Hallo zusammen,
Wann ist ein Text, der sich nicht reimt, Lyrik und nicht einfach Prosa mit falscher/ unvollständiger Grammatik und ungewöhnlich vielen Absätzen?
Schöne Grüße
Christina
Hallo zusammen,
Wann ist ein Text, der sich nicht reimt, Lyrik und nicht einfach Prosa mit falscher/ unvollständiger Grammatik und ungewöhnlich vielen Absätzen?
Schöne Grüße
Christina
Puh ... so direkt wüsste ich da jetzt gar keine Antwort drauf. Ich würde für mich sagen, dass es wohl auf die Intention des Autors ankommt, ob er es selber in die Lyrik einreiht oder in die Prosa.
Wenn ich jetzt mal die Beispiele nehme:
"For sale: Baby Shoes, never worn" (Hemingway)
und
"Dumpfer Schmerz
geräuschlos in der Dunkelheit.
nicht mal Mondschein
gibt ihm Leben.
der eiskalte Hauch
der immer wiederkehrenden Nacht
küsst ihn wie ein Todesurteil.
Und er geht einen Schritt,
taumelt
stürzt hinab,
in ein Meer aus Finsternis."
fiele mir die Einteilung, so vom Gefühl her nicht wirklich schwer. Das erste wäre für mich eine "einfache" sechs-Wort-Geschichte und damit Prosa, das zweite definitiv Lyrik. Eine Definition könnte ich nicht zusammenbringen, ich würde tatsächlich eher nach Gefühl entscheiden.
Es gibt keine klare, vom persönlichen Empfinden trennbare Grenze, aber wenn du einen Text mal probehalbe ohne die vorgeschriebenen Pausen/Betonungen liest (also hintereinander weg) und sich dabei keine Einbußen in Klang (also vor allem Rhythmik*) und Aussage ergeben – dann ist es eigentlich Prosa. Man kann auch zusätzlich das Maß der lyrischen Verdichtung bzw. die Benutzung von Bildern und Metaphern zu Hilfe nehmen – obwohl es ja auch lyrische Prosa gibt.
* Wenn sich beim Hintereinanderweglesen der Rhythmus quasi aufzwingt, dann ist es auch Lyrik. Ich denke, hier wäre das über weite Strecken so:
Du, jetzt
Es trug sich zu,
dass Stille in dich zog.
Dass der Vulkan
sich begrünte und Bäume zu dulden begann.
Dass der See sich öffnete
und Schlund und Zenit
spiegelnd zusammenführte
auf Augenhöhe.
Dass das Heute nicht mehr nur
das zwischen gestern und morgen ist,
sondern dauert.
Bis zu dem Tag,
an den ich nicht denken will.
Zeit ist endlich geworden.
Hallo zusammen,
ich finde das schwierig. Vielleicht gehe ich auch zu verkopft an die Sache heran.
Bisher habe ich immer Gedichte mit Reimen geschrieben. Das klappt mühelos.
Ich hatte mir aber überlegt, für den Literarischen März auch mal ein paar ohne Reime zu schreiben, weil sich reimende Lyrik scheinbar eher out ist.
Aber ich glaube inzwischen, das lasse ich erst mal sein. Ich fühle mich da irgendwie nicht daheim...
Vielen Dank für Eure Antworten!
Christina
weil sich reimende Lyrik scheinbar eher out ist
Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann - zumindest, wenn ich mich in der Leselupe umsehe, dann hält sich das wohl die Waage. Wenn Reim deine Sprache ist, dann riskierst du, aufgesetzt zu klingen, wenn du auf Krampf eine andere Sprache benutzt.
Falls du - nicht wegen des Projekts sondern zur Erweiterung deiner Möglichkeitspalette - mehr Nähe zu ungereimter Lyrik herstellen willst, kannst du über Kurzprosa gehen: Szenen lyrisch schreiben - sie in Sachen Sound und Rhythmus optimieren. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, diesen Rhythmus durch Zeilenumbrüche zu intensivieren. (So bin ich zu den gelegentlichen Gedichten glangt.)
Auch ein Weg ist die Konzentration auf die Verdichtung: Die dann als passend er/gefundenen Worte und Bilder sperren sich oft gegen das Reimen. Aus dieser Ecke kommt meiner Vermutung nach oft das, was heute als "moderne Lyrik" vermarktet wird.
