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Biografie-Arbeit als Hilfe bei der Stoffsuche

Federwelt
Michaela Frölich
Bild zum Thema Biografie-Arbeit als Hilfe bei der Stoffsuche

Sie können eine Geschichte erfinden – von A bis Z. Sie können aber auch die fiktiven Inhalte mit wahren Begebenheiten aus Ihrem Leben anreichern. Obendrein vermögen bedeutsame Momente aus Ihrer Biografie Impulse sein für Ihre nächsten Kurzgeschichten oder Romane.

Jedes Leben ist einzigartig
Bei meiner Arbeit als Biografin und Leiterin von autobiografischen Schreibgruppen durfte ich unzähligen Lebensmomenten zuhören, die so wunderbar oder aufrüttelnd waren, dass sie Stoff für eine oder auch mehrere Geschichten geworden sind – autobiografisch oder fiktiv. (1) Wenn Sie auf Ihr eigenes Leben zurückblicken, auf Glückserlebnisse oder Krisen, auf menschliche Begegnungen, die Raum und Zeit anzuhalten schienen, dann haben auch Sie Stoff wie Sand am Meer, um Ihr nächstes Schreibprojekt zu starten.

Lebensmomente – Wie kann ich mich gezielt erinnern?
Besonders geeignet als literarische Motive sind Wendepunkte: Dort, wo sich das Leben zum Guten wendet. Aber auch die Momente, in denen es aus der gewohnten Bahn gerät und das „Schicksal“ die Regie übernimmt. Marksteine können sein: der Tod eines Familienmitgliedes, das Kennenlernen des Lebenspartners, ein Wohnortwechsel und vieles mehr. Um sich dieser Wendepunkte zu erinnern, schlage ich eine Methode aus der Biografie-Arbeit vor.

 

Die „biografische Kurve“

Material: ein langes Seil oder ein Wollfaden, einige Steine, ein „Hafties“-Block und ein Stift.

Vorgehen:

  1. Bestimmen Sie zuerst eine neutrale Linie, die mittig horizontal auf Ihrem Tisch verläuft. Auf der linken Seite liegt der Zeitpunkt Ihrer Geburt, auf der rechten Seite die Gegenwart.
  2. Erinnern Sie sich nun an all Ihre Erfolge und Glücksmomente und legen Sie oberhalb der horizontalen Linie für jeden Höhepunkt einen Stein auf den Tisch. Gehen Sie dabei chronologisch vor. Je näher die Ereignisse an die Gegenwart heranreichen, desto weiter rechts liegen die Steine. Zur Orientierung kleben Sie neben jeden Stein einen „Haftie“ und notieren darauf, was sich damals ereignet hat.
  3. Jetzt kommen die eher unangenehmen Ereignisse in Ihrem Leben dran: Welche Krisen, Verluste, Niederlagen haben Sie erlitten? Nehmen Sie weitere Steine zur Hand und positionieren Sie diese chronologisch von links nach rechts unterhalb der horizontalen Mittellinie. Beschriften Sie wieder die „Hafties“ und kleben Sie diese zu jedem Tiefpunkt.
  4. Wenn Sie jetzt Ihr Seil von einem Stein zum anderen ziehen, werden Sie eine Kurve sehen, die sich abwechselnd von unten nach oben und umgekehrt über den Tisch zieht: Ihre Lebenskurve. Selten zeigt sich eine überwiegend an- oder absteigende Kurve, sondern meist ein kontinuierliches Auf und Ab. Jeder Stein, an dem sich die Richtung ändert, kann Kern einer Geschichte werden.
  5. Wählen Sie einen der Steine, das heißt einen der Höhe- oder Tiefpunkte, exemplarisch aus und reflektieren Sie: Was ereignete sich zu diesem Zeitpunkt? Erinnern Sie sich weiter: Was war kurz vorher, was kurz danach? Welche förderlichen, welche hemmenden Einflüsse gab es? Wer stützte, tröstete und begleitete? Wer verletzte oder behinderte Sie? Und: Wie sehen Sie das heute aus der Distanz? Welche Erfahrungen gewannen Sie, als Sie das Ereignis durchlebten?

