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Irrtümer, Dogmen und Vorurteile von Verlagen

Federwelt
Fritz Gesing
Vorurteile in der Literatur und verbreitete Verlagsdogmen

Über Verlage und ihre Dogmen und gegen welche Vorurteile man als Autor und Autorin  zu kämpfen hat.

Jeder kennt das Beispiel Harry Potter: Joanne K. Rowling bot den ersten Band der Romanreihe zahlreichen britischen Verlagen an, und alle wiesen das Manuskript ab: Zu lang sei es, nicht kommerziell genug, zu wenig politisch korrekt. Erst als sich der Bloomsbury-Verleger nach einer ersten Absage (immerhin!) dazu entschloss, das Anfangskapitel des eingereichten Manuskripts seiner achtjährigen Tochter in die Hand zu drücken, und diese nach der Lektüre begeistert reagierte, wagte der Verlag eine Miniauflage. Der Rest ist Geschichte.
Rowling und ihr Harry Potter stehen nicht allein: Diverse Weltbestseller wurden anfangs teilweise zigfach abgelehnt, Andreas Eschbach veröffentlichte eine lange Liste mit illustren Titeln: Im Westen nichts Neues, Vom Winde verweht, Der Name der Rose und viele andere. Stephen King warf seinen ersten Roman in den Papierkorb, seine Frau rettete ihn (den Roman, den Autor, vielleicht sogar den Verlag). Unbekannt sind die Autorinnen und Autoren, die nach unzählbaren Standardabsagen verzweifelt aufgaben und nie wieder eine Zeile schrieben. Unbekannt sind auch die großartigen Werke, die nie an die Öffentlichkeit gelangten oder als C-Titel so versteckt wurden, dass sie chancenlos untergingen.
Dies wissen wir, dies wissen auch die Verlagsleute. Tja, Schulterzucken, ein Gefühl von Peinlichkeit, „shit happens“, „kein Mensch ist unfehlbar …“ Dann das große ABER: „Aber in den allermeisten Fällen erkennen wir bereits nach mehreren Zeilen, ob ein Manuskript etwas taugt.“
Aha!

Auch Profis können danebenliegen
Selbstverständlich ist die Binsenwahrheit zutreffend, dass selbst die erfolgreichsten Entscheider in Wirtschaft und Politik Fehler machen, dass, um beim Verlagswesen zu bleiben, in der Flut der Einsendungen die eine oder andere Perle übersehen wird, dass Verlage Wirtschaftsunternehmen sind, die mit begrenzten Ressourcen Gewinne erzielen und daher die Risiken minimieren müssen, also gezwungen sind, Manuskripte abzulehnen, wenn sie nicht erfolgversprechend erscheinen. – Wie immer man Erfolg in erster Linie definiert: kommerziell, literarisch.
Aber wie kommt es, dass die Verlagsleute trotz ihrer Kompetenz und Erfahrung so oft danebenliegen in der Einschätzung dessen, was gut oder weniger gut, erfolgreich oder chancenlos, zukunftsweisend oder von gestern ist? Dass sie immer wieder Fehler machen: in ihren Marketingstrategien und in der Behandlung der Produkte, die sie verkaufen wollen, wie in der Behandlung der Produzenten dieser Produkte, ohne die sie, die Verlage und Verleger, Verlagsvertreter und Lektorinnen, gar nicht bestehen würden?
Da wir Autoren und Autorinnen von den Verlagen und ihren Entscheidungen in unserem Schreiben und Leben – gelegentlich sogar existentiell – betroffen sind, sind wir auch berechtigt, uns Gedanken zu machen über die Gründe für ihre Fehlentscheidungen oder falschen Strategien.
Vorweg ist zuzugeben, dass noch niemand die Kristallkugel gefunden hat, die ihm erlaubt, die Zukunft vorherzusagen, auch wenn manche Trends erkennbar sein mögen.
Ein solches Eingeständnis sollte uns jedoch nicht daran hindern, kritisch nachzudenken über Fehler, die nicht nur wir beim Entwerfen und Niederschreiben unserer Geschichten machen, sondern auch über die Fehler, die Verlagen unterlaufen. Oder genauer gesagt: ihren Repräsentanten, mit denen wir im täglichen Geschäft zu tun haben und ohne die unsere Werke – sieht man mal vom Selfpublishing ab – nicht die Leser erreichen können.
Ich glaube, ein wichtiger Grund für ihre Fehlentscheidungen liegt im dogmatischen Denken, das heißt auch: in nicht ausreichender Selbstkritik und Flexibilität.

