
„Ich bedauere, dass die Buchmesse immer stärker so wirkt wie jede andere Messe auch“
Hanns-Josef Ortheil im Gespräch mit Oliver Uschmann – über die Frankfurter Buchmesse, Ortheils aktuelles Buch, die Magie eines Stiftes, Falten als Gesprächsthema unter Literaten, Lügen und ... lesen Sie selbst!
Frankfurt, am 22.10.2016: Zwar steht der kleine Tisch am riesigen Stand der Random-House-Verlagsfamilie mitten im Messegetümmel, doch lieber bleibt Hanns-Josef Ortheil in Ruhe sitzen, als sich Richtung Besprechungsräume durch die Gänge zu quetschen.
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Seine Mutter war aufgrund des Verlustes ihrer anderen vier Söhne verstummt, sodass er mit ihr ausschließlich schriftlich sowie indirekt über die Musik kommunizierte: Sie brachte ihm die ersten Schritte am Klavier bei. Als Pianist studierte und musizierte Ortheil in den frühen Siebzigerjahren in Rom. Für sein Romandebüt Ferner, erhielt er 1979 sofort den Aspekte-Literaturpreis. Als Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus gründete er 2008 das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim mit. Sein Werk wurde unter anderem. mit dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis sowie 2016 mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis ausgezeichnet und in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Herr Ortheil, ein grandioser Begriff aus Ihrem Buch Was ich liebe und was nicht ist das Driften, also das absichtliche Abkommen vom geplanten Weg oder von der To-do-Liste. An einem Tag auf der Buchmesse gestaltet sich das schwierig. Dennoch heute schon gedriftet?
Es ist sehr wichtig, während des Tages in unterschiedlichen Tempi zu leben. Wenn ich hier auf der Buchmesse den ganzen Tag ein hohes Tempo zwischen bestimmten Terminen einschlagen muss, versuche ich als Gegengewicht, mir zwischendurch völlige Ruhezeiten zu erobern. Ich setze mich gezielt irgendwohin und beschäftige mich dreißig, fünfunddreißig Minuten damit, Revue passieren zu lassen, was ich bislang am Tag gemacht habe. Oder ich plane Dinge voraus, die am Abend anstehen, sodass ich das Gefühl habe, ich lebe immer noch in meiner eigenen Zeit. Es ist ungesund, pausenlos in der fremden Zeit zu leben, die man mit anderen teilt. Man sollte sich immer seine Eigenzeit bewahren.
Und das gelingt Ihnen sogar hier?
Durch das Schreiben. Ich sitze ja nicht nur so herum, sondern notiere und schreibe. Das Schreiben ist für mich ein ungeheuer genaues Medium, um die eigenen Gedankengänge zu ordnen. Schon in dem Moment, in dem ich den Stift ansetze, werde ich im Kopf genauer, als ob das Ansetzen des Stiftes auf dem Papier schon dafür sorgt, dass mein Gehirn eine andere Schaltung verwendet. Es prozessiert wacher, aktiver, es sammelt auf der Stelle Dinge zusammen, die ich mündlich in dem Augenblick gar nicht formulieren könnte, weil sie mir nie in den Sinn kämen. Die Aktivität des Stifts sorgt dafür, dass im Kopf plötzlich etwas ganz Besonderes passiert. Auf einmal entstehen gute Formulierungen, die ich in der freien Rede niemals verwendet hätte.
Gilt das nur für das Ansetzen des Stiftes oder auch für die Hand an der Tastatur?
Das gilt nur für das Schreiben mit der Hand. Die Tastatur ist für mich ein reines Abschreibmedium, so wie das Smartphone ein reines Nachrichtenmedium ist und kein Display für künstlerische Texte. Ich schreibe bis heute alles mit der Hand, manches übertrage ich und sammle es in Ordnern. Die Tastatur ermöglicht reines Tempo, aber kein präzises Nachdenken oder Formulieren.
Die richtige Form für eine bestimmte Tätigkeit scheint Ihnen sehr wichtig. So schreiben Sie etwa, dass die Oper von heute der Sinnlichkeit des Musiktheaters nicht gerecht werde wegen ihrer Strenge, den engen Sitzplätzen. Sie müsse eigentlich im Freien stattfinden, mit den Menschen auf der Wiese. Ist die Buchmesse als hektische Handelsschau für das Buch so unpassend wie das moderne Käfigtheater für die Oper?
