste er aber im Grunde nichts.*

Beide Autoren handelten ohne Not, denn die Geschichten hätten ja auch in fiktiven Ländern spielen können. So aber pflanzten sie mit ihren Büchern krude Ideen von der Welt in die Köpfe ihrer (jungen) LeserInnen.

* Als er als alter Mann endlich genug Geld hatte, auf Reisen zu gehen, erlitt er einen schweren Schock, als er mit der Realität in den jeweiligen Ländern konfrontiert wurde. (Aus „Terra X: Karl May – Das letzte Rätsel“. Der Film ist in der ZDFmediathek online.)

Aber das ist eher ein gesellschaftliches als Ihr Problem. Sie sind Schriftsteller und keine Journalisten. Sie haben auch keinerlei Bildungsauftrag wie die öffentlich-rechtlichen Sender. (Fast) alles, was Sie schreiben, ist rechtlich durch die Freiheit der Kunst abgedeckt. Es gibt nur wenige Ausnahmefälle, in denen Sie Zurückhaltung üben sollten:

a) Anleitung zum Mord
Aus gutem Grund wird in klassischen englischen Krimis gerne mit Zyankali oder Arsen gemordet, denn diese Gifte sind für literarische Zwecke fast perfekt: Jeder kennt sie und weiß, dass sie tödlich sind – und keiner kann sie einfach so im Laden kaufen. Diesem Beispiel sollten Sie folgen!

b) Lebende Personen
Mindestens so sensibel wie der Umgang mit real existierenden Tötungsmethoden sollte Ihr Umgang mit lebenden Personen, Firmen oder deren Produkten sein.

Vor etwa zehn Jahren plauderte Dieter Bohlen in seinen Büchern peinliche Erlebnisse mit Prominenten aus. Die meisten der Betroffenen konnten nicht viel dagegen unternehmen, da sie als Personen des öffentlichen Lebens unvorteilhafte Berichte über sich hinnehmen müssen – bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Das gilt aber nicht für Privatpersonen.

In seinem Buch „Esra“ schilderte Maxim Biller seine eigene Liebesgeschichte – inklusive echter Orte, Ereignisse und Namen. Zwei der erwähnten Frauen klagten gegen die Veröffentlichung – und bekamen am Ende Recht: „Esra“ durfte nicht veröffentlicht werden. (Siehe auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Esra_(Roman))

Etwas mehr Glück hatte Jürgen Bücker. In seinem Buch „Wer die Hölle fürchtet, kennt das Büro nicht“ schrieb er über seine eigene Firma. Seine Kollegen konnten sich mühelos wiedererkennen und zogen vor Gericht – allerdings erfolglos. Bücker war nämlich schlau genug gewesen, keine Klarnamen zu verwenden. Damit fällt sein Buch unter die Freiheit der Kunst – die Unannehmlichkeit, vor Gericht mit den (Ex-)Mitarbeitern zu streiten, ersparte ihm das freilich nicht. Anna Wimschneider (siehe 4.a → Die Komfortzone ...) ersetzte in „Herbstmilch“ daher viele Klarnamen sicherheitshalber durch Umschreibungen: „ein Bauer aus dem Nachbarort“, „ein hohes Tier von der Partei“, „einer vom Amt“ und so weiter.

Bestsellerautor Johannes Mario Simmel war sich dieser Problematik sehr bewusst. Wenn er in seinen Romanen Kritik an real existierenden Sachverhalten und Ereignissen äußerte, war sein erster Leser immer sein Anwalt. Der prüfte Wort für Wort, ob „man das so schreiben kann oder nicht“. Das ist freilich ein Luxus, den sich nur gut verdienende AutorInnen leisten können.

Informationsquellen:
Wenn Sie Informationen benutzen wollen, die direkt oder indirekt lebende Personen betreffen, lassen Sie sich vorher von einem Medienanwalt beraten. Wenn Sie auf etwa Brisantes oder einen möglichen Skandal gestoßen sind, ziehen Sie in Erwägung, auf die eigenverantwortliche Publikation zu verzichten, und wenden Sie sich lieber an eine Zeitung oder einen Sender – die haben damit mehr Erfahrung.

 

6. Wie viele Informationen schreibt man in den Text?

Wenn Sie Ihre Recherche abgeschlossen haben, kommt gleich das nächste Problem auf Sie zu: Wenn Sie alles schreiben, was Sie in Erfahrung gebracht haben, strapazieren Sie die Geduld Ihrer LeserInnen. Wenn Sie zu wenig erklären, können Ihnen die LeserInnen nicht mehr folgen.

In der Praxis haben sich folgende Verfahren als geeignet erwiesen, wenn es darum geht, das richtige Maß zwischen Schreiben und Weglassen zu finden:

a) Der Zuhörer in Gedanken
Denken Sie an 3.c (→ Über die LeserInnen) zurück und machen Sie sich ein Bild von Ihren typischen LeserInnen, so, wie Sie diese durch die Händlerbefragung und das Lesen der Kundenrezensionen kennengelernt haben. Der amerikanische Philosoph James Pryor stellt sich seine LeserInnen zum Beispiel als faul, dumm und gemein vor. Nun erzählen Sie in Gedanken diesen fiktiven LeserInnen Ihre Geschichte.

