Dieser Roman von Christos Anastasopoulos, herausgegeben vom Filyra Verlag (Athen), handelt von dem antifaschistischen deutschen Soldat, Werner Wilmer, der bei den Bewährungsbatallion 999 im zweiten Weltkrieg in Athen unter deutscher Besatzung (19401944) war und dem zweisprachig aufgewachsenen deutsch-griechischen Enkelsohn, Sebastian Liargovas, welcher im Zeitraum von 2011-2016 Student an der Freien Universität Berlin ist und an seinem Doktorat arbeitet.
In diesem Roman wird der 25-jährige Sebastian Liargovas einerseits mit der Gewalt der heutigen deutschen faschistischen Aggressivität konfrontiert, andererseits ist der auf der Suche nach seinen griechischen Wurzeln, deren Spuren sich in Athen unter der deutschen Besatzung verwischt haben. Zeitgleich unterrichtet Sebastian Liargovas an der FU Berlin das Fach „die Geburt und Wachstum des Europäischen Faschismus“.
Die Handlung des Romans spielt sich in zwei verschiedenen Zeiten, sowie in zwei verschiedenen Hauptstädten ab.
Der Leser erhält durch die bildhafte Schrift des Textes viele Informationen, sowohl über die Zeit und das Leben der Menschen, die im zweiten Weltkrieg in Athen lebten, als auch über das Leben im heutigen interkulturellen Berlin, unter Sebastians tiefgründiger Betrachtung. Spannend ist auch der Bericht über das Internationale Rote Kreuz, das im Zeitraum von 1942-1944 mit seiner Aktion im besetzten Athen tausende von Kindern vom Hunger und Tod rettete.
Sowohl durch die tatsächlichen historischen Elemente, als auch durch die authentische Schilderung des heutigen Berlins, wo die Hauptfiguren handeln, wird dieser Roman zu einem wichtigen Text, nicht nur für griechische, sondern auch für deutsche Leser. Die meisten haben gewiss nichts von diesen tapferen, antifaschistischen, linken deutschen Soldaten nichts gehört, die gegen Hitler kämpften, während sehr viele von ihnen auch an die Seite der Partisanen des EAM-ELAS beitraten. Zudem werden interessante historische Elemente präsentiert, die das innige Verhältnis zwischen griechischer und deutscher politischen und wirtschaftlichen Korruption, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts zum Vorschein kam.
So wird dem Griechen-Deutschen, dem Deutsch-Griechen Sebastian Liargovas durch das Entdecken seiner Wurzeln bewusst, dass er nur mit einem „ja“ im Leben friedlich und harmonisch leben kann, während er seine beiden Mentalitäten , Kulturen und Sprachen gleichzeitig erleben darf.
1.'' Der Vater meines Vaters war Deutscher und als Soldat in Griechenland. Er war beim sogenannten Bewährungsbataillon 999 und später in der griechischen Widerstandsbewegung EAM-ELAS aktiv. Im März 1942 kam er mit dem Bataillon 999 in Athen an. Dieses Bataillon bestand aus „Unerwünschten“, die Straftaten begangen hatten oder Linke und bekennende Antifaschisten waren, die sich gegen Hitlers Politik eingesetzt hatten. Später unterstützten sie den Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Meine Großmutter war Griechin und kämpfte zusammen mit ihm auf derselben Seite. Mein Großvater hieß Werner Wilmer, meine Großmutter Lela Liargova. Sie lernten sich in der Parfümerie meines Urgroßvaters kennen, eine der wenigen Parfümerien in Athen, die „Violetta von Parma“ hieß. Mein Großvater leitete geheime Informationen an den Griechischen Widerstand weiter. In den ersten sieben Monaten bis Ende Oktober 1942 war er als Assistent in der Telefonzentrale am Omoniaplatz tätig. Er half dort dem deutschen Telefonisten. Manchmal vertrat er ihn sogar auf seinem Posten. So erfuhr er alle Pläne der deutschen Besatzer aus erster Hand. Parallel zu dieser Beschäftigung kam er mit einer linken deutschen Geheimorganisation in Kontakt, die mit Genossen in Jugoslawien und Frankreich in Verbindung standen und die am dortigen jugoslawischen und französischen Widerstand teilnahmen. Jeden Tag brachte er verschlüsselte Telegramme von der Telefonzentrale am Omoniaplatz in die deutsche Botschaft. Dort nahm ein griechischer Übersetzer namens Theseus Katrakis die Telegramme entgegen''.