Mit diesen Erinnerungen und Erkenntnissen haben Sie die Essenz und auch eine erste Struktur für eine berührende Geschichte geborgen. Dabei kann alles, was sich vor dem Wendepunkt ereignete, für eine in Etappen ansteigende Spannungskurve verwendet werden: alle Ahnungen, Wirrungen, Hindernisse, vorübergehende Verschlimmerungen oder Erleichterungen. Der Wendepunkt ist ihr literarischer Höhepunkt. Mit einem kurzen Ausblick, was danach noch geschah, können Sie Ihre Geschichte fertigstellen.

Der Lebensbaum

Eine weitere Möglichkeit, Themen auf die Spur zu kommen, die Ihr Leben bestimmt haben, ist der „Lebensbaum“.

Material: ein großes Blatt Papier und möglichst verschiedenfarbige Buntstifte.

Vorgehen:

  1. Skizzieren Sie als Grundstruktur einen Baumstamm und malen Sie mehrere dicke Äste daran. Jeder Ast steht für einen Lebensbereich, zum Beispiel für: „Familie“, „Freunde“, „Wohnorte“, „Ausbildung/Beruf“, „Reisen“, „Talente“, „Krankheiten“, „Spiritualität/Lebensphilosophien/Religion“. Bestimmt fallen Ihnen noch weitere Bereiche ein.
  2. Ist die Grundstruktur angelegt, zeichnen Sie an jeden Ast mehrere Zweige. Die Zweige beschriften Sie mit Ihren persönlichen Angaben. So gibt es am Ast der Freunde für jeden Kindergartenfreund einen Zweig, zum Beispiel „Bastian“ und „Clemens“, in der Schulzeit kam der „Leonard“ dazu, später die „Heide“ und heute sind Sie vielleicht mit „Peter“ und „Elke“ befreundet. Die frühen Bekanntschaften wachsen in der Nähe des Stammes, die aktuellen an den äußeren Spitzen der Äste. Verfahren Sie an jedem Ast genauso und verschaffen Sie sich so einen Überblick über alle wichtigen Menschen, Orte, Talente et cetera in Ihrem Leben.
  3. Sind Sie fertig, können Sie Ihren Baum betrachten und überlegen, welche Äste besonders viele Blätter oder auch Früchte tragen und welche möglicherweise verkümmert sind. Vielleicht möchten Sie den Baum auch beschneiden, einzelne Äste abtrennen oder kürzen, um anderen mehr Platz zu verschaffen? Was wird Ihnen bewusst, wenn Sie Ihren Baum aus der Distanz sehen? Welche Lebensbereiche interessieren Sie besonders, welche Lebensbereiche beeinflussten sich günstig oder behinderten sich vielleicht? Was davon könnte der Stoff für eine Geschichte sein?

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Im Mittelpunkt von Biografiearbeit stehen der Mensch und seine persönlichen Lebenserfahrungen. Ziel ist es, das Leben im Rückblick zu verstehen, die Erfahrungen in der Gegenwart umzusetzen und daraus Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Somit blicken Sie nicht nur auf Ihr Leben zurück, sondern beziehen Ihre Erinnerungen auf Ihr jetziges Leben. Sicher sind manche Lebensgeschichten in sich bereits sehr lustig, berührend oder hochspannend und lohnen, aufgeschrieben zu werden. Besonders tiefschichtig sind jedoch die Erlebnisse, an denen Sie gewachsen sind, die weitreichende Erkenntnisse brachten. Das sind Ihre Erfahrungsschätze: Lebensereignisse, die in der Erinnerung wie funkelnde Edelsteine behütet werden und die auch gerne gezeigt werden, damit andere daraus lernen, sich daran erfreuen können.