Dazu einige Erfahrungen:
Verlage beanspruchen insbesondere bei „kommerzieller“ Literatur, über den Namen des Autors oder der Autorin mitzureden, das Titelbild festzulegen und meist auch den Titel. Sie billigen uns nur theoretisch oder widerwillig eine Mitbestimmung zu. Dies zu akzeptieren fällt oft äußerst schwer, vor allem, wenn man sich nicht hinter einem fremden Namen verbergen will, wenn vom Verlag gewählte Cover und Titel nur entfernt etwas mit dem Roman zu tun haben und an sehr grobe Geschmacksnerven appellieren. Entsprechend skeptisch reagiert man als Autor und erwartet hohe Professionalität, wenn Verlage Verfassernamen und Buchtitel ändern wollen: Vorschläge sollten mit überzeugenden Argumenten unterfüttert und Gegenargumente sollten bedacht werden.
Beispiel eins: Der Verlag fordert ein Pseudonym. Dies gilt hauptsächlich für alle, die Genre schreiben, aber nicht nur für sie. Mir selbst wurde nahegelegt, meine historischen Romane unter einem anderen Namen als meine Sachbücher zu veröffentlichen. Das Argument lautete: „Sonst könnten Sie vielleicht als Vielschreiber gelten. Außerdem klingt Ihr Vorname ein wenig altbacken.“ Ich habe mich an den Vorschlag gehalten, ihn später bereut und bin mir bis heute nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch sinnvoll war. So weit, so diskutabel.

Keine deutsche Autorin kann gute Science-Fiction schreiben

Weniger diskutabel erscheint mir, was mir eine Kollegin berichtete: Sie habe sich bei ihren Science-Fiction- und Horrorromanen hinter einem ausländischen und zudem männlichen beziehungsweise geschlechtsneutralen Pseudonym verstecken müssen, weil „Frauen einfach keine guten SF- und Horrorromane schreiben können“. Punkt. Basta. Als sie sich dann bei einem anderen Verlag outete, stieß sie auf ungläubiges Erstaunen.
Es gibt andere, ähnlich gelagerte Fälle. Zum Beispiel hieß es bis zur Widerlegung, deutsche Autoren könnten keine guten (= erfolgreichen) Politthriller schreiben.
Richtig problematisch wird dieses vorurteilsbehaftete Denken, wenn Verlagsvertreter einen Namen nach nur einem Misserfolg für „verbrannt“ halten und unverzüglich einen neuen fordern. Ein befreundeter Kollege hat es aufgrund von angeblichen Misserfolgen, Verlags- und Genrewechseln auf eine ganze Handvoll von Namen gebracht, darunter auch einen weiblichen. Dies zeugt nicht nur von Verachtung für ihn als individuellen Autor, sondern verhindert auch langfristig jede Möglichkeit, ihn bekannt zu machen und als „Marke“ zu etablieren.

Und nebenbei: Nach Geschlechtswechsel sind Lesungen nicht mehr möglich.