2.... ''ich tauchte wieder aus meinen Gedanken auf, stieg eine kleine Holzleiter hoch und zog wie gebannt ein gelblich verblichenes Buch aus dem obersten Regalbrett. Es trug den Titel „DIE GEISELERSCHIESSUNG“. Ich blieb eine geraume Weile auf der obersten Stufe stehen und blätterte das Buch durch. Ich bemerkte eine Reihe schwarzweißer Fotografien aus der Zeit der Besatzung in Kreta. Diese schwarzweißen Fotografien, einige von ihnen waren auch Teil eines Films, waren von einem deutschen Offizier aufgenommen worden. Darauf waren Männer
zwischen fünfzehn und fünfundsiebzig Jahren zu sehen, die sich im Juni 1941 in einem wunderschönen Olivenhain in der Nähe von Chaniá versammelt hatten. Diese Männer waren von deutschen Soldaten als Geiseln genommen worden. Bei ihrem Versuch, Kreta zu besetzen, hatten die deutschen Fallschirmjäger Riesenverluste gemacht, die sie durch die Geiselnahme dieser Männer auszugleichen versuchten. Die Aufnahmen waren schwarzweiß und beeindruckend klar. Ich konnte die Gesichter der Geiseln klar erkennen. Sie hatten einen stolzen Gesichtsausdruck und wirkten fast furchtlos. Sie wussten vermutlich ziemlich sicher, dass sie sterben würden. Trotz allem saßen sie in dem schattigen Olivenhain und warteten. Einer zog meine Aufmerksamkeit besonders auf sich. Er hatte eine starke Ausstrahlung und sah mit seinem schneeweißen Bart aus wie der Älteste. Er trug eine traditionelle kretische Pumphose, hielt einen Hirtenstab in der Hand und schien das Wort zu führen. Ich bin mir sicher, dass dieser alte Mann sehr gut wusste, was kurz darauf geschehen würde. Die Hinrichtung der Geiseln war aus verschiedenen Winkeln fotografiert worden. Ich nehme an, dass der Fotograf schnell von rechts und links gelaufen ist, um die Hinrichtung perfekt zu verewigen, als sei es eine Sehenswürdigkeit für Touristen mit dem Titel „Wie reagieren die Kreter auf Salven zur Sommerzeit in einem Olivenhain?“ Der Staub, der von der trockenen kretischen Sommererde hochstieg, wirkte abschreckend. Vermutlich hat der Aufprall der vielen Kugeln diese Riesenstaubwolke aufgewirbelt, durch die man auch die Körper nicht klar erkennen konnte. Es wirkte unecht, wie sie auf die Erde fielen.''
3 ''…von klein auf war mir der Wert meiner ganz persönlichen Heiligen Orte bewusst. Meine Eltern hatten mich dazu erzogen, die wenigen bedeutenden Dinge des Lebens von den unbedeutenden zu unterscheiden. So wurde der Spielplatz um die Ecke im Paradeiso von Amarousi, das Grundstück meines Großvaters im Dorf in Kastellokampo und meine Grundschule neben der S- Bahn- Station für mich schon ganz früh zu meinen ersten drei Heiligen Orten. Schon als Teenager wurde mir bewusst, dass ein Heiliger Ort nicht unbedingt eine Kirche oder ein Kloster sein muss- obwohl er es für manche Leute sein kann- sondern
ein Ort, wo Menschen auf der gleichen Wellenlänge schwingen und auf diese Weise Liebe entsteht. Später wurde mir klar, dass die Liebe nichts für schwache Menschen ist. Je älter ich werde, desto reichhaltiger werden auch meine Heiligen Orte. Es sind auch archäologische Stätten hinzugekommen, wie Delphi, Mykene, Olympia oder auch ein bestimmter Tamariskenbaum an einem Strand in Elaia von Messenien, eine kleine Bank auf dem Exarcheion-Platz, die Grabstätte meiner Eltern, das Kap Sounion, meine inneren Orte, die in mir entstehen, wenn ich beispielsweise Texte von Samuel Beckett und Maro Loizou lese oder wenn ich Musik von Chatzidakis, Vamvakaris und Tsitsanis höre. Diese Aufzählung ist mit Sicherheit unvollständig. Es ist wichtig, dass wir unsere Heiligen Orte immer wieder aufsuchen, uns auf sie einschwingen und sie ehren. Und auch unsere gemeinsamen Heiligen Orte zu finden. Mein Bedürfnis danach, unsere gemeinsamen Heiligen Orte herauszufinden, führte mich zur Herausgabe dieses Literaturbändchen mit dem gleichnamigen Titel.''
