
Mehr und mehr Bücher landen in den USA auf dem Index und werden aus Schulbibliotheken verbannt. Zu diesem Ergebnis kommt »Banned in the USA«, eine Untersuchung des PEN America. Zensiert werden vor allem Bücher mit LGBTQ+- und BIPoC-Protagonist*innen sowie Bücher, die sich mit Rassismus beschäftigen oder sexuell aufklären. Die Zensor*innen dürften in der Regel weiße heterosexuelle cis-Frauen und -Männer sein.
In immer mehr Schulen von immer mehr US-amerikanischen Bundesstaaten und Schulbezirken werden Bücher verboten und aus den Schulbibliotheken entfernt. Das ergab die Untersuchung des PEN America »Banned in the USA: The Growing Movement to Censor Books in Schools«. Sie wurde am 19. September 2022 veröffentlicht.
2.532 dokumentierte Fälle von Buchverboten von Juli 2021 bis Juni 2022
Die Untersuchung von Jonathan Friedman, Ph.D., und Nadine Farid Johnson, PEN-America-Expert*in, bezieht sich auf den Zeitraum von Juli 2021 bis Juni 2022. Demnach gab es 2.532 dokumentierte Fälle von Buchverboten, die dem PEN America direkt gemeldet wurden und/oder über die in den Medien berichtet wurde. Wahrscheinlich, so die beiden, gibt es weitere Verbote, die nicht gemeldet wurden. 1.648 einzelne Buchtitel waren davon betroffen.
Verbote gab es in 138 Schulbezirken in 32 Staaten. Diese Bezirke repräsentieren 5.049 Schulen mit fast 4 Millionen Schülerinnen und Schülern.
Verboten werden vor allem LGBTQ+- und BIPoC-Titel
Von den 1.648 Titeln, die auf dem Index landeten, waren:
• 674 Titel (41 Prozent), die explizit LGBTQ+-Themen behandeln oder Protagonist*innen oder Nebenfiguren haben, die LGBTQ+ sind;
• 659 Titel (40 Prozent), die BIPoC-Protagonist*innen oder -Nebenfiguren enthalten;
• 338 Titel (21 Prozent), die sich direkt mit Fragen der Rasse und des Rassismus befassen;
• 357 Titel (22 Prozent), die sexuelle Inhalte unterschiedlicher Art enthalten, darunter Romane, in denen sexuelle Erfahrungen von Teenagern beschrieben werden, Geschichten über Teenagerschwangerschaften, sexuelle Übergriffe und Abtreibung sowie Informationsbücher über Pubertät, Sex oder Beziehungen;
• 161 Titel (10 Prozent), die sich Themen widmen, die mit Rechten und Aktivismus zu tun haben;
• 141 Titel (9 Prozent), die Biografien, Autobiografien oder Memoirs sind;
• 64 Titel (4 Prozent), die Figuren und Geschichten enthalten, die religiöse Minderheiten wie Juden, Muslime und andere Glaubensrichtungen widerspiegeln.
Friedman und Johnson haben herausgefunden, dass die große Mehrheit der heute verhängten Bücherverbote von Organisationen geplant und durchgeführt werde. Es handle sich dabei also nicht um einzelne [wahrscheinlich zumeist weiße, heterosexuelle cis-] Mütter und Väter, die um das Wohl ihres Kindes besorgt seien und spontan darauf drängten, ein unliebsames Buch aus der Schulbibliothek zu entfernen.
Der PEN America schätzt, dass mindestens 40 Prozent der im Index aufgeführten Verbote (1.109 Verbote) entweder mit vorgeschlagenen oder erlassenen Gesetzen oder mit politischem Druck von Staatsbeamten oder gewählten Gesetzgebern zusammenhängen, um den Unterricht oder die Präsenz bestimmter Bücher oder Konzepte einzuschränken.
Die Forschenden konnten mindestens 50 Gruppen ausfindig machen, die sich auf nationaler, bundesstaatlicher oder lokaler Ebene für ein Verbot von Büchern im ganzen Land einsetzen. Diese Gruppen teilen Listen von Büchern, die sie verbieten lassen wollen, und sie wenden spezielle Taktiken an: Schulausschusssitzungen werden aufgesucht, Bücher als »obszön« oder »pornografisch« diffamiert und Strafanzeigen gegen Schulbeamte, Lehrerinnen und Bibliothekare gestellt. Die meisten dieser Gruppen scheinen sich, so der PEN America, im Jahr 2021 gebildet zu haben. Etliche verträten christlich-nationalistische politische Ansichten. [Backlash]
Eine parallele, aber damit verbundene Bewegung zielt, so der Bericht, auch auf öffentliche Bibliotheken ab mit Aufrufen zum Verbot von Büchern, Versuchen, Bibliothekare einzuschüchtern, zu belästigen oder zu entlassen, und sogar Versuchen, ganze Bibliotheken zu schließen.
