Sie sind hier

Karl Schlögel erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2025

Branchen-News
Sandra Uschtrin
Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche am 19.10.2025 bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Der deutsche Historiker und Essayist Karl Schlögel wurde am 19.10.2025 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In seiner Dankesrede warnt er vor Putin und ruft den Westen dazu auf, von der Ukraine zu lernen.

Der deutsche Historiker und Essayist Karl Schlögel erhielt am Buchmesse-Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Laudatio hielt die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Katja Petrowskaja.

Dankesrede von Karl Schlögel „Von der Ukraine lernen“

Die bewegende und aufrüttelnde Dankesrede von Karl Schlögel sowie alle anderen Reden lassen sich auf der Website des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nachlesen.

Karl Schlögels Rede steht unter dem Titel „Von der Ukraine lernen. Verhaltenslehren des Widerstands“. Zunächst einmal wirft er einen Blick zurück und sagt: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in Vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, (…) ich konnte mir nicht ein Amerika (…) vorstellen, in dem sich einmal Angst vor einem autoritären Regime würde ausbreiten können. Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte. Vor allem aber: dass der Krieg (…) etwas Reales in der nächsten Nachbarschaft werden könnte.“
 
Er stellt fest, dass es in Deutschland erstaunlich lange gedauert habe, gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat. Besonders geht er auf die Führung Russlands durch Präsident Putin ein: „Er hat den Tisch, an dem Verhandlungen und Gespräche nach bestimmten Spielregeln stattfinden sollten, einfach umgestoßen und mit Bravour die Regelverletzung zum System erklärt, lange bevor der Terminus der Disruption in Umlauf kam. Er war und ist der Meister der Eskalationsdominanz, der wohl kalkulierten Verschärfung von Konflikten, den kalkulierten Bruch des Nukleartabus eingeschlossen. Die Angst ist seine wichtigste Waffe, und in der Bewirtschaftung der Angst besteht sein wahres Talent.“

Hier ein Ausschnitt aus Karl Schlögels Rede über den Krieg:

„Putins Russland ist entschlossen, die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte Europas zu tilgen. Putin hat es offen erklärt und beweist Tag für Tag seither, dass es ihm ernst damit ist. Kein Wort kommt an die Bilder der Zerstörung heran. Keine Grausamkeit, die seine Truppen nicht begangen haben. Nichts und niemand, der nicht zur Zielscheibe von Drohnen und Raketen geworden ist: Marktplätze, Wohnviertel, Museen, Krankenhäuser, Hafenanlagen, Bahnhöfe. Städte, die gerade dabei waren, sich in Form zu bringen – neue Flughäfen, Verkehrswege, Hotels – werden zurückgebombt. Städte werden zum Gelände, in dem man mit Drohnen auf Menschenjagd geht. Auf den Volltreffer der Rakete folgt der Volltreffer auf die Rettungsmannschaft. Die Industriegiganten des sozialistischen Aufbaus werden genauso in Schutt und Asche gelegt wie Kirchen, Klosteranlagen oder Sanatorien. Was einmal das ukrainische Ruhrgebiet war, gibt es nicht mehr. Wenn man das Land schon nicht erobern kann, dann muss es wenigstens zerstört, unlebbar gemacht werden. Ein neuer Begriff macht die Runde: Urbizid. Wüstungen des 21. Jahrhunderts, gesprengte Staudämme und Brücken, geflutete Landschaft, Schwarzerde-Felder verbrannt und verseucht auf Generationen, ethnische Säuberung und Entführung von Zehntausenden von Kindern, die besetzten Gebiete als großes Lager unter der Regie von Warlords und Kriminellen. Das Unheil, das Putins Russland über die Ukraine gebracht hat, hat viele Namen: Imperialismus, Revisionismus, Mafia-Staat, Faschismus, Raschismus. Seine Verbrechen sind in einer unendlich großen Zahl von Bildern in Echtzeit dokumentiert und gespeichert, die Namen der Täter – ob an der Front, in den Folterkellern, in den Propaganda- und Kommandostäben – werden gewiss noch ausfindig gemacht werden.“

Karl Schlögel spricht darüber, wie Putins Propaganda wirkt: „Der Krieg, den Russland nach Europa zurückgebracht hat, wird nicht nur mit militärischen Mitteln geführt, sondern als Krieg um die Köpfe, mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments, mit Nostalgien oder als verlockendes Angebot, zu business as usual zurückzukehren.“ Die Ukrainer, so sagt er, „wissen, dass ein zu allem entschlossener Aggressor sich nicht mit Worten aufhalten lässt. Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich.“ Die Bürger*innen der Ukraine würden uns helfen zu verstehen, dass wir es „mit einem Regime zu tun haben, das die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will und das Europa hasst.“

Was können wir von den Ukrainer*innen lernen? „Sie sind der Spiegel, in den wir blicken und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen. (…) Sie kennen sich aus mit Verhaltenslehren des Widerstands und bringen den Europäern bei, was auf sie zukommt, wenn sie nicht endlich sich auf den Ernstfall vorbereiten.“ Schlögel schließt mit den Worten: „Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen.“
 
Katja Petrowskaja
beschreibt in ihrer Laudatio Karl Schlögel als Historiker, der sich seit vierzig Jahren bemühe, „über Staatsgrenzen hinwegzuschauen, festgefahrene Vorurteile aufzulösen, sich dem Unwissen entgegenzustellen“. Das tue er durch Reisen, mit akribischen Archivarbeiten und durch direkte Begegnungen mit Menschen. Sie spricht über Schlögels Erfahrungsbereitschaft, seine „Fähigkeit zu beobachten und die Welt mit allen Poren aufzusaugen.“ Thematisch habe Schlögel sein Leben der Erforschung des mittleren und östlichen Europas gewidmet. Dabei habe er große Bücher verfasst, die „wie Symphonien aufgebaut seien, mit einer sich fortbewegenden sogartigen Intonation.“ Als Mensch sei er für sie und für viele andere Ukrainer*innen „zu einer Stütze, zum Inbegriff von Standhaftigkeit, jenseits der ideologischen Fallen“ geworden.
 
Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, bezeichnet Karl Schlögel als jemanden, der sich im Laufe seines Lebens vom Beobachter Osteuropas und Russlands zum „gefragten und ebenso weisen wie leisen Berater von Politiker*innen“ entwickelt habe, weil er die Welt im Osten versteht: „Er ist ein Archäologe, der Raum und Zeit abschichtet. Und jede Scherbe, die er aufhebt, wird durch ihn zu einem funkelnden Kaleidoskop der Geschichte.“

Über den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Seit 1950 vergibt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Preisträger*innen waren unter anderem Albert Schweitzer, Astrid Lindgren, Václav Havel, Jürgen Habermas, Susan Sontag, Navid Kermani, Margaret Atwood, Aleida und Jan Assmann, Serhij Zhadan, Salman Rushdie und im vergangenen Jahr Anne Applebaum. Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.
 
Das Buch mit allen Reden der Preisverleihung ist ab dem 19. November 2025 im Buchhandel oder beim MVB-Kundenservice unter [email protected] erhältlich (ISBN: 978-3-7657-3457-1, 19,90 Euro).

Blogbild: Karl Schlögel bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2025. Foto: Tobias Bohm