
Vom einfühlsamen Umgang mit psychisch erkrankten Romanfiguren
Der Moment der Erkenntnis kam vor Jahren mit der Rückmeldung einer Testleserin. „Du hast da einen astreinen Borderliner entworfen“, schrieb sie mir.
Borderliner – waren das nicht diese traurigen Mädchen, die sich ritzten? Ich warf Google an und informierte mich. Ich sprach mit Betroffenen und stellte fest: Die Testleserin hatte recht. Meine Romanfigur, kein Mädchen übrigens, sondern ein junger Mann, den ich wegen seiner Zerbrechlichkeit und Dunkelfarbigkeit sehr liebte, war ein Borderliner. Mitten in einem Fantasyroman.
Aus diesem Aha-Erlebnis habe ich zwei wertvolle Lektionen gezogen. Zum einen: Romanfiguren sind auch nur Menschen und können Befindlichkeiten entwickeln, über die ich als Autorin kaum Bescheid weiß. Zum anderen: Das Thema ist so wunderbar wie schwierig.
Auf schmalem Grat
Darüber zu schreiben, ist dünnes Eis unter meinen Füßen. Ich will die Gefühle Betroffener nicht verletzen, indem ich Borderline-Syndrom, Depression, Suchtproblem als Steinbruch für meine Romanfiguren verwende. Ich halte die Grenze zwischen geistiger Gesundheit und psychiatrischem Krankheitsbild streckenweise für willkürlich. Gleichzeitig bin ich der Überzeugung, dass die Menschheit in all ihrer (dunkel-)bunten Ausprägung sich in unseren Romanen spiegeln darf und sollte. Normal ist gefährlich.
Die Schwierigkeiten beginnen bei der Begrifflichkeit. „Krankheitsbild“ und „psychische Störung“ sind bei Wikipedia gebräuchlich. Ich kenne depressive Menschen, die sehr leiden, und BorderlinerInnen, die ihre Befindlichkeit als ganz normalen Teil ihrer Persönlichkeit begreifen. Ob eine Krankheit vorliegt, entscheidet jedeR Betroffene selbst. Mein Borderline-Held hat keine Worte für das, was ihm fehlt – er ist auch viel zu beschäftigt damit zu kompensieren.
Zwischen den Zeilen
Er braucht auch keine Worte. Romanfiguren mit teilweise ausgeprägten psychischen Störungen gab es schon, bevor die noch junge Wissenschaft Krankheitsbilder beschrieb. Dem jungen Werther kann man eine manische Depression bescheinigen, Dorian Gray litt unter ausgeprägtem Narzissmus. Hamlet erschienen die Toten und Faust sah gar den Teufel – ohne sich aus dem Fenster zu lehnen, aber normal ist anders. Dr. Jekyll und Mr. Hyde sind der Archetyp einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung.
Auch in der modernen Literatur finden sich Figuren, die ein Krankheitsbild erkennen lassen, ohne dass es benannt wird. Jeder Werwolf der modernen Literatur leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung. Sirius Black aus Harry Potter, der jahrelang im Gefängnis gefoltert wurde, ehe ihm die Flucht gelang, zeigt Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und eine der berühmtesten multiplen Persönlichkeiten der neueren Literatur finden wir, mein Schatzzzzz, im Herrn der Ringe. Überhaupt scheint die Fantasy ein Spielfeld der undefinierten psychischen Störungen zu sein, oder finden Sie mal in Game of Thrones eine Figur, die gänzlich „ungestört“ ist, und all die Weltretter kommen sicher nicht ohne einen Schuss Größenwahn aus. Mein Prinz Borderline befindet sich also in bester Gesellschaft.
Durchgeknallt ist cool?
Sowohl in der Literatur als auch in Film und Fernsehen ist der Trend spürbar, psychische Abweichungen mit „Superkräften“ zu koppeln und daraus interessante Charaktere zu schaffen. Die Serie Sherlock der BBC zeigt einen (nach eigener Aussage) hochfunktionellen Soziopathen, der sich sein antisoziales Verhalten deshalb leisten kann, weil er wie kein anderer die Fähigkeit hat, analytisch Kriminalfälle aufzuklären – und weil er dabei unglaublich cool aussieht. Andere Ermittler, insbesondere die aus dem „Schwedenkrimi“, zeigen Depression in unterschiedlicher Ausprägung. Die Krankheit ist die Nemesis der Figur, der Feind, gegen den sie beständig antreten muss, und gleichzeitig die Quelle einer besonderen Empfindsamkeit, die beim Ermitteln hilft.