Von den 2.532 Verboten, die im Index aufgeführt sind, wurden 96 Prozent erlassen, ohne die von der American Library Association (ALA) und der National Coalition Against Censorship (NCAC) aufgestellten Best-Practice-Richtlinien für Buchanfechtungen zu befolgen.
Insgesamt zeichnet der Bericht ein Besorgnis erregendes Bild für den Zugang zu Literatur, insbesondere zu vielfältiger Literatur, an US-amerikanischen Schulen. Buchverbote in Schulen seien eine Front in einem totalen Krieg gegen die Bildung und die offene Diskussion und Debatte von Ideen in Amerika.
Verbotene Bücher im Schuljahr 2021–22
Zu den am meisten verbotenen Titeln gehören das bahnbrechende Werk der Nobelpreisträgerin Toni Morrison sowie Bestseller, die Spielfilme, Fernsehserien und eine Broadway-Show inspiriert haben. Die Liste enthält Bücher, die wegen ihres LGBTQ+-Inhalts, ihres Inhalts in Bezug auf Rasse und Rassismus oder ihres sexuellen Inhalts – oder aller drei – ins Visier genommen worden sind.
• Gender Queer: A Memoir von Maia Kobabe (41 Schuldistrikte)
• All Boys Aren’t Blue von George M. Johnson (29 Schuldistrikte)
• Out of Darkness von Ashley Hope Pérez (24 Schuldistrikte)
• The Bluest Eye von Toni Morrison (22 Schuldistrikte)
• The Hate U Give von Angie Thomas (17 Schuldistrikte)
• Lawn Boy von Jonathan Evison (17 Destrikte)
• The Absolutely True Diary of a Part-Time Indian von Sherman Alexie (16 Schuldistrikte)
• Me and Earl and the Dying Girl von Jesse Andrews (14 Schuldistrikte)
• Crank by Ellen Hopkins (12 Schuldistrikte)
• The Kite Runner von Khaled Hosseini (12 Schuldistrikte)
• l8r, g8r von Lauren Myracle (12 Schuldistrikte)
• Thirteen Reasons Why von Jay Asher (12 Schuldistrikte)
• Beloved von Toni Morrison (11 Schuldistrikte)
• Beyond Magenta: Transgender Teens Speak Out von Susan Kuklin (11 Schuldistrikte)
• Drama: A Graphic Novel von Raina Telgemeier (11 Schuldistrikte)
• Looking for Alaska von John Green (11 Schuldistrikte)
• Melissa von Alex Gino (11 Schuldistrikte)
• This Book Is Gay von Juno Dawson (11 Schuldistrikte)
• This One Summer von Mariko Tamaki and Jillian Tamaki (11 Schuldistrikte)
Die am häufigsten verbotenen Autorinnen und Autoren:
• Hopkins, Ellen – 14 Titel – 43 Verbote – 20 Schuldistrikte
• Kobabe, Maia – 1 Titel – 41 Verbote – 41 Schuldistrikte
• Morrison, Toni – 3 Titel – 34 Verbote – 25 Schuldistrikte
• Johnson, George M. – 2 Titel – 30 Verbote – 29 Schuldistrikte
• Myracle, Lauren – 11 Titel – 30 Verbote – 16 Schuldistrikte
• Pérez, Ashley Hope – 1 Titel – 23 Verbote – 23 Schuldistrikte
• Thomas, Angie – 2 Titel – 19 Verbote – 17 Schuldistrikte
• Silvera, Adam – 9 Titel – 18 Verbote – 13 Schuldistrikte
• Reynolds, Jason – 6 Titel – 18 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Maas, Sarah J. – 8 Titel – 18 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Levithan, David – 15 Titel – 17 Verbote – 18 Schuldistrikte
• Alexie, Sherman – 2 Titel – 17 Verbote – 17 Schuldistrikte
• Evison, Jonathan – 1 Titel – 17 Verbote – 17 Schuldistrikte
• Andrews, Jesse – 2 Titel – 17 Verbote – 16 Schuldistrikte
• Faruqi, Saadia – 17 Titel – 17 Verbote – 2 Schuldistrikte
• Jules, Jacqueline – 17 Titel – 17 Verbote – 2 Schuldistrikte
• Do, Anh – 17 Titel – 17 Verbote – 1 Schuldistrikte
• Green, John – 3 Titel – 16 Verbote – 15 Schuldistrikte
• Atwood, Margaret – 3 Titel – 15 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Hutchinson, Shaun David – 6 Titel – 15 Verbote – 7 Schuldistrikte