Fremdsprachige Titel sind tabu

Ein weiteres Beispiel für ein Dogma, das ich samt Korrektur erlebte: Fremdsprachige Titel „gehen gar nicht“. Ich hatte überlegt, ob ich meinen Caterina-Sforza-Roman nicht nach der bereits zu Lebzeiten gefundenen Bezeichnung der Heldin benennen sollte, die in jeder Hinsicht exzentrisch war: La Tigressa. Abgelehnt, „ist italienisch“. Und da der Begriff „Tigerin“ im Deutschen nicht üblich ist, lautete der Titel nach längerem Hin und Her eher sachlich Die Madonna von Forlì.
Die Verkaufszahlen des Hardcovers waren nicht schlecht, entsprachen jedoch nicht den Verlagserwartungen, und als das Taschenbuch erscheinen sollte, wurde plötzlich vorgeschlagen, den Titel zu ändern. Dies empfand ich aus mehreren Gründen als höchst fragwürdig. Aber dann trat die Vertreterversammlung als Letztinstanz zusammen und votierte für einen neuen Titel, den mein Lektor vorgeschlagen hatte: La Tigressa. Ich dachte, ich höre nicht recht. Hatte man mich nicht kurz zuvor belehrt, dass fremdsprachige Titel „nicht gehen“? Davon wollte nun niemand mehr etwas wissen nach dem Motto: Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?! Mittlerweile waren die sprachliche Mixtur Die Principessa und andere Bücher mit eindeutig fremdsprachigen Titeln erschienen.
Ich empfand die Änderung des Titels als Irreführung der Leser und äußerte meine Bedenken. Doch plötzlich waren Cover und Titel schon in der Herstellung – und mir als Autor wurde nach Erscheinen des Buchs von verärgerten Leserinnen, die das Buch zweimal gekauft hatten, genau mein Einwand vorgehalten. Auch die Buchhändler reagierten kopfschüttelnd und bestellten zurückhaltend. Die Panne blieb letztlich an mir und der Zugkraft meines Namens hängen.
Heute ist man längst an „nichtdeutsche“ Titel gewöhnt bis hin zu A Long Way Down, und sogar (lateinische) Bildungswörter sind en vogue: Sakrileg, Illuminati, Sacramentum. Einen Wechsel von „geht gar nicht“ bis „läuft prächtig“ haben wir auch mit langen Titeln erlebt, die lange Zeit tabu waren und nach dem Erfolg von Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand zahlreiche Cover zieren.

Lavendelduft und kaputte Typen

Bleiben wir bei der Titelgebung. Uns Autoren und Autorinnen bereitet häufig die Tatsache Bauchschmerzen, dass vom Verlag gewählte Titel nur wenig mit dem Inhalt des Romans zu tun haben. Hier streiten oft die Marketinggesichtspunkte der Verlage mit unseren Kohärenzvorstellungen. „Kohärenz“ meint in diesem Fall, dass ein Titel, auch als Aushängeschild, ein integraler Bestandteil des Werks ist, einen zentralen Aspekt widerspiegelt, ein wichtiges Symbol aufgreift oder einfach nur prominenter Ausdruck einer zum Werk passenden kreativen Idee von Autor und Autorin ist. Gelten reine Marketingargumente (meist im Zusammenhang mit dogmatisch vertretenen Annahmen), führt der Hinweischarakter des Titels oft sogar in die Irre. Die Leser reagieren enttäuscht oder sogar verärgert, wenn sich herausstellt, dass das, was der Titel suggeriert, im Roman selbst nur unzureichend oder gar nicht eingelöst wird. Unterstützt der Werbetext der Rückseite, wie ich einmal selbst erleben musste, diese Suggestion auch noch, führt an dieser Enttäuschung gar kein Weg vorbei. Und sie wird sich in jedem Fall negativ auf das Urteil über Buch und Autor auswirken.
In meinem Fall war es so, dass der Verlag bei einem in der Provence spielenden eher zeitkritischen Gegenwartsroman mit dem Satz „Nicht nur für Leser von Peter Mayle“ warb. Man sah schon die knorrigen Boulespieler mit ihren Kippen im Mund vor sich, roch Lavendel und Rosmarin, schmeckte den fruchtigen Rosé und fühlte sich entführt in die mediterranen Gefilde der Seligen. Dabei entfaltete der Roman eine Anti-Peter-Mayle-Atmosphäre – trotz Lavendelduft und Cézanne-Ambiente. Ein Leser stellte bei Amazon fest: „Ich habe noch nie von so vielen kaputten Typen gelesen.“ Zwei Sterne. Oder nur einer?
Selbst wenn verführerische Titel und entsprechende Werbesprüche ein paar mehr Käufer zum Portemonnaie greifen lassen, im Endeffekt wirkt sich die Irreführung negativ aus. Der Autor kann auf mittlere oder lange Sicht nicht mehr zu identifizierbaren „Marke“ werden, wenn seinen Leserinnen und Leser immer wieder durch Titel und Aufmachung etwas versprochen wird, was der Inhalt des Buchs nicht einlöst – gleichgültig, wie überzeugend es geschrieben ist.

