
Waldscheidt bioaktiv:
Auf der Jagd nach dem politisch korrekten Buch
Neulich bei Alnatura fielen mir im Weinregal Flaschen auf, unter denen der Vermerk „vegan“ zu lesen war. Einem Mitarbeiter gegenüber gab ich meiner Verwunderung über das „vegan“ Ausdruck und lächelte ihm verschwörerisch zu, nach dem Motto: Darf man nicht alles ernst nehmen, was die Ökos tun. Seine Erklärung aber gab mir zu denken: „Reben werden häufig mit Eierschalen gedüngt. Bei veganem Wein verzichtet man darauf.“
Nachdem ich den Laden verlassen hatte, beschloss ich, mein Leben zu ändern. Wein hatte ich keinen gekauft.
Mein Leben? Sind Bücher! Auf den ersten Blick erscheint das Buch als Gegenstand ökologisch, moralisch, politisch und sozial korrekt: Ein Buch ist vegan, laktose- und glutenfrei. Es produziert keine Schadstoffe, wird nicht in Kinderarbeit hergestellt (auch wenn man das manhmal glauben könnte, wenn man sieht, was in einem Verlag so läuft) und lässt sich von Schwulen und Lesben ebenso gerne lesen wie von Christen oder Muslimen. Das Papier stammt aus heimischer Produktion, Wald haben wir genug. Schließlich ist ein Buch („das Buch“) genderneutral.
Aber stimmt das alles tatsächlich? Ich machte mich auf die Suche.
Hallo? Hasenleim?
Wikipedia gibt schonungslos Auskunft: „Haut- und Hasenleim werden in der Papierverarbeitung, insbesondere beim handwerklichen Buchbinden und der Restaurierung alter Bücher verwendet.“ Hasenleim! Großäugige Feldhasenbabys werden zu Knochenmehl und Tränen zermahlen, damit Vera und Franzi sich beim Sonnenbaden nicht langweilen. Schaudert es Sie auch?
Damit nicht genug. Papier ist potenziell gesundheitsgefährdend, denn es enthält Füllstoffe, um die Opazität zu erhöhen. Ein wichtiger Füllstoff ist Kreide. Wikipedia: „Kreide ist ein feines, mikrokristallines Sedimentgestein, das durch Ablagerung von [...] gefälltem Calcit sowie der aragonitischen Schalen von fossilen Kleinlebewesen, wie Coccolithen der Coccolithophoriden und Schalen der Foraminiferen, entstanden ist.“ Nicht genug, dass man die Totenruhe dieser unaussprechlichen Kleinlebewesen stört – viele Menschen sind gegen Schalentiere wie Muscheln (Schale aus Kreide!) allergisch. Die Folge: ein anaphylaktischer Schock beim Schmökern von „Charlotte Link“.
Tausendmal tödlicher als Toastbrot: Papier
In der Broschüre „So entsteht Qualitätspapier“ vom Hersteller UPM lese ich: „Bindemittel wie Stärke und Latex sorgen für die richtige Festigkeit und Farbaufnahme.“
Stärke? Alle Zöliakiker stöhnen auf. Stärke ist Weizenstärke ist Gluten ist ... Verderben. Natürlich könnte man sagen, hör mal, Waldscheidt, wir lesen die Bücher, wir essen sie nicht. Das nutzt gar nichts!
Latex ist kein bisschen harmloser. Gibt es noch einen Menschen da draußen, der nicht gegen Latex allergisch ist? Auch wer bislang glaubte, zur Verhütung ein zusammengerolltes und zurechtgefaltetes Blatt aus einem Emmanuelle-Roman verwenden zu können, sollte jetzt umdenken. Und ein Extragruß an unsere Kolophoniumallergiker!*
Hinzu kommen die Folgen der Papierproduktion. Eine davon: Stickstoffdioxid! Jedes Ihrer Bücherregale ist für den Park vor Ihrer Tür und die Kinder in Ihren Wiegen so tödlich wie ein VW Passat Diesel mit Betrugssoftware.
Papier aus heimischer Produktion? Von wegen: „Wurden früher fast ausschließlich Langfasern, wie sie [...] in der heimischen Fichte vorkommen, zur Papierherstellung eingesetzt, so werden jetzt immer häufiger Kurzfasern verwendet, die überwiegend aus schnell wachsenden südlichen Eukalyptus-Plantagen kommen.“ (Papier aus Österreich, Jahresbericht 2013). Südliche Eukalyptus-Plantagen? Wer denkt da nicht an Ausbeutung und Sklaverei? An Arbeitsplätze, die in Deutschland wegfallen? An Schlangen vor den heimischen Arbeitsämtern und Bedürftigentafeln? An Rechtsradikale an der Regierung? Das vermeintlich so liberale, weltoffene Buch fördert hinterrücks den Auftrieb nationalsozialistischer Gesinnung! (Stopp! Verbrennen Sie deswegen nicht gleich Ihre Bibliothek! Das setzt noch mehr Stickoxid frei.)
