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Vorlesen für Fortgeschrittene - Folge 59: Verneinung

Federwelt
Michael Rossié

Vorlesen für Fortgeschrittene
Ein Rezitationskurs von Michael Rossié
Folge 59: Verneinung

Was soll beim Vorlesen von Sätzen mit einer Verneinung kompliziert sein? Eigentlich nichts. Und trotzdem finden wir bei lesenden Autoren, und übrigens auch bei vielen Nachrichtensprechern, sehr häufig einen Fehler: Sie betonen die Verneinung. Er hatte sich NICHT verliebt. Oder: Es war NIEMAND zu sehen.

Die Vorleserin hebt die Verneinung hervor, weil sie ja gerade sagen will, dass etwas NICHT so ist. Aber so sprechen wir nicht. Wir sagen nicht: Ich habe NIEMANDEN gesehen, sondern Ich habe niemanden GESEHEN. Wir sagen nicht: Ich habe KEIN Glück, sondern Ich habe kein GLÜCK. Wir betonen Wörter mit einem hohen Informationsgehalt. Die Verneinung wird nur dann betont, wenn nach ihr gefragt wird und die Antwort negativ ausfällt. LIEBST du mich? – NEIN, ich liebe dich NICHT. Das hat dann auch damit zu tun, dass wir immer betonen, was neu ist. Und in diesem Satz ist nur das Wort NICHT neu. Der Sprecher will etwas klarstellen. Er will unmissverständlich sein.

Die Betonung der Verneinung hat ein bisschen was Aggressives, als habe die Sprecherin das ja nun schon einmal gesagt. Liest man Ich habe NICHTS gesehen, hört man immer ein bisschen den Ärger raus, (schon wieder) danach gefragt worden zu sein.

Die Verneinung ist so stark, dass wir sie nicht betonen müssen. Das gilt auch, wenn die Verneinung durch ihre Stellung im Satz hervorgehoben wird. Anstatt NICHT Fisch, NICHT Fleisch heißt es Nicht FISCH, nicht FLEISCH.

Eine weitere Ausnahme besteht, wenn der zweite Satz sich ausdrücklich auf den ersten bezieht und in erster Linie der Gegensatz unterstrichen werden soll. Alle gingen zum Strand. Eva NICHT. Wird der Satz wieder länger, verschwindet die Betonung der Verneinung: Alle gingen zum STRAND. Eva ging diesmal nicht MIT.

Eine letzte Ausnahme bilden Sätze, in denen die Verneinung Teil eines Gegensatzpaares ist. EIN Tor ist besser als KEIN Tor oder MIT Mann ist es schöner als OHNE Mann.

Jemanden gut zu unterhalten, ist eine Frage der richtigen Vorbereitung!

 

Autor: Michael Rossié | www.sprechertraining.de
In: Federwelt, Heft 119, August 2016