
Die Stadtbücherei Münster darf nun doch keine Einordnungshinweise bei Büchern anbringen, die gesicherte historische Ereignisse leugnen und sich dabei auf die Meinungsfreiheit berufen. Das hat das Oberverwaltungsgericht NRW entschieden. Es hob damit das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster auf. Der Bibliotheksverband reagiert darauf mit einer Stellungnahme und möchte, dass die Landesbibliotheksgesetze zukunftsfähig gemacht werden.
In unserer Branchennews »Werk mit umstrittenem Inhalt« – Büchereien unterliegen keiner Neutralitätspflicht vom 25.04.2025 hatten wir über den Rechtsstreit zwischen der Stadtbücherei Münster und einem Autor berichtet.
Nutzer*innen der Bibliothek hatten sich über ein Buch beschwert, in dem der Autor gesicherte historische Ereignisse leugnete wie die Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki oder die bemannten Mondlandungen. Die Bücherei hatte das Buch daraufhin mit einem Einordnungshinweis versehen. Das wollte der Autor des Buches nicht hinnehmen und hatte sich ans Gericht gewandt. Das Verwaltungsgericht Münster hatte der Bücherei recht gegeben. Die Begründung: Büchereien müssten sich Büchern gegenüber nicht neutral verhalten. Sie dürfen ihre Besucherinnen und Besucher darauf hinweisen, wie ein Buch eingeordnet werden kann. Ein solcher Einordnungshinweis verletze nicht die Grundrechte des Autors des Buchs.
Urteil vom Oberverwaltungsgericht zum Thema Einordnungshinweise
Dieses Urteil wurde nun vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen aufgehoben. Hier die Begründung an die Presse:
08.07.2025: Einordnungshinweis der Stadtbücherei Münster muss entfernt werden
Die Stadt Münster hat den Einordnungshinweis „Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt.“, der in den beiden Exemplaren eines in der Stadtbücherei vorgehaltenen Buchs angebracht ist, zu entfernen. Dies hat das Oberverwaltungsgericht heute entschieden und dem Eilantrag des Autors insoweit stattgegeben. Seine Beschwerde gegen einen anderslautenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster hatte damit Erfolg.
Zur Begründung hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts im Wesentlichen ausgeführt:
Der Einordnungshinweis verletzt den Autor in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit sowie in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Im Buch enthaltene Meinungen werden durch den Hinweis negativ konnotiert und ein potentieller Leser könnte von der Lektüre abgehalten werden. Diese Grundrechtseingriffe sind nicht gerechtfertigt, weil sie nicht von der Aufgabenzuweisung im Kulturgesetzbuch NRW gedeckt sind. Zwar mag der Stadtbücherei das Absehen von der Anschaffung des Buches freigestanden haben. Aus den den öffentlichen Bibliotheken vom Gesetzgeber zugewiesenen Kultur- und Bildungsaufgaben ergibt sich jedoch keine Befugnis zur negativen Bewertung von Medien im Bestand der Bibliothek in Form eines Einordnungshinweises. Vielmehr liegt der Fokus der gesetzlichen Regelungen darauf, den Nutzerinnen und Nutzern der Bibliothek als mündigen Staatsbürgern eine selbstbestimmte und ungehinderte Information zu ermöglichen und sich – ohne insoweit gelenkt zu werden – dadurch eine eigene Meinung zu bilden.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Aktenzeichen: 5 B 451/25 (I. Instanz: VG Münster 1 L 59/25)
Der Deutsche Bibliotheksverbandes e.V. (dbv) reagierte auf dieses Gerichtsurteil am 17. Juli 2025 mit einer Stellungnahme. Das neue Urteil stifte Unklarheit und werfe mehr Fragen auf als es klären würde. Etwa: „Sind thematische Präsentationen und Ausstellungen, kuratierte Büchertische, Autorenlesungen oder Faktenchecks bereits unzulässig? Und sind Leseempfehlungen von Bibliothekar*innen schon die Lenkung von Meinungen?“ Es müsse Bibliotheken – gerade in der heutigen Zeit – möglich sein, auf Fake News und Desinformation hinzuweisen. Dafür müssten die Landesbibliotheksgesetze entsprechend angepasst werden.