Aber, allgemeines Aufatmen, wenigstens ist das Buch als Neutrum kein Grund, die Gräben zwischen bewegten Frauen und betonköpfigen Herren tiefer aufzureißen. Ha! Kluges Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache macht unter „Buch“ deutlich: „Auszugehen ist ersichtlich von einem femininen Wurzelnomen mit der Bedeutung ‚Buchstabe‘.“ Weiter heißt es: „ [...] die altnordische Bedeutung ‚gesticktes Kissen‘ [...]“ – Gesticktes Kissen und ein feminines Wurzelnomen? Da wird den Frauen wieder mal eins der ältesten Klischees angehängt. Bücher sind Chauvis wie sie im, äh, Buche stehen!
Korrekte Kartoffeln? Keine Chance!
Bücher als Gegenstände mögen schlimmer sein als das AKW von Fukushima. Den Inhalt aber, den kann man fair, gerecht und politisch korrekt gestalten. Dazu habe ich mein aktuelles Romanmanuskript durchforstet und gestrichen, was frauenverachtend, menschenentwürdigend, beleidigend, jugendgefährdend, wirtschaftsliberal, politisch unkorrekt, ideologisch verfärbt, blasphemisch, rassistisch, suggestiv, pornografisch, diskriminierend, diskreditierend, diffamierend, grammatikalisch bedenklich und interpunktionell ungerecht ist. Der Text wurde spürbar schlanker. Am Ende blieb von meinem Fünfhundertseiter nur das:
„Kartoffel.“
Ein paar Minuten blickte ich zufrieden und guten Gewissens auf dieses schöne, faire, freundliche Wort. Dann aber stellte ich entsetzt fest, dass das Wort alle nicht deutsch sprechenden Menschen sowie Männer („die Kartoffel“) diskriminiert. Außerdem beleidigt die Kartoffel als zu erntende Kulturpflanze das Empfinden insbesondere von Freeganern, die nur essen, was andere weggeschmissen haben, und von Frutariern, die keine Pflanzen töten und nur essen, was vom Baum fällt. Die Kartoffel ist zudem eine invasive Pflanze und steht als amerikanischer Eindringling im Konflikt mit der Idee Europa. Außerdem bedeutet das Wort eine zu hohe Hürde für Legastheniker und Spätalphabeten, die lieber Katofl schreiben würden, stößt biologisch-dynamische Landwirte vor den Kopf, die nicht mit den konventionellen Bauern in einen Topf geworfen werden wollen, und retraumatisiert all jene Iren, deren Vorfahren bei der verheerenden Hungersnot 1845 bis 1852 ihr Leben ließen, weil ein Pilz für katastrophale Kartoffelmissernten sorgte. Für Kinder sind Kartoffeln schon gar nicht geeignet, denn sie können nicht roh gegessen werden, ihre oberirdischen Pflanzenteile sind giftig, und beim Graben in der Erde wird die neue weiße Levis dreckig. Kinder trifft das Wort „Kartoffel“ gleich doppelt, denn durch die Tradition, Kartoffeln „die Augen auszustechen“, wird Gewalt als fester Bestandteil der Nahrungsaufnahme propagiert.
Ich zögerte nur kurz, dann löschte ich auch noch das Wort „Kartoffel“ aus meinem Roman.
Volksdroge und Vollrausch: Das stille Sterben der Maden
Inzwischen arbeite ich als Spargelschäler bei Alnatura. Letztlich hat mich ein Kunde vorm Weinregal gefragt, wie vegane Winzer es verhindern, dass Ameisen, Würmer und Maden in der Erde sterben und den Wein mit ihren tierischen Eiweißen düngen. Und was wäre, wenn der Winzer beim Beschneiden der Reben Handschuhe aus Kalbsleder trüge.
Auf solche Fragen reagiere ich inzwischen allergisch. Und habe dem Kunden eine rohe Kartoffel an den Kopf geschmissen.
Autor: Stephan Waldscheidt | www.schriftzeit.de
In: Federwelt, Heft 120, Oktober 2016
Foto: Carola Vogt und Peter Boerboom | www.boerboom-vogt.de
* Papierallergie. „Beim Lesen eines Buches entsteht feiner Abrieb, der zu einer allergischen Reaktion führen kann. Besonders Recycling-Papier enthält erhöhte Mengen Kolophonium.“ (Quelle: www.myallergo.de/wissenswertes/allergien/seltene-allergien/papierallergie/)