• Albertalli, Becky – 7 Titel – 14 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Miedoso, Andrés – 14 Titel – 14 Verbote – 1 Schuldistrikte
• Gino, Alex – 2 Titel – 13 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Woodson, Jacqueline – 11 Titel – 13 Verbote – 6 Schuldistrikte
• Asher, Jay – 1 title – 12 Verbote – 12 Schuldistrikte
• Hosseini, Khaled – 1 title – 12 Verbote – 12 Schuldistrikte
• Dawson, Juno – 2 Titel – 12 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Tamaki, Mariko – 2 Titel – 12 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Picoult, Jodi – 3 Titel – 12 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Glines, Abbi – 9 Titel – 12 Verbote – 5 Schuldistrikte
• Peters, Julie Anne – 8 Titel – 12 Verbote – 4 Schuldistrikte
• Cast, Kristen – 12 Titel – 12 Verbote – 1 Schuldistrikte
• Cast, P. C. – 12 Titel – 12 Verbote – 1 Schuldistrikte
• Kuklin, Susan – 1 title – 11 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Telgemeier, Raina – 1 title – 11 Verbote – 11 Schuldistrikte
• Jennings, Jazz – 2 Titel – 11 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Stone, Nic – 3 Titel – 11 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Lockhart, E. – 3 Titel – 11 Verbote – 8 Schuldistrikte
• Brown, Monica – 10 Titel – 11 Verbote – 2 Schuldistrikte
• Kendi, Ibram X. – 7 Titel – 10 Verbote – 12 Schuldistrikte
• Anderson, Laurie Halse – 3 Titel – 10 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Curato, Mike – 1 title – 10 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Rosen, L. C. – 1 title – 10 Verbote – 10 Schuldistrikte
• Clare, Cassandra – 5 Titel – 10 Verbote – 8 Schuldistrikte
• Arnold, Elana K. – 7 Titel – 10 Verbote – 5 Schuldistrikte
• Konigsberg, Bill – 5 Titel – 10 Verbote – 5 Schuldistrikte
»Hier geht es nicht um die Bücher. Es geht vielmehr um die Rechte von LGBTQ-Personen und People of Color«
Kyle Lukoff, Autor des Bilderbuchs »When Aidan Became a Brother« (2 Verbote) und des Taschenbuchs »Call me Max« (2 Verbote) über die Verbote: »Wenn Leute sagen, dass Bücher über queere Erwachsene oder Kinder nicht für Kinder geeignet seien, dann sagen sie, dass Kinder nichts über die Existenz von LGBTQ-Menschen wissen sollten. [...] Hier geht es nicht um die Bücher. Es geht vielmehr um die Rechte von LGBTQ-Personen und People of Color in einer Gesellschaft zu existieren und zu gedeihen, und zwar gleichberechtigt und mit voller Kraft, wenn nicht gar Gleichheit.«
Ashley Hope Pérez, Autorin von »Out of Darkness« (24 Verbote) über die Verbote: »Ich denke, der Grund dafür, dass Out of Darkness Kontroversen ausgelöst hat oder zum Ziel von Buchverboten geworden ist, hat mit dem Unbehagen der Erwachsenen zu tun. Es gibt Erwachsene, die Angst haben, bestimmte Gespräche mit jungen Menschen zu führen, die Angst haben, dass ihre Werte in Frage gestellt werden, und die Inhalte kontrollieren wollen, zu denen junge Menschen Zugang haben. Und was wir über junge Menschen wissen, ist, dass sie bereit sind, diese Gespräche zu führen. Wenn wir ihnen die Bücher wegnehmen, die Raum für diese schwierigen Gespräche bieten, nehmen wir ihnen die Ressourcen, die sie brauchen, um mit den Realitäten zurechtzukommen, mit denen sie konfrontiert sind, unabhängig davon, ob es dieses Buch gibt oder nicht.«
Wo kommt es zu Buchverboten?