Wenn Ihnen das zu abstrakt ist, stellen Sie sich einen ganz konkreten Leser vor, für den Sie schreiben.

Vielleicht haben Sie Leute in Ihrem Bekanntenkreis, von denen Sie vermuten, dass sie sich Ihr Buch kaufen würden. Stellen Sie sich vor, Sie erzählten denen Ihre Geschichte.

Was meinen Sie: Werden die Bekannten alles verstehen? Oder gibt es Punkte, wo Sie sich dachten „Naja, das muss ich ihnen wohl erklären“?

Auf diese Weise bekommen Sie ein Gefühl dafür, an welchen Stellen Sie wie viel Information einfließen lassen (müssen).

b) Der Experte-Amateur-Check
Um das richtige Maß an Fakten-Richtigkeit und Informationsvermittlung herauszufinden, gibt es auch ein relativ aufwändiges Verfahren, das sich in der Praxis aber glänzend bewährt hat:

Schritt eins: Weglassen
Stellen Sie sich einen Leser vor, der dieselbe Recherche betrieben hat wie Sie. Dieser Leser ist ein Spiegelbild von Ihnen, der dasselbe Faktenwissen hat – aber die Geschichte noch nicht kennt, die Sie erzählen wollen.

Mit anderen Worten: Sie lassen in Ihrem Haupttext zunächst einmal alle Erklärungen einfach weg. Das Ergebnis ist im Idealfall ein sehr schlanker Text, der alle Fachbegriffe so verwendet, als wären sie ganz selbstverständlich allen LeserInnen geläufig, und der keine Hintergrundinformationen zu irgendwelchen Fakten gibt.

Schritt zwei: Faktencheck
Geben Sie diesen Text dann als Erstes Fachleuten zum Lesen. Idealerweise sind das dieselben, die Ihnen auch schon bei der Recherche geholfen haben (siehe 3.a: → Über die Fakten). Da diese Personen sich auf ihrem Fachgebiet gut auskennen, brauchen sie keine Erklärungen, um den Text zu verstehen.

Bitten Sie sie, Ihnen zu sagen, ob alles richtig dargestellt ist, ob Beschreibungen und Zusammenhänge, historische Tatsachen, Daten und Personen stimmen – oder ob Ihnen irgendwo Fehler unterlaufen sind.

Es gibt Fehler? Dann müssen Sie die beanstandeten Punkte im Text überarbeiten und das Ergebnis noch einmal vorlegen. Sie sollten erst dann zum nächsten Schritt übergehen, wenn die Experten grünes Licht gegeben haben.

Schritt drei: TestleserInnen
Geben Sie Ihre Geschichte als Nächstes TestleserInnen, die nicht vom Fach sind. TestleserInnen lernen Sie im Laufe der Zeit bei Seminaren und Workshops kennen oder etwas schneller über Leute wie mich oder über facebook oder natürlich über die Autorenwelt (www.autorenwelt.de). Gute TestleserInnen sind übrigens Studenten, die das Berufsziel haben, einmal in einem Verlag zu arbeiten. (Tipp: Die meisten Unis haben Internetseiten oder Schwarze Bretter für Studentenjobs – auch hier hilft Ihnen die Fachschaft.)

Diese TestleserInnen fragen Sie, ob der Text noch lesbar ist – oder ob sie sich an der einen oder anderen Stelle mehr Informationen gewünscht hätten, um den Inhalt besser zu verstehen.

So, und nun kommt die große Überraschung: Viele TestleserInnen kommen erfahrungsgemäß mit den schlanken Texten bestens zurecht und vermissen die Erklärungen gar nicht.

Die Leute verstehen das alles, weil Sie als AutorIn im Idealfall gut recherchiert haben und mit diesem Wissen im Hinterkopf Szenen entwickeln konnten, die aus sich selbst heraus verständlich sind. (Siehe hierzu auch Punkt 2. →Lohnt sich Recherche? – Die Vor- und Nachteile.)

Verstehen Ihre TestleserInnen den Text an einigen Stellen nicht, dann müssen Sie an diesen Stellen (und eben nur da!) mehr Erklärungen einfügen. Auf diese Weise finden Sie exakt heraus, wie viele Informationen Ihre Geschichte braucht, was zu viel und was zu wenig ist.

Vorteil:
Das Verfahren ist narrensicher, und Sie haben am Ende die Gewissheit: Die Informationen sind korrekt (Schritt zwei) und richtig dosiert (Schritt drei). Je mehr Experten und TestleserInnen mitmachen, desto besser.