Einmal Genre, immer Genre

Wie problematisch es werden kann, wenn veröffentlichte Romantitel und ihre Inhalte nicht kongruent sind, wenn dadurch falsche Erwartungen entstehen und gleichzeitig die Repräsentanten des Verlags wenig informiert und flexibel reagieren, zeigt ein weiteres Beispiel: Die Autorin, von der ich spreche, wurde von einem großen und renommierten Verlag abgeworben, und zwar als Autorin historischer Romane „akquiriert“, wie es hieß. Dies geschah zu einer Zeit, als der historische Roman längst den Zenit seiner Beliebtheit überschritten hatte, insbesondere der realistische, biografische. Für den neuen Verlag schrieb die Autorin einen weiteren historischen Roman, der sich nicht übermäßig erfolgreich verkaufte. Als sie dann der Verlagsleiterin vorschlug, die Konsequenzen zu ziehen, das Genre beziehungsweise zumindest die Epoche zu wechseln und über die jüngste Vergangenheit zu schreiben, wurde ihr Vorschlag zurückgewiesen. Sie sei als Autorin historischer Romane „eingekauft“ worden, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sei nicht historisch (!), das 19. Jahrhundert liege wie Blei in den Regalen (wieder ein Dogma, das zur gleichen Zeit überaus deutlich widerlegt wurde), also komme hauptsächlich das Mittelalter infrage. Alle Hinweise der Autorin auf die Marktentwicklung – immerhin ein kaufmännisches Argument – fruchteten nicht. Eine von ihr gewünschte Neuausrichtung, die ihren kreativen Interessen entsprach, galt schon gar nicht als Argument.
Man kann sich vorstellen, wie dieser Konflikt endete: unerfreuliche Verluste bei Verlag und Autorin.
In diesem Fall verband sich fehlende Flexibilität (um nicht zu sagen: Sturheit) mit einer falschen Einschätzung der Autorin und ihrer Ausrichtung. Sie war vom Verlag nämlich nach den letztlich irreführenden Titeln ihrer Romane taxiert worden, nicht nach deren Inhalt und Form. Weder waren ihre Romane von der Verlagsleiterin gelesen worden noch hatte man sich mit ihr über langfristige Pläne und Interessen unterhalten.

Da muss ein Hund rein!

Ging es bei dieser Autorin um eine spezifische Genre-Ausrichtung, von der man trotz genereller Marktschwäche nicht abweichen wollte, so erlebte eine andere Kollegin die nahezu realsatirische Einmischung in den Schreibprozess selbst. Die Verlagsleiterin hatte ihr bereits auferlegt, den Roman am Meer spielen zu lassen, an der Ostsee, um genau zu sein. „Verstehen Sie: Ostsee und Jahrhundertwende und promenierende Damen aus der Adelsschicht – danach greifen unsere Leserinnen.“ Die Kollegin quälte sich ein wenig, aber dann entwickelte sie doch einen guten Plot, schuf ein überzeugendes Ambiente und gab den bisher entworfenen Teil des Romans der Lektorin, die plötzlich entschied: „Da fehlt etwas. Da muss ein Hund rein! Hunde sind Sympathieträger …“ Und sie ließ sich nicht von ihrer fixen Idee abbringen.
Ein wurde Hund eingefügt, die Kollegin musste den Roman dafür mühsam umschreiben und war alles andere als glücklich.