Ich bedauere in der Tat, dass die Buchmesse immer stärker so wirkt wie jede andere Messe auch, ob dort nun Autos angepriesen werden oder Tierzubehör. Hunderttausende schieben sich durch die Gänge und lassen sich durch dieses oder jenes kurz reizen. Das Medium selber ist hier gar nicht mehr so wichtig, sondern es kommt eher auf die Nebeneffekte an: dass ich als Besucher hier eine Autorin mit Mikrofon sehe und da noch einen Film, dass ich so viel wie möglich als Mitbringsel geschenkt bekomme oder irgendetwas, das mit Büchern nichts zu tun hat, an einem Stand ausprobieren kann. Kurze Begegnungen, Mini-Erregungen. Deswegen geht man hier rum. Mit Messe im klassischen Sinn hat das überhaupt nichts zu tun. Es handelt sich eher um ein riesiges Vergnügungscenter, einen Themenpark für Leute, die sich von den Secondhand-Abstrahlungen des Buches unterhalten lassen wollen.
Ihr Vater, der jedes Museum erst mal eilig durchschritt, um die Bilder nach näherer Betrachtungswürdigkeit systematisch vorzusortieren, hätte hier viel zu tun gehabt ...
(schmunzelt) Vor allem hätte er erst mal überlegt: Ist diese Messe hier überhaupt klug organisiert? Müsste man nicht ein ganz anderes System erfinden, um die Hallen interessanter und strategisch effektiver zu gestalten? Wie ließen sich Haupt- und Nebenwege besser unterscheiden? Wie könnte man das Erlebnis der Leute, die bestimmte Interessensgebiete haben, präziser kanalisieren? Zum Beispiel einen speziellen Pfad für die Fans von Kinderbüchern einrichten, der dann in Halle X beginnt und an einem sinnvollen Stück durch die ganze Messe führt. Mein Vater hätte die Organisatoren hier vor große neue Aufgaben gestellt. (lacht)
Sie hingegen waren immer völlig anders und blieben spontan eine Viertelstunde lang vor einem Gemälde stehen, das Ihnen gefiel. Sie können sich Bilder sogar auf den Strich genau merken. Machen Sie das hier auch? Mitten im Gewühle ein Buch aufschlagen und einfach mal die ersten zehn Seiten lesen?
Nein. Auf der Messe lese ich überhaupt nicht. Meine Merkfähigkeit betrifft tatsächlich primär Bilder. Hier dann etwa Cover von Büchern oder Fotografien, die ich im Großformat an den Wänden sehe. Oder kleine, unauffällige Titel, die mir sprichwörtlich ins Auge fallen. So entsteht dann in meinem Notizbuch eine kleine Sammlung von Büchern, die ich wirklich nur schlendernd und durch Zufall gesehen habe, denen ich aber später näher nachgehen werde.
Das andere, was mein Messeerleben bestimmt, sind kurze Begegnungen. Die meisten hat man in meiner Generation natürlich mit gleichaltrigen Schriftstellern, weil man die Kollegen schon seit Jahrzehnten kennt. Dann beginnt sofort die gegenseitige Alterungskontrolle.
Gestern Abend habe ich Martin Mosebach getroffen, Jahrgang 1951 – wie ich. Man denkt automatisch: Der ist jetzt genauso alt wie du. Und dann checkt man kurz ab, wie sich der Haarausfall beim Gegenüber dramatisch verändert hat und ist beruhigt, dass man selber noch halbwegs alle auf dem Kopf hat. (schmunzelt) Ab und zu vergleicht man natürlich auch sein eigenes Schaffen mit den Werken, die der andere gerade publiziert hat, vor allem, wenn die Themen sich ähneln.
Unter Hochliteraten, um den Begriff jetzt mal etwas zugespitzt zu verwenden, prüft man also Haardichte, Falten und Optik?