Nachteil:
Das Ganze ist aufwendig – und Sie müssen es nach einer größeren Überarbeitung Ihres Textes gegebenenfalls sogar noch einmal wiederholen. In diesem Falle können Sie Ihr Skript nicht mehrmals hintereinander ein- und demselben Testleser geben, weil der Ihre Geschichte dann einfach schon zu gut kennt. Sie brauchen also einen größeren Pool von TesterInnen, auf den Sie zurückgreifen können. Dienstleister wie ich organisieren das alles gerne, aber das kostet dann natürlich Geld.

Jetzt bleibt nur noch eine ganz praktische Frage:

 

7. Wohin mit den ganzen Informationen?

a) Einstreuen
Viele AutorInnen nutzen ruhigere Momente in ihren Geschichten, um das recherchierte Wissen etwas ausführlicher auszubreiten – und verzichten in temporeichen Szenen komplett darauf.

Vorteil:
Diese Informationshäppchen kann man sehr fein dosieren. Das ist auch nötig, denn erfahrungsgemäß wollen LeserInnen (besonders wenn sie ganz in die Geschichte eingetaucht sind), nicht mehr durch allzu viele Erklärungen herausgerissen werden.

Nachteile:
In der Praxis sind solche Häppchen oft nicht servierbar. Einerseits weil die LeserInnen an einer ganz bestimmten Textstelle die vollständigen Informationen brauchen – und dann muss bis dahin alles geliefert werden. Wenn man Pech hat, ist das schon recht früh in der Geschichte und man hat gar keinen Platz, vorher alles in kleinen Portionen einzubauen.

Vor allem aber passt es nicht mehr zu den heutigen Lesegewohnheiten. Nur wenige LeserInnen haben die Zeit, ein Buch in einem Rutsch durchzulesen. Sie lesen es Stück für Stück über einen langen Zeitraum verteilt – daher haben sie viele Detailinformationen oft schon vergessen, wenn sie dann irgendwann an der Textstelle angelangt sind, für deren Verständnis sie diese Details brauchen. Wenn sie dann zurückblättern, um die Information noch einmal zu lesen, finden sie oft die gesuchte Passage nicht mehr wieder.

Dazu kommt das Grundproblem, dass in den Haupttext eingearbeitete Erklärungen auch von denen gelesen werden müssen, die sich auskennen. LeserInnen, die eine Schwäche für ein bestimmtes Genre oder Thema haben, lesen ja nicht nur Ihr Buch. – Oft kennen sich Fans daher sehr gut aus. Römer-Fans gähnen, wenn ihnen schon wieder jemand erklären will, was eine Hypocaust-Anlage ist **, und Krimifans sind genervt, wenn sie zum x-ten Mal lesen müssen, was ein Paraffintest ist ***.

** römische Fußboden- und Wand-Heizung
*** dient dem Nachweis von Schmauchspuren an der Hand nach dem Gebrauch einer Schusswaffe.

b) Fußnoten
Eine gute Alternative ist der traditionelle Weg, Informationen als Fußnoten unten auf der Seite einzufügen. Das hat zwei Vorteile: Wenn die LeserInnen sie nicht brauchen, können sie sie ohne Mühe überspringen. Wenn die LeserInnen sie später noch einmal lesen möchten, dann finden sie die gewünschte Fußnote in aller Regel nach etwas Blättern schnell wieder, schon alleine wegen der optischen Trennung vom Haupttext.

c) Nachwort
In einem Nachwort und/oder Anhang können Sie alles nachreichen und erklären, was Sie in 6. b (Schritt eins) weggelassen haben – und zwar so ausführlich, wie Sie wollen. (In Josh Bazells „Einmal durch die Hölle und zurück“ ist der Anhang 56 Seiten lang!) Schreiben Sie ruhig, was Sie vereinfacht haben, was erfunden und was wahr ist und welche Quellen Sie benutzt haben.

„Der Medicus“ und „Tage des Seth“ enthalten ein Nachwort und ein kleines Fachwort-Lexikon, in dem man alle wichtigen Informationen gebündelt vorfindet. Die interessierten LeserInnen werden es Ihnen danken. Apropos: Natürlich sollten Sie auch allen danken, die Ihnen geholfen haben – kleine Geschenke erhalten die Freundschaft (siehe 3.a: → Experten).

Nachwort und Anhang aus „Tage des Seth“ von Judith Mathes empfinde ich übrigens als vorbildlich. Die Autorin hat alle historischen Personen mit einem Sternchen markiert. Im Nachwort erklärt sie, welche Hauptquellen sie benutzt hat, und erläutert die wichtigsten Fachbegriffe.

 

8. Schlussbemerkung

Die LeserInnen bezahlen für Ihre Geschichte. Geben Sie ihnen für das Geld etwas zurück. Teilen Sie Ihr Wissen. Das ist das schönste Geschenk, das Sie Ihren LeserInnen machen können.

Niels Kolditz: www.Lektorat-und-Recherche.de

In FEDERWELT, Heft Nr. 111 April/Mai 2015

 

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Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 111, April 2015: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-22015
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