
Vorlesen für Fortgeschrittene
Ein Rezitationskurs von Michael Rossié
Folge 60: Kritik bekommen
Zu Lesungen kommen vor allen Dingen Fans, die ihren Autor, ihre Autorin mal live hören wollen. Aber auch hier kann es kritische Bemerkungen geben. Autoren identifizieren sich sehr stark mit ihrem Buch und Kritik trifft sie besonders dann, wenn sie gerade vor Publikum daraus gelesen haben.
Am schönsten wäre es, man bekäme ein freundliches Feedback; Leser würden ihre Eindrücke zu Buch und Lesung mitteilen. Aber leider haben wir keinen Einfluss darauf, was fremde Menschen uns unter die Nase reiben.
Negative Kritik ist oft deswegen nicht hilfreich, weil sie vor allem dem Kritisierenden dient, sich ein bisschen in Szene zu setzen. Was sollen Sie als Autor mit Sätzen anfangen, wie Sei persönlicher oder Das Buch ist mir zu privat oder Da ist vieles noch nicht ganz rund. Lachen Sie nicht! Das sind alles Originale.
Sie können die Kritik nachvollziehen? Dann könnten Sie sich einfach bedanken oder über die Anmerkungen diskutieren. Ist die Kritik gemein, unsachlich oder ärgerlich, empfehle ich, darauf nicht zu antworten. Wenn Sie wollen, machen Sie sich eine Notiz, nehmen Sie den Kritisierenden ernst, aber diskutieren Sie nicht. Bedanken Sie sich, aber ohne Erklärung (Das habe ich nur heute gemacht!), ohne Widerspruch (Wie hätte ich es denn anders machen sollen?) und vor allen Dingen ohne Rechtfertigung (Das habe ich ja nur gemacht, weil ...). Das macht Sie klein und hilft niemandem.
Zuhause und ein paar beruhigende Mozart-CDs oder einen entspannenden Trommelkurs später können Sie darüber nachdenken, ob derjenige, der Sie kritisierte, Recht hatte. Vielleicht ist ja was dran.
Meiner Erfahrung nach bekommen attraktive und erfolgreiche Menschen sehr oft eine etwas stärkere Portion Kritik. Es macht vielen Menschen Spaß zu versuchen, jemanden, der etwas hat, was sie gerne hätten, ein bisschen aus dem Konzept zu bringen. Ein gesundes Selbstbewusstsein ist für das Publizieren von Büchern, aber vor allem auch für das Lesen auf der Bühne also unerlässlich.
Jemanden gut zu unterhalten, ist eine Frage der richtigen Vorbereitung!
Autor: Michael Rossié | www.sprechertraining.de
In: Federwelt, Heft 120, Oktober 2016