Ja, na klar. Peter Handke hat mich während einer Befragung in Paris neulich sogar intensiv nach meiner Faltenverhinderungsstrategie befragt. Er war dann enttäuscht, dass ich gar keine hatte. (lacht)
Redet man in diesem Bereich auch über Verkaufszahlen, wie es beim Small Talk unter Autorinnen und Autoren im Unterhaltungs- oder Jugendbuchbereich durchaus der Fall sein kann?
Nein, über Zahlen redet man nicht. Das liegt aber nicht am Unterschied zwischen der sogenannten ernsten Literatur und der Unterhaltung, sondern daran, dass man heutzutage nicht mehr über Verkaufszahlen schwindeln kann. Früher konnte man behaupten: „Ja, wieder Mal 20.000 Bücher diese Woche verkauft!“ Heute haben alle Verlage die Möglichkeit, die Zahlen der Konkurrenz ganz exakt einzusehen. Dadurch verändern sich auch die Verlagsvorschauen, also die Kataloge, in denen Verlage ihr Programm gegenüber dem Handel oder der Presse anpreisen. Früher posaunte man dort entgegen aller Fakten: „Erstauflage von 100.000 Exemplaren!“ Das macht heute keiner mehr und wenn doch, weiß man, dass es ausnahmsweise stimmt. Somit hat sich das gegenseitige Angeben und Prahlen leider erledigt.
Dann ist davon auszugehen, dass auch die in Ihrem Buch abgedruckte Liste der Bedingungen, die ein Veranstalter für einen Auftritt von Ihnen erfüllen muss – unter anderem das Bereithalten sechs verschiedener, präzise benannter Weinsorten –, ein ganz offener Schwindel ist?
Aber sicher. (lacht) Dennoch entspringt dieses Stück einem großen Ärger von mir. Ich habe ja früher, vor der Schriftstellerlaufbahn, Klavier gespielt und Konzerte gegeben. Die Auftritte als Musiker waren so völlig anders als meine Lesungen. Als Pianist wurde ich in eine hervorragend eingerichtete Garderobe geführt, bin vorher gefragt worden, was ich dort vorfinden will. Diesen oder jenen Kuchen, den Kaffee nicht zu heiß und nicht zu kühl.
Der Service für Sänger, für Theaterleute, für Pianisten ist wunderbar überinstrumentiert. Wenn Sie aber als Schriftsteller eine Lesung in einer Buchhandlung haben, kann es passieren, dass Sie in irgendeine Rumpelkammer oder ein Büro geführt werden, man räumt noch schnell einen klapprigen Stuhl leer, und dann heißt es: „Der Herr Dings kommt gleich, so lange können Sie hier sitzen.“ Keiner serviert einem irgendwas, man wird behandelt, als hätte man gar keinen Auftritt, sondern würde nur so eine kleine Lesenummer abziehen, die den Feierabend verkürzt. Nicht immer natürlich, aber durchaus häufig.
Das hat mich so geärgert, dass ich mir dachte: Ich schreibe jetzt mal einen Text, der widerspiegelt, was in einer Pianistengarderobe passieren würde, und setze das um auf mein Autorenauftritt, damit diese Diskrepanz einmal bemerkt wird.
Verwenden Sie das Stilmittel des kunstvollen literarischen Schwindelns auch in Ihren Tagebüchern? Wie ein Franz Kafka etwa, bei dem offensichtlich reale Alltagsszenen ohne Vorwarnung in surreale Fantasien übergehen?
Nein, denn ich praktiziere bei meinen Aufzeichnungen eine sehr sture Form der Trennung. Die erste Ebene ist rein protokollarisch, die Chronik. Ich halte ganz schlicht meinen Tagesablauf fest, vom Aufstehen bis in die Nacht. Ganz stumpfsinnig. So in etwa: „Mit Linie 4 nach X gefahren, an der Garderobe meinen Mantel abgegeben ...“ Meine Kinder krümmen sich vor Lachen, wenn sie das manchmal lesen. „Wieso schreibst du das denn alles auf? Den Mantel abgegeben? Was soll das?“ Ich bin das aber seit Kindheitstagen so gewohnt, denn ich möchte hinterher genau rekonstruieren können, was ich so gemacht habe. Bis in die letzte Minute.