Stellungnahme des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv)
17.07.2025
Stellungnahme des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv)
zum Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes Münster vom 8. Juli 2025 zum Umgang mit umstrittenen Medien durch BibliothekenDie Stadtbücherei Münster hat 2024 im Umgang mit umstrittenen Werken eine transparente und verantwortungsbewusste Vorgehensweise entwickelt. Sie hat Sachbuchtitel mit fragwürdiger Faktengrundlage in den Bestand aufgenommen, um ein Angebot bereitzuhalten, das den Pluralismus an Meinungen und Perspektiven abbildet. Gleichzeitig war es ihr Anliegen, Leser*innen für die fragwürdige Datengrundlage zu sensibilisieren. Daher wurden zwei Bücher mit Einordnungshinweisen versehen: „Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt.“
Dagegen beantragte ein betroffener Autor beim Verwaltungsgericht Münster eine einstweilige Anordnung. Das Verwaltungsgericht wies mit seiner Entscheidung vom 11. April 2025 den Antrag ab (Az. 1 L 59/25). Nach dem Kulturgesetzbuch des Landes Nordrhein-Westfalen seien Bibliotheken Bildungseinrichtungen und damit zu einem solchen Vorgehen berechtigt. Das Gericht rekurriert auch auf eine Entscheidung (17. August 2010, Az. 1 BvR 2585/06), wonach staatliche Bildungseinrichtungen nicht alle Meinungen formal gleich behandeln müssten.
Der Beschwerde gegen diese Entscheidung hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen am 8. Juli stattgegeben (Az. 5 B 451/25). Der Einordnungshinweis verletze die Meinungsfreiheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Autors. „Diese Grundrechtseingriffe sind nicht gerechtfertigt, weil sie nicht von der Aufgabenzuweisung im Kulturgesetzbuch NRW gedeckt sind." Die Stadtbücherei Münster hat daraufhin die Aufkleber aus den Büchern entfernt.
Rechtliche Rahmenbedingungen den aktuellen Anforderungen anpassen
Kernaufgabe von Bibliotheken ist es, freien Zugang zu Informationen anzubieten, auch wenn diese für einzelne Personen oder gesellschaftliche Gruppen inakzeptabel erscheinen. Bibliotheken ermöglichen so Meinungsbildung und -vielfalt. Bibliotheken arbeiten im rechtlichen Rahmen unabhängig und entscheiden nach fachlichen Gesichtspunkten über Auswahl, Erwerb, den Umgang und die Verbreitung von Informationen.
Mit diesem Auftrag sehen sich Bibliotheken mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Gesellschaftliche Debatten werden häufiger in einem aufgeheizten Klima ausgetragen. Gleichzeitig wächst die Herausforderung für Bürger*innen allen Alters, mit Fake News umgehen und Desinformationsversuche erkennen zu können. Auch die neue Bundesregierung hat mit ihrem Koalitionsvertrag die Bekämpfung von Desinformation direkt adressiert. Die Kontextualisierung von Informationen und Angebote zum Erwerb von Informationskompetenz sind Antworten auf diese Herausforderungen. Die kritische Auseinandersetzung mit Inhalten und die Fähigkeit zur Validierung von Informationen wird so gefördert.
Aus Sicht des Deutschen Bibliotheksverbandes e.V. (dbv) ist der Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes ein Rückschritt für die Entwicklung eines angemessenen rechtlichen Rahmens für die Arbeit von Bibliotheken: Erstens wird der Auftrag von Bibliotheken im Kulturgesetzbuch NRW sehr eng gefasst. Zweitens macht der Beschluss deutlich, dass Bibliotheken für ihre Arbeit nicht über rechtliche Rahmenbedingungen verfügen, die auf der Höhe der Zeit sind.