Musste Peter zum Beispiel in seinem Leben häufig umziehen, lernte er, sich von liebgewonnenen Freunden zu trennen, sich am nächsten Wohnort aber auch für neue Bekanntschaften zu öffnen, wurde kontaktfreudig. So schmerzhaft es war, sich von einem Freund zu trennen, so wertvoll wird es sein zu erkennen, dass man neue Freunde finden kann. Steht bei Peter wieder eine Veränderung an, im Beruf oder auch in der Familie, kann sein Erfahrungsschatz lauten: „Ich bin nie allein“ oder „Geht eine Tür zu, öffnet sich eine nächste!“

Erfahrungsschätze bereichern: Reflektiere ich, wie ich früher Entscheidungen traf, Herausforderungen bewältigte oder meine Ziele erreichte, sehe ich klarer vor mir, wie ich meine Gegenwart positiv beeinflussen kann. Ich weiß, dass ich mein Leben mitgestalten kann. Daher blicke ich in meinen Seminaren zum autobiografischen Schreiben nicht nur auf gelebtes Leben zurück, sondern animiere die TeilnehmerInnen, auch einen Blick in die Zukunft zu wagen. Zum Beispiel mit Hilfe des „Lebensbaumes“, indem man zwei weitere Äste anlegt. Diese widmen sich „Wünschen“ und auch „offenen Angelegenheiten“. Was wünscht man sich, welche Dinge müssen noch geklärt werden?

Dass, was Sie sich noch wünschen, können Sie Ihren Figuren einflüstern. Beobachten Sie schreibend, wie Ihre Protagonisten ans Ziel kommen.

Grenzen von Biografie = Stoff
Ungeeignet für die Stoffsuche im eigenen Leben sind Traumata, schmerzhafte Erlebnisse der jüngeren Vergangenheit oder ungelöste Lebensprobleme. Um eine schmerzhafte Erfahrung aufzuschreiben, ist Distanz zum Geschehen notwendig. Jedes nicht verarbeitete, zu früh erinnerte Trauma kann bewirken, dass die damit verbundenen Gefühle reaktiviert werden und den Traumatisierten erneut überwältigen. Das heißt nicht, dass ein Trauma in Ihrem Leben nicht Stoff für einen Roman werden könnte, aber eben erst dann, wenn Sie stabil genug sind und über wirksame Ressourcen zur Krisenbewältigung verfügen. Hierbei kann Poesietherapie ambulant oder stationär unterstützen. (3) Auch das Schreiben von Morgenseiten oder eines Tagebuches hilft, emotionale Belastungen abzubauen und zu lindern. (4) Philosophisches Schreiben ist ein weiterer Weg, Licht in innere Dunkelheit zu bringen und unbewusste Ängste oder Grundprobleme besser zu verstehen. (5) Die Erkenntnisse, die der Autor bei dieser „autobiografischen“ Schreibarbeit gewinnt, bieten Hintergrund und roten Faden für besinnliche und berührende Geschichten.

Biografische Themen – Erfahrungsschätze

Überwundene Krisen
Gemeisterte Krisen sind Lebensschätze. Es lohnt sich, diese in eine Geschichte einzuarbeiten. Im letzten Jahr begleitete ich eine Frau beim Aufschreiben ihrer Autobiografie. Sie hatte in ihrem Leben viel Kraft aus ihrem christlichen Glauben gezogen. Ihr Glaube hatte verhindert, dass sie in ausweglos scheinenden Situationen aufgab, und bewirkt, dass sie mutig immer wieder aktiv geworden ist. Obwohl ihre Glaubenserlebnisse von Kindesbeinen an nicht das vordergründige Thema ihrer Lebensbeschreibung sind, lässt sie diese Glaubensschätze kontinuierlich einfließen. Sie bilden den roten Faden ihrer Autobiografie.