Vermischen Sie dieses Protokoll mit dem Tagesgeschehen? Um aus Kafkas Tagebüchern zu zitieren: „2. August. Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“
Das Weltgeschehen packe ich in die zweite Ebene, die ich Journal nennen würde. Das führe ich alle paar Tage und verarbeite darin, was ich gelesen oder gehört habe. Politisches und ganz viel Sport. Da schreibe ich zu jedem Thema kleine Texte von fünf bis zehn Zeilen.
Die dritte Ebene ist in der Tat das klassische Tagebuch, aus dem ich aber niemals veröffentlichen würde, weil es wirklich intim ist. Meine Chronik mit dem Mantel an der Garderobe wiederum interessiert ohnehin keinen Menschen, aber die Journaltexte aus den Jahren 1989 bis 1995 habe ich einmal in Blauer Weg zusammengefasst. In diesem Zeitraum ab der Wiedervereinigung habe ich sehr viel erlebt und war zufälligerweise häufig mit Politkern zusammen.
Würden Sie sagen, dass manche Kolleginnen und Kollegen ihr Tagebuch bereits mit dem Gedanken daran geschrieben haben, dass es veröffentlicht wird?
Bei Max Frisch weiß man sogar, dass das so war. Das ist dann die Form des literarischen Tagebuchs, bei dem man als Schriftsteller gleich für die Öffentlichkeit mitdenkt.
Wie stehen Sie denn dann dazu, dass, wie bei Kafka geschehen, Tagebücher, Briefe und auch literarische Fragmente posthum veröffentlicht wurden, obwohl die Autorinnen oder Autoren das ausdrücklich nicht wollten?
Den ausdrücklichen Wunsch eines Autors, Texte nach seinem Tod nicht zu veröffentlichen, sollte man respektieren, was Briefe und Tagebücher betrifft. Bei Geschichten oder Romanfragmenten mag das eine andere Sache sein, denn die sind ja eigentlich immer schon für die Öffentlichkeit gedacht gewesen und nur deswegen nicht erschienen, weil der Autor sie als gescheitert betrachtet hat. Dieses Urteil muss die Nachwelt aber nicht teilen und es ist hochspannend zu sehen, was ein Autor selber für misslungen hielt. Das Private sollte jedoch geschützt bleiben. Aber selbst da entstehen gegen den Willen der Verstorbenen Grauzonen.
Der Nachlass von Martin Heidegger liegt zum Beispiel im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, und es tritt gerade der Fall ein, dass ein winziger Forscherzirkel von 15 bis 20 Leuten in die Texte Einsicht nehmen darf. Niemand sonst. Nur unter denen kursiert jetzt das Wissen über Dinge, die da in den geheimen Kojen liegen. Das finde ich gar nicht gut. Daher muss man seinen Nachlass sehr genau schützen.
Kafkas Nachlass
Erst im Spätsommer 2015 ist in Tel Aviv ein Verfahren in zweiter Instanz zu Ende gegangen, in dem es um Teile von Kafkas künstlerischem Erbe ging, die Max Brod seiner Esther Hoffe offiziell beurkundet geschenkt hatte. Max Brod war Herausgeber und enger Freund Franz Kafkas, der einst, entgegen Kafkas zu Lebzeiten geäußertem Willen, seine unfertigen Romane Der Proceß, Das Schloß und Amerika (Der Verschollene) publizierte, die heute zur Weltliteratur gehören. Esther Hoffe, Brods langjährige Sekretärin, und später ihre Tochter Eva möchten Teile des Nachlasses dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach geben. Dagegen wurde in Israel erfolgreich Einspruch erhoben, wodurch die Schriften nun in der Nationalbibliothek in Jerusalem bleiben.
Wie stellen Sie das für Ihre Notizen sicher?
Zum einen eben durch die Trennung in Chronik, Journal und Tagebuch. Zum anderen durch jene Menschen, denen ich meinen Nachlass anvertraue.
Sie erwägen nicht, die Tagebücher zu vernichten, um sicherzugehen?