4'' ...ich laufe. Ich laufe viel. In diesem Sommer 1943 treffen Werner und ich uns immer direkt am Meer. Er weiß, dass er verfolgt wird und warnt mich davor, dass auch ich mit einer Verhaftung rechnen muss. In den Augen der Deutschen bin ich mittlerweile die offizielle Mätresse des deutschen Soldaten Werner Wilmer. Die Idee unseres gemeinsamen Freundes Theseus Katrakis, meinen Eltern von unserer Beziehung vorab zu erzählen, verhinderte glücklicherweise viele zusätzliche Schwierigkeiten. Meine Eltern reagierten überwiegend positiv, wobei wir ihnen nichts von Werners bevorstehender Verhaftung erzählten. Ich berichtete ihnen aber von seiner zutiefst antifaschistischen Haltung und in allen Einzelheiten von dem Bündnis, das mithilfe von Theseus in der Deutschen Botschaft in Athen organisiert worden war. Es sind wichtige Informationen in Widerstandsorganisationen der Stadt in Umlauf. Die Informationen betreffen die Tätigkeit Griechischer Kollaborateure, die dann als Mitglieder der sogenannten Sicherheitsbataillone rekrutiert werden und so offiziell –von der griechischen Regierung abgesegnet- mit der deutschen Besatzung zusammen arbeiten. Diese Mitglieder der Sicherheitsbataillone und einige der Evzonen-Bataillone (Soldaten der ehemaligen königlich-griechischen Leibgarde) sind mit Waffen des
deutschen Heeres ausgestattet. Viele dieser Kollaborateure sind Schwarzhändler. Indem sie besonders seit dem Winter 1941 mit den Deutschen zusammenarbeiten, häufen sie riesige Vermögen, Gold, Schmuck und Immobilien an. Nachher verbessert sich die allgemeine Versorgungslage, vor allem durch die Aktionen des Roten Kreuzes, und die meisten Schwarzhändler werden Mitglieder der Sicherheitsbataillone. Die Wenigsten von ihnen sprechen Deutsch. Theseus wird als Dolmetscher eingesetzt. Auf diese Weise erfährt er aus erster Hand, wann und wo die Deutschen, zusammen mit den Kollaborateuren, die nächsten bewaffneten Blockaden planen. Sie benachrichtigen Werner, und er überbringt die Informationen an die Verbände, die er hauptsächlich mit linken Widerstandsgruppierungen ins Leben gerufen hat. Schon Ende des Sommers 1943 warnt Theseus Werner, er solle vorsichtig sein. Angestellte der Deutschen Botschaft haben durchsickern lassen, dass Werner in naher Zukunft verhaftet und womöglich sogar hingerichtet werden soll. Außerdem kommt ihm zu Ohren, dass in Jugoslawien einige seiner Mitarbeiter von ihren Offizieren einfach verhaftet und ohne Prozess hingerichtet worden sind. Werner hat jetzt nicht mehr viel Zeit. Er muss sofort etwas tun. Seine einzige Chance ist- das haben auch einige andere seiner Mitarbeiter getan- sich linken Widerstandsgruppen anzuschließen und in die Berge zu fliehen. Er erfährt von Theseus, dass die Deutsche Botschaft bis Ende Oktober 1943 schließen wird. So ist auch die Zeit der „offiziell griechischfreundlichen Politik“ beendet. Die Haltung der Deutschen verhärtet sich nun sehr schnell. Theseus wird entlassen, Werner verliert mit einem Schlag alle seine Mitstreiter und Informanten und trifft eine grundlegende Entscheidung. Er legt die deutsche Uniform ab und läuft zu EAM-ELAS über. Auch wenn er mit vielen Entscheidungen und Operationen der Organisation nicht einverstanden ist, ist es die einzige Möglichkeit für ihn, organisiert gegen das Ungeheuer Faschismus anzukämpfen.''