… sprach die Prosa-Tante jon ;-)
Vielleicht würde es dir ja auch helfen, wenn du dir ein paar Gedichte von den "Großen" anschaust und laut liest. Ich für meinen Teil bin ein großer Goethe-Fan, wobei der auch viel mit Reimen arbeitet. Aber nichtsdestotrotz gibt es auch viele tolle Gedichte ohne Reime. Lies sie immer wieder laut vor, bis du den Rhythmus hören kannst, dann bekommst du auch mit der Zeit ein Gefühl dafür.
Ich lese immer mal wieder gerne Gedichte, hauptsächlich wegen der verdichteten Form. Da muss jedes Wort richtig sitzen, weil die Anzahl ja meist wesentlich begrenzter ist, als in irgendeiner Prosaform. Ich finde, es erweitert den Sprachschatz (ohne ihn mit Fremdwörtern zu erdrücken) und bewirkt viel mehr Emotion, mehr Nachhall. Es ist schön, so etwas später in seiner Geschichte wiederzufinden.
Liebe Christina,
ich oute mich hier mal als "Teilzeitdichter", der auch ab und an in der Lyrik wildert. Für das Projekt "Dichter für Flüchtlinge" hatte ich dem Gedichtband "Trümmerseele" (ISBN: 9783739210537) ein Gedicht beigesteuert. Da ich alle Rechte am Text habe, kann ich es hier als Anschauungsmaterial beisteuern.
Vorher aber: Dichtung, also auch Lyrik ohne Reime ist für mich weit mehr als Prosa mit falscher Grammatik. Es ist die Reduzierung des Textes auf die wesentlichen Elemente, eine Art "Text-Extrakt", wenn du so willst. Es ist gar nicht so verkopft, denn in Wahrheit betrügt es dein Gehirn! Du denkst "Hey, jetzt kommt was elitär verkopftes!" und stattdessen haut es *** BÄM!!! *** direkt in die Emotionszentrale.
Noch´n Gedicht:
Zwei Steine
von Dirk Eickenhorst
du bist ein kind
nennst sie steinautos
unbeschwertes spiel
auf der treppe vorm haus
zwanzig jahre später
kommen die soldaten
geben deinem nachbarn den befehl
kämpfe für assad
er schüttelt den kopf
dann ist er tot
handy raus
frau anrufen
hol das kind müssen weg
rucksack, spielzeug, windeln, kleider
zwei Steine
aus der schublade des schreibtischs.
sentimental
unverzichtbar
Im boot auf see
all dein geld hast du gegeben
frau und kind
rucksack und zwei steine
stille männer
frauen beten
kinder weinen
land
jetzt leise
eine welle
das boot kippt
dreihundert speit es aus
zweihundertachtzig erreichen das land
du rucksack und zwei steine
frau und kind bleiben auf see
marschieren wie im wahn
trauer frisst dich auf
rucksack hast du fortgeworfen
zu schwer die erinnerung darin
du fühlst zwei steine in der hosentasche
auf dem herzen
erstaufnahmelager
münchen
ein blick auf die steine
zwei brocken heimat
steinautos
erinnerungen
alles was bleibt
du schreibst ihre namen auf die steine
zahira
aras
ich bringe euch zurück
verzweifeltes versprechen
refugees welcome sagt die frau
verpiss dich du schmarotzer brüllt der mann
wieso nur junge männer fragt die alte
aber ein smartphone von wegen arm keift die glatze
zwei Steine
heimat
"Lyrik ohne Reime ist für mich weit mehr als Prosa mit falscher Grammatik" Also bitte! *vorwurfsvoll den Kopf schüttel* Das ist nichtmal die Grundlage (auf der es dann ein weit mehr geben könnte). Das ist bestenfalls ein - ein! - Mittel, um Aussagen zu intensivieren oder den Klang zu unterstützen.
Hallo zusammen!
Danke für eure Antworten!
Also, ich nähere mich dem Thema jetzt mal ganz naiv an-
Als Qualitätsmanager find ich natürlich immer objektive Kriterien gut :-)
Wenn nun aber ein Gedicht einfach aus Wörtern besteht ohne feste Regeln, und es soll das Emotionszentrum erreichen, wie Dirk so schön sagt,
Dann ist die Bewertung eines Gedichts ja eine rein subjektive Geschichte. Jeder Mensch reagiert emotional ja anders und manche überhaupt nicht :-D
Oder??? :-)
Dann ist ja jeder ein großer Dichter.
