Während ich heute Morgen darauf wartete, dass mein Handy genug Saft zog, las ich nochmal in der Federwelt 113 Werner Karls Beitrag „Science-Fiction schreiben“. Und wieder fand ich – bei allem Respekt, galaxykarl –, dass der Beitrag eher einschränkt als erhellt.
Ja, es stimmt: Die SF bietet (wie die Fantasy auch) dem Autor einen riesigen Tummelplatz am Welten und Szenarien. Was in die falsche Richtung führt, sind zum Beispiel die Hinweise zu den Recherchequellen: Nur für einen Bruchteil der SF muss der Autor sich über Astronomie informieren. Obwohl es sicher hilfreich ist; nicht selten recherchieren Autoren gar nicht und fabulieren frei drauf los. Diese Texte (und Filme etc.) sind es dann, die zum schlechten Ruf der SF beitragen, nicht die „alberne SF“, wie Werner Karl fürchtet. Auch wenn ich selbst nicht eben zu den Spaßvögeln zähle und Überdrehtes selten gezielt in die Hand nehme – diese Spielart ist eigentlich nur der Beweis dafür, dass SF alles kann, was Literatur außerhalb der Science Fiction auch macht. Ganz aktuell ist z. B. ein Krimi („Drohnenland“) mit dem Kurd-Laßwitz-Preis (KLP) ausgezeichnet worden, es gibt extrem nach Fantasy klingende Space-Operas („Dune“, „Star Wars“ – wobei man bei beidem schon fragen darf, ob es nicht doch schon Fantasy ist, aber das vielleicht ein andermal), Gesellschaftskritisches wie den ebenfalls mit dem KLP 2015 ausgezeichneten Text „Boatpeople“ … und eben auch Skuriles wie „Per Anhalter durch die Galaxis“ oder die „Sterntagebücher“ des Altmeisters der SF, Stanislaw Lem.
Dass Science Fiction eigentlich eher eine literarische Konsequenz im Bestreben nach immer klarer auf den Punkt gebrachten Problemdarstellungen ist als ein Tummelfeld für Nerds, wird seit einigen Jahren immer deutlicher. Frank Schätzing ist eines der prominentesten Beispiele dafür, wie mit Mitteln der SF auf aktuelle Themen aufmerksam gemacht wird. Auch – oder gerade – in Sachen Internet, soziale Netzwerke, Big Data und wie die Schlagworte sonst noch heißen versuchen immer öfter Romane durch Extrapolation der aktuellen Entwicklung auf deren Gefahren hinzuweisen. Das ist Science Fiction. Und zwar reinste Science Fiction. Ganz ohne Sternenkunde und Stringtheorie.
Science Fiction kann aber mehr als nur technische Errungenschaften auf ihre Konsequenzen hin abzuklopfen. Als Beispiel für die unmissverständliche Darstellung gesellschaftlicher Phänomen und Gefahren wird gern „1984“ genannt, manchen fällt noch „Fahrenheit 451“ (die Temperatur, bei der Papier – also Bücher – brennt) ein und auch der Ansatz für „Die Tribute von Panem“ gehört ganz klar in diese Gruppe. In diesem Bereich sind die klassischen Ost-Autoren wie die Gebrüder Strugazki oder Lem zu nennen (auch wenn ich persönlich mit ihren Gesellschaftskritiken nur wenig anfangen kann) oder – um ins Hier und Heute zurückzukehren – Wolfgang Jeschke oder der 1970 geborene und auch außerhalb der SF hochgelobte Dietmar Dath.
Aber auch eine Nummer kleiner geht es. Man kann ohne Zweifel „zutiefst Menschliches“ in jedem Genre darstellen, in den Real-Genres wird vieles davon aber durch das Umfeld verwässert oder als Effekt der Umstände kaschiert. Nur selten kann man so extreme Situationen schaffen – wie beim „Kaspar Hauser“-Stoff zum Beispiel –, in denen tatsächlich der „Urschleim“ an menschlichen Verhaltensmustern oder philosophischen Problemen zu Tage tritt. Die Phantastik-Genres (leider nicht alle Phantastik-Autoren) schaffen das hingegen spielend leicht. Meinen größten Aha-Moment in dieser Hinsicht bescherte mir Bernd Ulbrich mit seinem Erzählband „Störgröße M“. Darin geht es zum Beispiel gar nicht darum, dass zwei Raumschiffe eine Wettfahrt machen – der technische Kram und die Action sind völlig irrelevant –, sondern darum, wie die Kapitäne das Hassardspiel begründen und wie sie mit dieser Ausrede volle Kanne alle in die Katastrophe jagen.
Aber natürlich macht Science Fiction auch alles andere, was Literatur macht: Es gibt reine Unterhaltung, die seit einiger Zeit so aktuellen mehrteiligen Epen, Action verschiedener Spielarten, reine Ideen-Hascherei, interessante Gedankenspiele, Schnulzen (ich rechne hier mal die Raumschlacht-Krieger-Schnulzen dazu), Lyrik (ja, Gedichte) und eben auch Grotesken, Satiren und Humoriges.
Wenn Science Fiction so toll ist und sogar im Mainstream angekommen ist, warum hat sie dann so einen schlechten Ruf? So schlecht, dass im vorigen Jahr eine Autorin, die für ein lupenreines SF-Buch für den Laßwitz-Preis nominiert war, diese Nominierung ablehnte? Dass der Stempel SF heute eher verkaufsschädlich ist? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht kommunizieren wir – also die SFler – zu wenig in den Mainstream-Bereich hinein. Ich versuche das seit Schulzeiten („Störgröße M“ war mal ein Aufsatzthema für mich; bei einem Ferienlager ergab sich eine spontane Lesung aus der Story, die ich damals schrieb). Und ich versuche es immer wieder. Hier und jetzt zum Beispiel.
Vor allem Leser, die ohnehin schon Fantasy lesen, also ein wenig geübt darin sind, sich auf fremde Welten und sonderbare Kulissen einzulassen, sind prädestiniert für SF. Aber auch Krimi-Fans, die Spannung mögen, finden gute SF, die nicht allzu hohe Anforderungen an das Einstellen auf neue Möglichkeiten fordert. Utopien und Dystopien sind meist Spielarten der SF, stellen lesetechnisch nahezu die selben Ansprüche. Alternativwelt-Storys sind SF, Cyberpunk, Steampunk (der mit der Atmosphäre der Jules-Verne’schen Texte spielt), manch Horror-Roman und nicht selten auch Bücher, die als Thriller vermarktet werden …
Kurz: Science Fiction ist um Lichtjahre besser und potenzstärker als ihr allgemeiner Ruf. Sie ist sogar vielfältiger und literarisch hochwertiger, als mancher SFler glaubt. Es ist Literatur mit anderen Mitteln – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.