Von Juli 2021 bis Juni 2022 kam es in 32 US-Bundesstaaten und 138 Schuldistrikten zu Buchverboten. Texas, Florida, Pennsylvania und Tennessee haben dabei die Nase vorn und sind offenbar besonders rassistisch, LGBTQ+feindlich und sexuell verklemmt:
- Texas: 801 Verbote, 22 Schuldistrikte
- Florida: 566 Verbote, 21 Schuldistrikte
- Pennsylvania: 457 Verbote, 11 Schuldistrikte
- Tennessee: 349 Verbote, 6 Schuldistrikte
- Oklahoma: 43 Verbote, 3 Schuldistrikte
- Michigan: 41 Verbote, 4 Schuldistrikte
- Kansas: 30 Verbote, 2 Schuldistrikte
- Wisconsin: 29 Verbote, 6 Schuldistrikte
- Missouri: 27 Verbote, 8 Schuldistrikte
- Idaho: 26 Verbote, 3 Schuldistrikte
- Georgia: 23 Verbote, 2 Schuldistrikte
- Mississippi: 22 Verbote, 1 Schuldistrikte
- Virginia: 19 Verbote, 9 Schuldistrikte
- Indiana: 18 Verbote, 3 Schuldistrikte
- North Carolina: 16 Verbote, 5 Schuldistrikte
- New York: 13 Verbote, 4 Schuldistrikte
- Utah: 12 Verbote, 3 Schuldistrikte
PEN America zieht düsteres Fazit
Angesichts der raschen Ausbreitung von Bücherverboten im ganzen Land scheint es unvermeidlich, dass das daraus resultierende Klima der Vorsicht und Angst zu einer Zurückhaltung bei Lehrerinnen, Verwaltungsangestellten und Bibliothekaren führt, Risiken einzugehen, die ihre eigene Beschäftigung, ihr Budget, ihren Ruf und sogar ihre persönliche Sicherheit beeinträchtigen könnten.
Die beispiellose Flut von Bücherverboten im Schuljahr 2021/22 spiegelt die zunehmende Organisation von Gruppen wider, die sich für solche Verbote einsetzen, die zunehmende Beteiligung von Staatsbeamten an Debatten über Bücherverbote und die Einführung neuer Gesetze und Strategien. In den meisten Fällen gehen die aktuellen Anfechtungen von Büchern nicht von besorgten Eltern aus, die individuell handeln, sondern von politischen Gruppen und Interessengruppen. Diese Gruppen verfolgen gemeinsam das Ziel, den Zugang zu Büchern zu beschränken, die Schüler*innen in öffentlichen Schulen lesen können.
Zensur beeinträchtig das Wohl von Millionen von Kindern und unterwandert die amerikanische Demokratie
Der daraus resultierende Schaden sei weitreichend, denn er beeinträchtigt die Pädagogik und die geistige Freiheit und schränkt die berufliche Autonomie von Schulbibliothekarinnen und Lehrern ein. Die Auswirkungen reichten jedoch weiter und beträfen auch das Wohl der von diesen Verboten betroffenen Schülerinnen und Schüler.
Kinder – so der PEN America – verdienen es, sich selbst in Büchern zu sehen, und sie verdienen den Zugang zu einer Vielfalt von Geschichten und Perspektiven, die ihnen helfen, die Welt um sie herum zu verstehen und sich darin zurechtzufinden. Öffentliche Schulen, die Bücher verbieten, die verschiedene Identitäten widerspiegeln, laufen Gefahr, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Schüler*innen ausgeschlossen fühlen. Das hat tiefgreifende Auswirkungen darauf, wie die Schüler*innen lernen und zu informierten Bürger*innen in einer pluralistischen und vielfältigen Gesellschaft werden.
Der PEN America: Das Verbot von Büchern beeinträchtigt das Recht auf freie Meinungsäußerung, das in einer offenen, integrativen und demokratischen Gesellschaft das Fundament der öffentlichen Schulen sein muss. Diese Verbote stellen einen gefährlichen Präzedenzfall für die Menschen innerhalb und außerhalb der Schulen dar und überschneiden sich mit anderen Bewegungen, die darauf abzielen, die Fortschritte bei den Bürgerrechten für historisch marginalisierte Menschen zu blockieren oder zu beschneiden.
Siehe hierzu auch diese Meldung im Blog der Autorenwelt.
Blogbild: Foto: Shingi Rice, unsplash