Wir haben es hier mit der literarischen Überhöhung eines Krankheitsbildes zu tun. Wäre Sherlock nicht so genial, wäre er einfach nur ein Arsch. Wäre Wallander nicht so scharfsinnig, wäre er einfach nur ein kränklicher Verlierer. Was uns an Figuren wie Sherlock gefällt, ist die Freiheit, mit der sie Grenzen übertreten, die Unbekümmertheit, mit der sie sich benehmen wie die Axt im Wald, ohne Konsequenzen tragen zu müssen. Ihre Superkräfte schirmen sie vor den unangenehmen Alltagserfahrungen ab. Umso wichtiger sind die Geschichten, in denen diese Illusion platzt und auch solche Figuren mal unsanft in ihrer Wirklichkeit ankommen. Be- und Entzauberung sind dabei gleichermaßen wichtig –, denn mit einer Depression oder einem Suchtproblem zu kämpfen, ist nun mal in den meisten Fällen nicht sehr heroisch.
Die unterhaltsame Seite von Selbstmordgedanken
In der neueren Literatur finden sich zahlreiche Romane, in denen die Krankheit benannt wird, gleichsam als eine Hauptfigur die Handlung beeinflusst. Ein moderner Klassiker ist Hannah Greens Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen, dessen Untertitel Bericht einer Heilung das gute Ende schon vorwegnimmt: Die 16-jährige Deborah findet einen Weg aus ihrer Schizophrenie. In Ich tanze so schnell ich kann gibt Barbara Gordon Einblicke in ein Leben mit Angststörungen – ein Buch, das mich als Jugendliche nachhaltig beeindruckt hat. Mit Ich und die anderen zeigt Matt Ruff, dass man aus dem ernsten Thema „Multiple Persönlichkeitsstörung“ großartige Unterhaltung mit ziemlich schrägem Humor machen kann. Und Nick Hornbys A Long Way Down wurde kürzlich erfolgreich verfilmt. Es ist die Geschichte einer bunten Truppe von Menschen, die nur eines gemeinsam haben: Sie wollen sich das Leben nehmen.
Zwischen den ersten und den letzten zwei Beispielen gibt es einen signifikanten Unterschied. Rosengarten ist aus dem Jahr 1964, Ich tanze so schnell ich kann von 1983. Ruffs und Hornbys Romane datieren in die Nullerjahre. Die beiden ersten Romane sollen den Leidensdruck Betroffener zeigen und bei den LeserInnen das Problembewusstsein schärfen. Solche Bücher werden immer noch geschrieben. Aber heute gibt es auch die anderen, die galgenhumorigen, die nicht nur aufklären, sondern auch unterhalten wollen, die sich trauen, das Skurrile einer psychischen Erkrankung mit in den Fokus zu holen. Manches wird leichter, wenn man darüber lacht. Es ist zu wünschen, dass diese Bücher dazu beitragen, psychisch besondere Menschen in die Mitte der Gesellschaft zu holen.
Viele Romane, die dieses Thema behandeln, haben autobiografische Elemente, doch Erfahrungen am eigenen Leib beziehungsweise der eigenen Seele sind glücklicherweise keine Voraussetzung dafür, solche Geschichten zu erzählen. Zu beachten gibt es trotzdem einiges.
Fallen Sie nicht auf Klischees rein
Ein gewisses Maß an Klischees ist beim Schreiben unvermeidlich. Wir als Schreibende sind darauf angewiesen, dass die LeserInnen eine Figur, ein Setting, einen Sachverhalt auch mal im Geiste vervollständigen – sonst wären wir ständig nur am Erklären, und das bringt keinen Roman voran. Die LeserInnen greifen beim Vervollständigen aber auf kollektive Topoi, also Klischees zurück. Die nörgelige Schwiegermutter stelle ich mir automatisch mit Bluse, Rock und Dauerwelle vor, obwohl es auf diesem Planeten vielleicht auch eine nörgelige Schwiegermutter mit Rastazöpfen und Schlaghosen gibt. Klischees dienen dazu, ein griffiges, harmonisches Gesamtbild zu erzeugen. Borderline-Mädchen, die sich ritzen, bieten sicher ein griffiges Gesamtbild, allerdings wird diese Darstellung dem komplexen Borderline-Syndrom nicht gerecht. Nun schreiben wir ja keine wissenschaftlichen Abhandlungen, aber je mehr die jeweilige Figur im Mittelpunkt Ihres Romans steht, umso lohnender ist es, die Symptomatik gut zu recherchieren. Auch mit einer Ausprägung, die sich jenseits der Klischeezone bewegt, kann man eine stimmige Figur erschaffen.
Wollen Sie wirklich ein Etikett draufkleben?
Der antriebslose Schwager Ihrer Hauptfigur, der seine Tage im Bett zubringt und kaum seinen Teilzeitjob gewuppt bekommt, hat vermutlich eine Depression. Sobald Sie aber den Begriff ins Spiel bringen, setzen Sie im Kopf Ihrer Leserschaft einen Mechanismus in Gang: „Depression – kann man das nicht behandeln? Gibt’s da nicht Tabletten? Psychotherapie? Der Nachbar, der das hatte, war ein Vierteljahr in einer Klinik und danach so gut wie neu!“
Diesen Automatismus müssen Sie wollen. Zum Beispiel, wenn es Ihr Anliegen ist, die Genesung einer depressiven Person zu schildern – oder deren Scheitern an der Krankheit, oder die Belastung der Angehörigen. Wenn Sie das zu weit von Ihrer Geschichte wegführt, vermeiden Sie das Etikett „Depression“. Der Bruder der Hauptfigur ist auch dann greifbar, wenn er ohne Diagnose in seiner unaufgeräumten Wohnung herumlungert.