5 ''...ich liege neben Renate. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund schlafe ich in den letzten sieben Monaten, genauer gesagt seit dem 15.
September, nicht so gut. Ich habe Alpträume. Besonders häufig träume ich von Explosionen. Bilder von abgeschlagenen Köpfen, zerquetschten Gliedern, zerfetztem blutigen Fleisch füllen mein Unterbewusstsein. Bei jeder Explosion stehe ich daneben. Als Zuschauer. Niemals werde ich auch in die Luft gesprengt. Jedesmal ist es dasselbe Martyrium für mich. Das Martyrium des Beobachters, der nichts tun kann, der aber alles detailliert mitbekommt. In den letzten beiden Monaten habe ich es mit der Kraft meines bewussten Verstandes geschafft, die Dauer dieser Träume zu kontrollieren. Das bedeutet, dass ich entscheide, wann ich aufwache. Und diese „Fähigkeit zu unterbrechen“, hat mir einige etwas entspanntere, ruhigere Nächte beschert. Heute habe ich es nicht geschafft, den Alptraum unter Kontrolle zu bekommen. Heute, am 22.03.2016, habe ich das Gefühl, dass der Alptraum zur Realität wird, zu einer grausamen Realität, lebendiger noch als mein abscheulichster Alptraum. Heute wird mir bewusst, dass die Bomben von denen, die ihre Religion verteidigen, sehr viel Ähnlichkeit haben mit den Bomben derjenigen, die während der Besetzung von Griechenland ihre eigene faschistische Heimat verteidigt und erweitert haben. Und während all dies geschieht, beginnt wieder einmal der Faschismus und die faschistischen Verhaltensmuster zu einem mittlerweile kurz bevorstehenden, alltäglichen, realen, grausamen Alptraum zu werden. Wir sind wieder auf dem besten Weg, die so wichtige Schwelle der Toleranz unserer Unterschiedlichkeit zu überschreiten, diese Unterschiedlichkeit, die unsere menschliche Würde ausmacht und die in der Geschichte des Faschismus immer unterdrückt und bestraft wurde. Ich drehe mich auf die Seite und versuche, meine Augen noch einmal zu schließen und im Vergessen einzutauchen, das körperliche Müdigkeit und abgrundtiefe Furcht verursachen können. Ich vergesse momentan, was mein Vater Kristof mir einst gesagt hatte: „Mein lieber Sebastian, mein guter Sohn, es gibt in jeder Generation Menschen, die mit einem einzigen Ziel auf die Erde kommen, mit dem Ziel, eine neue höhere Bewusstseinsebene zu eröffnen. Diese Menschen erinnern sich ganz bewusst, können aber auch vergeben und schlagen neue Wege ein. Sie sind in einem Land geboren, können sich aber auch in anderen Ländern weiter entwickeln. Auf diese Weise brauchen die neuen Orte, die sie schaffen, die neu gegründeten autonomen Gemeinden, auch nicht durch
Kampf verteidigt zu werden. Auch die Religion kann sie nicht annektieren. Sie befinden sich jenseits der Religion. Ihre Nachkommen werden zwei- oder dreisprachig sein. Und Du, mein Sohn, bist einer von ihnen, ganz wie Dein Großvater. Dein Großvater, Werner Wilmer, hat mit seiner Art zu leben den Generationsfluss seiner Vorfahren um 180 Grad geändert. Er hat einen komplett neuen Stammbaum gepflanzt. Einen Baum, der an jedem Ort blühen und alle klimatischen Umstände ertragen kann. In seinem Schatten können alle ausruhen, die bereit sind, in autonomen Gemeinschaften zu leben und deren Bedürfnisse von ihrer natürlichen Umgebung befriedigt werden, ohne dass sie der Umwelt schaden oder sie verschmutzen. Das aber schaffen nur tapfere und entschlossene Menschen, mein Sohn. Und Du bist einer von ihnen. Sebastian, Du bist an der Reihe. Du bist der nächste…''