Nein, ich kann meine eigene Schrift nicht vernichten. Es ist ein furchtbarer, brutaler Akt gegen sich selbst, das, was man da in Ruhe aufgeschrieben hat, wieder auszuradieren. Ich würde es meiner Familie zugänglich machen; die dürften es ja später lesen. Für die ist es ja eigentlich auch geschrieben. Gedankengänge mitzubekommen, die ich mit ihnen nicht täglich besprechen kann. Das würde sie heute, zu meinen Lebzeiten, in ihrem eigenen Erleben völlig durcheinanderbringen.
Ziehen Sie, als Dozent für Poetik, auch zwischen der ernsten und der unterhaltenden Literatur so klare wie Grenzen wie zwischen Chronik, Journal und Tagebuch?
Ich halte diese Unterscheidung nicht für sinnvoll und sehe in diesem Fall überall fließende Grenzen. Die klare Unterteilung in E und U, in „Hochliteratur“ und „Unterhaltung“, ist eine sehr deutsche Art, mit Literatur umzugehen.
Früher hat mich die Frage danach, zu wie viel Prozent man ein Werk der hohen Literatur zurechnen dürfe, regelrecht erbost. Oder die Frage, ob ich mich selber auch hin und wieder dazu herablasse, leichten Stoff zu lesen. Ich habe dann gerne provoziert und gesagt: „Sicher, es ist immer schön, U-Literatur von Kafka zu lesen.“ Was übrigens gar kein falscher Satz ist. Den Proceß muss man zum Beispiel nicht immer nur als E-Literatur verstehen. Wenn Kafka selbst zu Lebzeiten daraus vorgelesen hat, hat er bei seinen Auftritten über die absurden Szenen darin teilweise viel gelacht.
Ein klares Zeichen für großen Unterhaltungswert.
Eben. Es ist ein kurioser Text, der alles auf den Kopf stellt. Man muss nicht Germanist sein, um Kafka zu lesen, vor Ehrfurcht gefroren und voller Auslegungssucht. Man kann so einen schönen Text auch mal leicht lesen. Das ist eine Frage der Einstellung und keine der Kriterien, die wir von außen an die Sachen herantragen.
Unter Kritikern gibt es eine Art Definition: Wenn die Sprache wichtiger ist als der Plot, dann liegt E-Literatur vor.
Nicht in allen Fällen. Es gibt ja auch Literatur, die dokumentarisch zitiert, die also mit dem sprachlichen Material umgeht, das wir in unserem Alltag finden. Da ist der Schritt hin zur Kunstsprache noch gar nicht geschehen. Große Partien bei James Joyce sind auf diese Weise montiert. Oder historische Stücke, collagiert aus Originaldokumenten. Was machen wir mit denen? Für mich gibt es eine ganz andere Leitunterscheidung und zwar: Wovon geht ein Autor aus, wenn er ein Projekt bearbeitet? Hauptsächlich von seiner eigenen Biografie, wie in meinem Fall? Oder gehört er zu denen, die sich so weit wie möglich von ihrem eigenen biografischen Raum entfernen?
Wie die meisten Autorinnen und Autoren von Thrillern, Krimis oder Politdramen ...
Nicht nur. In der DVD-Dokumentation John Irving und wie er die Welt sieht kann man bestaunen, welch abenteuerliche Recherchen Irving anstellt, um sich in Welten hineinzuarbeiten, die ihm völlig fremd sind. Einmal verbrachte er Wochen mit einem Orgelbauer und einem Organisten. Als Letzterer später den fertigen Roman las, kamen ihm die Tränen. Er meinte, so genau, wie Irving das Wesen der Orgel dort wiedergegeben hat, hätte er es nicht mal selbst formulieren können.
So etwas könnte ich aber nicht. Ich kann mich nur mit Themen beschäftigen, mit denen ich von vornherein eng biografisch verbunden bin.
Was ich liebe und was nicht
Dieses Ortheil-Buch folgt der literarischen Tradition der Bekenntnisliteratur. Geordnet nach Themen wie dem Autofahren, dem Bahnfahren, den Zu- und Abneigungen beim Essen und Trinken oder Tätigkeiten wie dem Fernsehen oder Fotografieren beschreibt er ebenso amüsant wie intensiv und sprachlich brillant, was er warum auf welche Weise tut. Oder eben auch nicht.
Autor: Oliver Uschmann | www.wortguru.de
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 126, Oktober 2017
Foto: Lukas Ortheil
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