Wo bleibt die Romantik?

Einen noch gravierenderen Fall der Einmischung erlebte ich selbst, als ich den dritten Roman meiner locker angelegten Trilogie über Papst Paul III. schreiben wollte. Ich hatte den Verlag gewechselt, aber bereits einen Mittelalterroman bei dem neuen veröffentlicht. Obwohl der Roman auch wegen der generell abgeschwächten Konjunktur für historische Romane, schon gar in Hardcover, nicht ganz den Erwartungen gemäß lief, so war ich doch mit ihm sehr zufrieden. Nach dem Mittelalter wollte ich erneut in die Renaissance wechseln und den dritten Band über Papst Paul III. schreiben. Der historische Hintergrund, der Übergang in die Epoche der Gegenreformation, ist auch aus heutiger Sicht hochinteressant, die Geschichte selbst spannend: ein echter Politthriller im Vatikan-Milieu. In der letzten Zeit sind ähnliche Romane erschienen, allerdings in der Gegenwart angesiedelt. Nachdem ich das Exposé abgegeben hatte, hieß es: Wir wollen keinen Papst als Protagonisten und schon gar nicht die Geschichte einer Altersliebe, wir wollen eine Frau als zentrale Figur und eine romantische Liebesgeschichte. Bitte, schreiben Sie den Romanentwurf um. Nein, nicht „bitte“, sondern: „Nehmen wir so nicht, es sei denn, unsere Bedingungen werden erfüllt.“
Die Folge: Ich fühlte mich, freundlich gesagt, gegängelt, verschob die Perspektive, um eine junge Frau in den Vordergrund stellen zu können, erweiterte das Thema Liebe und entwarf auf diese Weise eine Mischung aus realistischem Epochenporträt, spannender Vatikangeschichte und süffigem Kurtisanenschicksal. Im Grunde nichts wirklich Einheitliches, ein fauler Kompromiss aus meiner Erfindung und den Verlagsvorgaben. Dies konnte letztlich nicht gut gehen. Ich war unzufrieden, die Geschichte nicht mit innerer Überzeugung erzählt, die Liebe nicht romantisch genug, zu viel grausames Geschehen. Da der Verlag es nicht für nötig hielt, zumindest in der Werbung den Bezug zum ersten Band der Trilogie, einem richtigen Bestseller, herzustellen, da der Markt erlahmt war, verloren zum Schluss alle: Die Verkaufszahlen blieben mäßig, die Verlagsleiterin kam unter Druck und mir wurde die Schuld in die Schuhe geschoben.

Zielgruppe nur junge Frauen?

Um ein letztes Beispiel für irregeleitetes dogmatisches Denken zu nennen: Einem Kollegen, der wie ich schon im Großvateralter steht, wurde von einer forschen dreißigjährigen Lektorin eines breit angelegten Publikumsverlags bedeutet: „Wissen Sie, unsere Zielgruppe besteht aus Frauen zwischen 25 und 45. Die müssen wir bedienen.“ Unausgesprochene Ergänzung: Das können Sie nicht.
Nun muss man hier eine zweifache Anmerkung einschieben. Zum einen: Die Haltung ist typisch für viele Verlage und ihre Lektorinnen. Zum anderen: Sie beruht auf einer falschen Annahme, denn die Mütter und Großmütter dieser angeblichen Zielgruppe lesen mit ihren männlichen Altersgenossen am meisten, sie sind es von ihrer Jugend an gewöhnt und haben Zeit. Ihre Töchter dagegen haben Karriere, Kinder und Kita im Sinn, die Enkelinnen Studium, Smartphones und soziale Netzwerke. Für Bücher fehlt ihnen die Muße.
Zurück zu dem Kollegen und der jungen Dame: Was spricht eigentlich dagegen, dass ein Opa auch der Töchter- und Enkelinnengeneration etwas zu sagen hat? Er versuchte es tatsächlich, thematisierte das Problemfeld Abtreibung aus männlicher Sicht. Abtreibung ist selbstverständlich ein Frauenthema, hatte er sich überlegt, doch gibt es so gut wie keine Äußerungen der betroffenen Männer dazu. Deswegen müsste gerade die männliche Perspektive interessant sein – zumal in seinem Roman auch die betroffenen Frauen ausführlich zu Wort kommen sollten.
Entsetzen bei der Lektorin: „Geht gar nicht, nimmt mir keine Leserin ab, über Abtreibung können nur Frauen schreiben.“ Wohl gemerkt: „mir“, nicht etwa dem Autor.
Nachdem mein Kollege mir von Plan und Absage berichtet hatte, fragten wir unter jungen Frauen nach und hörten dann sehr wohl die Bestätigung, dass die männliche Perspektive mal etwas anderes sei und gerade für Frauen interessant.