Oder??? :-)
Liebe Grüße
Christina
„Wenn nun aber ein Gedicht einfach aus Wörtern besteht ohne feste Regeln, und es soll das Emotionszentrum erreichen, wie Dirk so schön sagt,
Dann ist die Bewertung eines Gedichts ja eine rein subjektive Geschichte.“
Ob nun Gedicht mit oder ohne feste Regeln (es gibt ja beides - plus die Zwischenstufen): Ja, Gedichte sind (wie jede Kunst, jedes Kunsthandwerk) subjektiv wirksam. Insofern ist auch jeder in der Lage, Gedichte zu verfassen, die bei irgendjemandem(!) eine emotionale Reaktion auslösen. (Also jetzt „positiv“, nicht „Was für ein unsagbarer Scheiß!“ – das gelingt manchem ganz, ganz leicht.)
Es gibt dennoch so etwas wie einen „objektiven Korridor“, der sich gewissermaßen aus der Überlagerung all der subjektiven Sichten ergibt. Wahrnehmungspsychologische Aspekte und Konsum- oder besser Rezeptionsprägungen bilden einen (weichen) Rahmen dafür, was die meisten, sehr viele, viele … Menschen emotional erreicht.
Interessanterweise ist das, was man als „Güte“ von Kunstwerken (Gedichte) umreißt, nicht daran messbar, ob es die meisten oder „nur“ viele Menschen erreicht – wäre es so, wären die TV-Programme voll von „Hoher Kunst“ –, sondern die „Güte der Konsumenten“ (also ihr Vorwissen und ihr Anspruch) spielt ebenso eine Rolle. (Wobei ich davon ausgehe, dass es ab einem gewissen Punkt einen Umschwung gibt – ab einer bestimmten Stelle köchelt die Szene im eigenen Saft, da weigere ich mich dann, es „gut“ zu nennen.)
Um auf „Ist denn dann jeder ein großer Dichter?“ zurückzukommen: Nein; denn nicht jeder hat das Händchen dafür, in diesem „objektiven Korridor“ zu schreiben. Wobei (schon wieder ein wobei!) die Breite des Korridors (und seine Lage) auch vom Anspruch des Wertenden abhängt.
… ist doch ganz einfach, oder?
"Lyrik ohne Reime ist für mich weit mehr als Prosa mit falscher Grammatik" Also bitte! *vorwurfsvoll den Kopf schüttel* Das ist nichtmal die Grundlage (auf der es dann ein weit mehr geben könnte). Das ist bestenfalls ein - ein! - Mittel, um Aussagen zu intensivieren oder den Klang zu unterstützen.
Liebe Ulrike,
ich habe mich mit der Aussage auf den ersten Satz des ersten Beitrags dieses Themas bezogen, insofern ist es nicht meine Aussage/mein Standpunkt, sondern ein darauf bezugnehmender Kommentar.
Ich bitte daher freundlich darum, das Kopfschütteln wieder einzustellen (macht ja auch nur schwindelig).
Als Qualitätsmanager find ich natürlich immer objektive Kriterien gut :-)
Das macht die Arbeit in zertifizierten Betrieben auch leichter, aber hier geht es um Kunst. Da ist es mit dem Regeln setzen im Allgemeinen und der Objektivität im Speziellen nicht so leicht. Mache ich aus der Kunst eine Wissenschaft, ist es eben keine Kunst mehr, sondern Wissenschaft (und an dieser Stelle erwarte ich freudig das vorwurfsvolle Kopfschütteln der widersprüchlichsten Menschengattung: Kunstwissenschaftler ...
Wenn nun aber ein Gedicht einfach aus Wörtern besteht ohne feste Regeln, und es soll das Emotionszentrum erreichen, wie Dirk so schön sagt,
Dann ist die Bewertung eines Gedichts ja eine rein subjektive Geschichte. Jeder Mensch reagiert emotional ja anders und manche überhaupt nicht :-D
Genau so!
Dann ist ja jeder ein großer Dichter.
Ja. Und nein. Rein subjektiv.