Beschluss widersprüchlich: Wertungsfreie Informationsangebote gibt es nicht
Die Förderung von Medien- und Informationskompetenz gehört nach dem Kulturgesetzbuch NRW (§47,2) zu den Aufgaben von Bibliotheken. Das impliziert in einer auch von Fake-News und Desinformation geprägten Wirklichkeit die Fähigkeit, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und zu untersuchen. Völlig unklar ist, wie das gehen soll, wenn Bibliotheken Informationen nicht einordnen und kontextualisieren dürfen. Der Beschluss wirft damit mehr Fragen auf als er klärt. Sind thematische Präsentationen und Ausstellungen, kuratierte Büchertische, Autorenlesungen oder Faktenchecks bereits unzulässig? Und sind Leseempfehlungen von Bibliothekar*innen schon die Lenkung von Meinungen? Der Beschluss stiftet so Unklarheit im Mandat von Bibliotheken, die vormals durch das Kulturgesetzbuch in der Praxis geklärt schien. Er schafft einen Widerspruch zwischen dem Auftrag von Bibliotheken und den Maßnahmen, zu denen sie berechtigt sind.
Rechtliche Rahmenbedingungen durch Landesbibliotheksgesetze zukunftsfähig weiterentwickeln
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts zeigt deutlich: Die geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen halten mit den gesellschaftlichen Herausforderungen und der zeitgemäßen Rolle von Bibliotheken nicht Schritt. Der dbv mahnt daher an, dass Bibliotheken einen rechtssicheren Rahmen benötigen, der sie in ihrem öffentlichen Auftrag stärkt, insbesondere auch, um auf Desinformationen aufmerksam machen und medienkritische Kompetenzen fördern zu können. Bibliotheken stellen nicht nur passiv Informationen zur Verfügung. Im Gegenteil – sie tragen aktiv dazu bei, Orientierungshilfen im überbordenden Medienangebot unserer Zeit zu ermöglichen. Ein moderner Bibliotheksauftrag umfasst auch die Einordnung, Kontextualisierung und Förderung von Medien- und Informationskompetenz. Landesbibliotheksgesetze können hier entscheidende Klarheit schaffen.
Der dbv fordert die Bundesländer daher auf, die entstandene Unklarheit auf rechtlicher Ebene durch ein eindeutiges und robustes Mandat zu klären. In Landesbibliotheksgesetzen muss die Förderung von Medien- und Informationskompetenz, die Möglichkeiten zur Kontextualisierung sowie die Bekämpfung von Desinformationen durch Bibliotheken rechtlich abgesichert werden.
Auswahl der Bücher obliegt den öffentlichen Bibliotheken
In § 48 des Kulturgesetzbuchs für das Land Nordrhein-Westfalen heißt es allerdings auch:
(4) Öffentliche Bibliotheken leisten durch ein fachlich kuratiertes Informationsangebot einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Informationsfreiheit. Daher sind sie bei der Auswahl ihrer Medien unabhängig und an Weisungen nicht gebunden.
(5) Öffentliche Bibliotheken sind unter Beachtung des Hausrechts und im Rahmen der Benutzungsregelungen ihrer Träger frei zugänglich. Sie ermöglichen Nutzerinnen und Nutzern einen niedrigschwelligen und ungehinderten Zugang zu Informationen und tragen so wesentlich zur Vermittlung von allgemeiner, interkultureller und staatsbürgerlicher Bildung bei. Zudem ermöglichen und unterstützen sie die demokratische Willensbildung und gleichberechtigte Teilhabe sowie die gesellschaftliche Integration.
Die Auswahl der Bücher obliegt mithin den öffentlichen Bibliotheken. Bücher, die Desinformation verbreiten, müssen Bibliothekar*innen nicht einkaufen. Dann erübrigen sich Einordnungshinweise.
Siehe hierzu auch diesen Beitrag: Kulturkampf von rechts – Bibliotheken gegen Rechtsextremismus und für Demokratie
Blogbild: Foto: Sang Hyun Cho, Pixabay