Content-Lieferant für Konsumfutter

Ein Fazit aus den geschilderten Fällen: Es ist überaus problematisch, wenn Autorinnen und Autoren als reine „Content-Lieferanten“ angesehen werden, von denen man erwartet, dass sie vom Verlag vordefiniertes „Konsumfutter“ (Verlagstalk) liefern. Ein offenes, von gegenseitigem Respekt getragenes und auf Vertrauen beruhendes Verhältnis kann auf diese Weise nicht entstehen. Letztlich werden so auch die kreative Potenz der Autoren und Autorinnen, ihr Selbstbild und ihre Lust am Schreiben zerstört. Langfristig schlägt ein solches Verhalten auf den Verlag, seinen wirtschaftlichen Erfolg und seine Reputation zurück. Denn ohne zufriedene Autoren kann kein Verlag existieren.
Es gibt zwar Autorinnen und Autoren, die nach Verlagswunsch und Schema F auf niedrigstem Niveau ihre Bücher raushauen und sich eine Weile gut verkaufen, doch die meisten ganz großen Bestseller entstehen aufgrund der Individualität ihrer Verfasser. Und sind Überraschungserfolge.
Zum Glück setzen sich die Verlagsdogmatiker nicht immer durch. Ein Großteil der Autorinnen und Autoren weiß von hervorragender und produktiver Zusammenarbeit mit den Verlagen und ihren Lektoraten zu berichten. Auch ich begegnete immer wieder Kompetenz, Flexibilität, Wertschätzung und Professionalität. Aber leider ebenso dem Gegenteil.

Was tun?
Wie sollte man sich verhalten, wenn man sich mit dogmatischer Attitüde konfrontiert sieht, mit Einmischung in die kreative Arbeit oder respektlosem Verhalten? Sind wir nicht auf Bestseller abonniert, haben wir Autoren und Autorinnen die schlechteren Karten. Doch selbst ein großer Erfolg kann auf Dauer vermasselt werden. Einen Agenten oder eine Agentin einzuschalten könnte helfen, aber auch die Lage komplizierter machen.
Ich denke, wir sollten die Machtverhältnisse realistisch einschätzen. Bereit sein, die Argumente der Gegenseite anzuhören und zu bedenken. Wer sich allerdings immer ins Handwerk reden (pfuschen?) lässt, wird irgendwann nicht mehr ernst genommen, kann weder thematische noch gestalterische Individualität entwickeln beziehungsweise behalten. Wie man sich am besten verhält, ist letztlich eine Frage der Persönlichkeit und des Selbstverständnisses. Auf der einen Seite gilt: Die Konkurrenz ist groß, und man ist schnell aussortiert. Auf der anderen Seite möchte man seine Lust am Schreiben nicht verlieren und außerdem noch in den Spiegel schauen können.

Autor: Fritz Gesing | www.frederikberger.de
Erschienen in: Federwelt, Heft 130, Juni 2018
Blogbild: Photo by Cody Davis on Unsplash

 

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