Machen Sie Ihre Sache wirklich, wirklich gut
Wir bemühen uns ja grundsätzlich, keinen Mist zu schreiben. Aber wenn es um psychische Erkrankungen geht, haben wir die moralische Verpflichtung, es wirklich gut zu machen. Die Vorlage für unsere Figuren sind Menschen, die nicht den ganzen Tag nur Spaß an ihrer psychischen Erkrankung haben. Wir sind verpflichtet, ihnen respektvoll und wertschätzend zu begegnen. Dazu gehört, dass wir die jeweilige Figur nicht auf ihre Krankheit reduzieren. Auch Temperament, Umgebung, Lebenssituation wirken sich aus und gehören in eine einfühlsame Schilderung – schließlich ist die Figur in erster Linie ein (virtueller) Mensch oder eine andere intelligente Lebensform, kein Krankheitsbild.
Besondere Vorsicht ist geboten, wenn Ihre Figur böse Dinge tun soll. Die Dramaturgin Eva-Maria Fahmüller hat im Rahmen einer Studie Fernsehkrimis untersucht und gezeigt, dass Menschen mit psychischen Störungen zu fünfzig Prozent die TäterInnen waren. Das spiegelt bei weitem nicht die Wirklichkeit, und wir BuchautorInnen müssen vielleicht nicht in die gleiche Kerbe hauen. Menschen mit psychischen Erkrankungen gelten immer noch als Randgruppe; wir tun ihnen keinen Gefallen, wenn wir sie in einem schlechten Licht zeigen. Eine psychische Erkrankung darf außerdem niemals herangezogen werden, um eine Figur oberflächlich interessant zu gestalten. Sie ist keine ulkige Marotte, keine schnelle Art, einer Figur Wiedererkennungswert zu geben. Wenn das Erzählelement keinen wesentlichen Einfluss auf die Handlung hat – raus damit!
Dabei sind Sie nicht verpflichtet, der psychischen Besonderheit einen Namen zu geben – wie schon angedeutet: Gollum funktioniert eindrucksvoll, ohne dass jemand aus seiner Umgebung das Wort „dissoziativ“ auch nur kennen würde. Und mein zerbrechlicher Prinz weiß vielleicht, dass er ein Grenzgänger ist, von Borderline hat er aber noch nie etwas gehört. Trotzdem würde in beiden Fällen die Handlung einen anderen Verlauf nehmen, wären die Figuren näher am „Mittelmaß“.
Lassen Sie den Schaffensprozess in beide Richtungen zu
Meinen Dunkelprinzen habe ich geschrieben, ohne zuvor einen Festmeter Fachliteratur zum Borderline-Syndrom verschlungen zu haben. Meine eingehende Beschäftigung mit dem Thema hat aber die Art und Weise beeinflusst, wie ich die Figur in den späteren Romanen weiterentwickelt habe – sie hat den Blick auf meinen Helden nicht verändert, aber geschärft.
Wenn Sie sich berufen fühlen, eine Figur mit einer psychischen Erkrankung zu erschaffen, informieren Sie sich tiefgreifend. Nicht alle Autisten sind Rechenkünstler. Nicht alle Psychopathen sind gewalttätig, und nicht alle Borderliner ritzen sich. Die Betroffenen haben es schwer genug, sich immer wieder aufs Neue mit den Klischees auseinanderzusetzen, und hier haben wir als AutorInnen die Chance, zur Diversität beizutragen.
Wenn Ihnen an einer Ihrer Figuren etwas Abweichendes auffällt, gehen Sie der Sache nach. Recherchieren Sie gründlich, aber behalten Sie immer im Kopf, dass Ihre Figur das letzte Wort hat: Was nicht stimmig ist, findet nicht statt. Nicht jede etwas launische Figur ist gleich manisch depressiv, und vielleicht hat Ihre Figur ja das Glück (oder Pech), ganz normal zu sein. Was immer man darunter verstehen mag.
Leseempfehlungen
• Matt Ruff: Ich und die anderen (multiple Persönlichkeitsstörung)
• Hannah Green: Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen (Schizophrenie)
• Barbara Gordon: Ich tanze so schnell ich kann (Angststörung)
• Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray (Narzissmus)
• Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther (bipolare Störung)
• Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (dissoziative Identitätsstörung)
• Gottfried Benn: Gehirne (Psychose)
Autor: Susanne Pavlovic | www.textehexe.com
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 126, Oktober 2017
Illustration: Carola Vogt
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