Genau wie in der Prosa gibt es für die Lyrik keine festen Regeln, an die man sich halten muss. Es gibt zahllose Ratgeber, es werden Stilrichtungen benannt, manches ist der Zeitgeschichte geschuldet. Aber ein allgemeingültiges Regelwerk, ein Gesetz dafür gibt es nicht. Ist auch gut so, würde es doch jede Kreativität im Keim ersticken.
… ach deshalb ist mir so dreh im Kopf!
Hmmmm.... soso.... aha..... hmmm... naja....
Dirk schrieb:
"Mache ich aus der Kunst eine Wissenschaft, ist es eben keine Kunst mehr..."
Dann muss ich aber etwas ketzerisch fragen, was ist dann mit diesen definierten Formen von Gedichten? Da gibt es ja auch Arten mit festen Vorgaben wie Ghasel, Ritornell etc. Ist das dann für dich Kunst oder Wissenschaft? Meinst du, je mehr Regeln, desto weniger künstlerisch?
@Jon:
Interessant! Mit dem Konstrukt "objektiver Korridor" könnte ich mich eventuell anfreunden. Muss ich aber erst noch weiter darüber nachdenken...
Tschüss ihr Süßen, auf das Thema brauche ich jetzt erst mal ein Malzbier. Bis später!
Ich habe übrigens vor kurzem ein paar kleine freie Gedichtchen geschrieben. Als ich sie meinem Mann vorgelesen habe, hat er mich angeguckt wie Kermit der Frosch. Bin mir allerdings noch nicht sicher, ob ich am objektiven Korridor vorbeigeschrieben habe, oder er ein Gedichte-ohne-Reime-Banause ist :-)
Dann muss ich aber etwas ketzerisch fragen, was ist dann mit diesen definierten Formen von Gedichten? Da gibt es ja auch Arten mit festen Vorgaben wie Ghasel, Ritornell etc. Ist das dann für dich Kunst oder Wissenschaft? Meinst du, je mehr Regeln, desto weniger künstlerisch?
Jein. Ghasel ist ***ähem*** (Professor-Modus einschalt) eine arabische Versform aus vorislamischer Zeit, also ein zeitgeschichtlich beeinflusster Stil. Ritornell erinnert mich immer an italienische Zierpflanzen, wieso nur? War glaube ich im 18., 19. Jahrhundert in Deutschland recht beliebt.
Diese Reimvorgaben finde ich tatsächlich etwas einschränkend, was die künstlerische Freiheit angeht, man könnte sie allerdings tatsächlich als die Begrenzungen oder Fixpunkte des "objektiven Korridors" betrachten.
Im Großen und Ganzen würde ich aber bestätigen, je mehr Regeln (Denk-Korsett), desto weniger künstlerische Freiheit. Das ist aber meine ganz persönliche, eigene Meinung.
...je mehr Regeln (Denk-Korsett), desto weniger künstlerische Freiheit. Das ist aber meine ganz persönliche, eigene Meinung.
Na, das würde ich jetzt so nicht unterschreiben. Aber über Geschmack und Kunst lässt sich zum Glück nicht streiten
Jedenfalls fand ich es interessant, mich mit euch darüber auszutauschen.
danke und ein schönes Wochenende!
Ich würde sagen: Alles was Strophen und Verszeilen hat, ist ein Gedicht.
Charles Bukowski z.B. hat "Gedichte" verfasst, die eigentlich auch genauso gut Kürzestgeschichten sein könnten (zumindest die, die wenig Metaphern haben).
Edit:
Und natürlich haben sowohl Ulrike als auch Dirk Recht.
Einerseits gibt es gewisse Merkmale, die man Gedichten zuordnet (Abstrahierung, Rhytmus, oftmals Erlebnis [ausser z.B. bei Balladen] usw.) - andererseits ist Literatur, insbesondere Lyrik, ja etwas, das sehr gerne "Regelverstösse" macht bzw. Kunst allgemein.
Nun, ich definiere ein Gedicht etwa so:
verdichteter Text
Bild
Rhytmus
optional: die Form
am Beispiel eines Haiku
Die Regel traditioneller Haiku: 5-7-5 Silben, ein Jahreszeitwort, Aha-Erlebnis, Rätsel
(fast) regellos:
abgebrochen
der alte Ast wartet
auf den Frühling