Jeu littéraire - Das literarische Spiel
Fürs Jeu littéraire, das literarischen Spiel gibt es keine Theorie, aus welcher der Autor oder die Autorin eine Lehre ziehen könnte. Die Figuren treten frei ins Gedicht, in Geschichten oder in den Roman ein, halten sich nicht an irgendwelche Vorgaben. Sie bewegen sich nach einer eigenen Logik, überraschen, sind unberechenbar, heben geläufige Verknüpfungen der Handlungsstränge auf. Ihr absurd-komisches Verhalten erinnert an Träume.
Die Figuren des Jeu littéraire sammeln Zeit. Sie erfüllen einen Wunsch, bevor er gedacht oder ausgesprochen ist. Begehren und Verlangen werden so traumschnell geweckt und befriedigt, dass zwischen dem ersten Anflug eines Bedürfnisses und einer Welle von Befriedigungsmöglichkeiten keine Zeit im herkömmlichen Sinn verstreicht. Sie kann auch nicht gespart oder gewonnen werden, weil die Figuren darauf aus sind, Distanzen, Gefälle auszuräumen, als würde es ihnen nicht um Angebote gehen, sondern um das Ansammeln immer neuer Biegungen und Krümmungen der linear gedachten Zeit. So kann es vorkommen, dass der Roboter als Tankwart den Tank eines neuen Autos füllt, bevor es erfunden worden ist.
Das Jeu littéraire visualisiert Fantasien und Träume, wie sie keine andere Literatur sonst den Lesenden näher bringen kann. Seine Figuren machen sich unbrauchbar, sind andauernd damit beschäftigt, aus alltäglichen Gegenständen oder Verrichtungen surrealistische Kunst zu machen. Ihr Erkennungsmerkmal ist das Zwecklose.
Spektakuläre Handlungen, wie sie im Zeichentrickfilm geschehen, gehören ebenso zum Jeu littéraire wie ein einfacher Tisch, der Geschichten mit einem Hang ins Fantastische erzählt. Beim Spiel mit der Sprache werden die Silben zu Seifenblasen, blähen sich auf, schweben, schillern und platzen. Die exzentrischen Figuren statten sich mit schrulligen Details aus. Sie sind eigensinnig, merkwürdig und sonderbar, leisten sich Anspielungen quer durch die Weltliteratur, vermischen die Philosophien aller Kulturen mit Märchenmotiven, Musik und Kunst.
Mit unverkennbaren Stilmitteln beschreibt das Jeu littéraire ein eigenes Universum. Den Lesenden, die ihm ein wenig Aufmerksamkeit schenken, ergeht es wie einem Spieler, der in einen unscheinbaren Automaten ein bisschen Spielgeld hineinwirft und unter einem riesigen Haufen von Münzen begraben wird. Gedichte, kurze Prosa und Romane mögen ein Anfang und ein Ende haben, das Jeu littéraire hingegen nicht. Seine Handlungsstränge schweben, sinken, steigen, weben ein Netzwerk in den Raum, bündeln und verknäueln sich.
Der ständige Wechsel von Fantasie und Realität wirft das Kopfkino an. Das Jeu littéraire generiert keine Texte, die wir von der Wand ablesen. Sie werden zur Wirklichkeit im Kopf und können dazu führen, dass sich die Lesenden innerlich frei fühlen, aufhören, sich auf vermeintliche Sicherheiten zu verlassen und wieder ursprünglich neugierig werden, um das Unentdeckte der Welt zu erkunden.