Da jeder Mensch seine eigenen Praktiken entwickelt, mit Schwierigkeiten umzugehen, lohnt sich der reflektierende Blick darauf: Wie haben Sie persönlich heikle Situationen durchschifft und was war damals Ihr Leuchtturm? Wer ermunterte Sie, nicht aufzugeben? Wann durchschritten Sie Ihre letzte Talsohle und welchen seelischen „Proviant“ trugen Sie in Ihrem Lebensrucksack? Ich bin sicher, dass diese Erkenntnisse, Motiv und/oder roter Faden für ein Schreibprojekt werden können.

Weitere Anregungen, seinen Lebensschätzen auf die Spur zu kommen, bietet das Methodenbuch „Biografiearbeit mit Glaubensschätzen“. (5)

Entscheidungen fürs Leben
Bestimmt mussten auch Sie sich bereits für oder gegen etwas entscheiden, was Ihr Leben danach existenziell beeinflusste. Manchmal dachten Sie im Nachhinein vielleicht, alles hätte anders verlaufen können, hätten Sie sich entgegengesetzt entschieden. Jetzt können Sie sich überlegen und ausmalen, wie Ihr Leben weitergegangen wäre, hätten Sie einen anderen Weg gewählt. In Ihrem Schreibprojekt mixen Sie nun Reales und Fiktion. Erzählen Sie die Geschehnisse bis zum entscheidenden Tag autobiografisch und führen Sie Ihre Geschichte ab dann fiktiv fort – erfinden Sie den Fortgang Ihres Erlebnisses neu und so, wie Sie es sich gewünscht hätten. Auch das Gegenteil ist möglich: Sie fühlen, das Sie damals das einzig Richtige getan haben. Was wäre passiert, wenn Sie sich anders verhalten hätten? Schalten Sie Ihr Kopf-Kino ein: Was hätte schiefgehen können? Bannen Sie Ihre Fantasien aufs Papier.

Begegnungen
Auch Menschen, die Ihnen begegnet sind, können als Bild für fiktive Figuren dienen. In jeder Lebensphase finden sich Weggefährten, die auf die persönliche Entwicklung einwirken: Da gibt es zum Beispiel den Lehrer, der den Jugendlichen in seinem Wesen erkannte und förderte, die Arbeitskollegin, die zur Freundin wurde, oder den besten Freund, der die Lebensgefährtin ausspannte.

Orte
Und was spricht dagegen, sich in einer Lebensrückschau besonders schöner oder auch gruseliger Orte zu erinnern? Schließen Sie dabei die Augen und beschreiben Sie, was sie sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. Was hat dieser Ort bereits alles erlebt? Am besten imaginieren Sie Ihre Orte direkt, bevor sie einschlafen. Vielleicht beschert Ihnen die folgende Nacht einen Traum, den Sie am nächsten, übernächsten und überübernächsten Tag zu einer Geschichte verarbeiten können.

Ihr Leben bietet Stoff in Fülle – erinnern Sie sich einfach.

Michaela Frölich im Internet: www.schreibatelier-froelich.de

(1) Michaela Frölich (Hrsg.): Beziehungen. Autobiografische Kurzgeschichten. Privatdruck, Michaela Frölich (Nur direkt über Frau Frölich zu beziehen.)
(2) Silke Heimes: Kreatives und therapeutisches Scheiben. Ein Arbeitsbuch. Vandenhoeck & Ruprecht
(3) James W. Pennebaker: Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe. Verlag Hans Huber
(4) Lutz von Werder: Beklage dich nicht – philosophiere. Schibri Verlag; Lutz von Werder: Ängstige Dich nicht – schreibe! Schibri Verlag
(5) Michaela Frölich und Barbara Hedtmann: Biografiearbeit mit Glaubensschätzen. Vandenhoeck & Ruprecht

 

Bild: © Michaela Frölich

In FEDERWELT: Heft 113, August/September 2015

 

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