KARUSSELL
Bergische Zeitschrift für Literatur
»Am schwärzesten Fluß der Welt lernt man erkennen,
welche Menschen leuchten. Das Gedudle des Karussells
ist wie Engelsmusik.«
Else Lasker-Schüler
Ausgabe im November
2016 Texte zum Thema
»Liebe Lüge«.
Die Lüge hat im Allgemeinen einen schlechten Ruf. Vor Gericht gilt es, »die Wahrheit,
die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit« zu sagen. Kant ging so weit,
dass man selbst dann nicht lügen dürfe, wenn man einen Menschen schützen wollte,
beispielsweise vor dem Zugriff der Obrigkeit. Klopfte die an die Haustür und fragte
nach, müsse man die Wahrheit sagen und den Verfolgten ausliefern. Voraussetzung
bei diesem Gedankenexperiment war allerdings, dass es auch keine Regierungen
geben dürfe, die Menschen zu Unrecht verfolgen, dass sie also ebenfalls nicht lügen.
Lüge im großen Maßstab, als Leitinstrument des Politischen, als Propaganda
ist nicht erst seit dem 20. Jahrhundert von kriegsentscheidender Bedeutung.
Gleichzeitig wird die Lüge als ein Zeichen von Intelligenz und Phantasie geadelt:
Schon der Held der »Odyssee« ist ein brillanter Lügner, der seine Gegner täuscht
und überlistet. Die Lüge ist schlau und kreativ, sie schafft eine »Gegen-Wahrheit«.
Wir zeigen Sympathie für die Pinocchios, Münchhausens, Eulenspiegels und Felix
Krulls dieser Welt. Lügen kann ein rebellischer Akt sein, wie im obigen Fall der Positionierung
gegenüber einer (verlogenen) Obrigkeit. »Die Lüge ist eine sehr hohe Tugend
« schreibt Voltaire, »wenn sie Gutes tut. Man muss wie der Teufel lügen, nicht
zaghaft, nicht zu Zeiten, sondern mutig und immer.«
In der Psychologie heißt es, Selbstbetrug führe zu Phobien oder Depressionen. In
Ibsens »Wildente« allerdings hält eine Figur dagegen: »Wenn Sie einem Durchschnittsmenschen
seine Lebenslüge nehmen, so bringen sie ihn gleichzeitig um sein
Glück.« Nur ungehobelte Wahrheiten und nackte Fakten, wer will das schon? Nichts
als die Wahrheit ist ungenießbar wie 100%-iger Alkohol oder Konfitürenkonzentrat.
Entertain me, nach Strich und Faden. Für Friedrich Nietzsche war die Welt »falsch,
grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn«, er leitete daraus ab, dass wir
die Lüge brauchen, um in einer derart abstoßenden Welt zurechtzukommen.
Seit Platon wissen wir um den Zusammenhang zwischen Kunst und Lüge. Die Kunst
(wie die Lüge) erfindet, träumt, fantasiert – kann in dieser Funktion überlebenswichtig
sein – und entblößt nicht selten dabei eine tiefere Wahrheit.
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Dieter Jandt, Torsten Krug & Andreas Steffens
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