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Verstrickt in sozialen Netzen

Federwelt
Stephan Waldscheidt
Illustration zum Artikel "Verstrickt in sozialen Netzen" von Stephan Waldscheidt

Verstrickt in sozialen Netzen
Als alternder Mann bereite ich mich schon seit Jahren auf den nächtlichen Harndrang vor. Ich habe mit roten LED-Leisten, Sie kennen sie aus Flugzeugen, meinen kürzesten Fluchtweg zur Toilette markiert, kenne den Beipackzettel von Prostagutt forte 160 (120 mg) auswendig („einzigartige Wirkstoffkombination aus Früchten der Sägepalme (Sabal) und Wurzeln der Brennnessel“) und habe mich präventiv von meiner Frau getrennt, um ihre Nachtruhe nicht zu stören. Man kann sagen, ich bin vorbereitet.

Völlig unerwartet hingegen trafen mich Facebook und Twitter. Als Autor, der seine eigenen Werke heutzutage so grölend bewerben muss wie Aale-Dieter vom Hamburger Fischmarkt, habe ich mich mit großen Erwartungen auf diese Social-Media-Plattformen gestürzt und meine Aktivitäten schon länger auf Pinterest, Instagram und Google+ ausgedehnt, bin „LinkedIn“ und xinge nur dann nicht, wenn ich gerade whatsappe.

Das ist eine Lüge. Niemand liebt Zwangsneurotiker. Doch die Wahrheit treibt: Als bekennender Multitasker habe ich mir inzwischen für jedes soziale Netzwerk ein eigenes Smartphone zugelegt, damit ich parallel networken kann und nichts verpasse. Und vor allem: nicht verpasst werde.

Nachts schlafe ich kaum noch. Blase und Prostata sind zwar weiter Bollwerke testosteroner Männlichkeit. Doch der Harndrang ist dem Post-Zwang gewichen.

Obwohl ich mir des Problems bewusst bin, aufhalten kann ich es nicht – Es (ja, großgeschrieben) ist einfach stärker als ich. Je mehr ich über mich und meine Aktivitäten literarischer Art bei Facebook und den anderen sozialen Drogen poste, desto wichtiger fühle ich mich.

Die Folgen sind ebenso fatale wie fatal falsche Umkehrschlüsse: Ich muss wichtig sein, wenn ich Fans habe und wenn so viel über mich gepostet wird, ganz egal von wem. – (Mit Facebooks Erfindung der „Fanseite“ wurden aus meinen Lesern auf einmal meine Fans!) – Eben weil ich so wichtig bin, muss ich viel posten. Die Welt und meine Fans da draußen wollen ganz offensichtlich wissen, was ich denke, fühle, tue. Und zwar alles davon.

Nehmen wir ein Beispiel:

Leser Fan: Eh, Waldscheidt, wie haben deine Goldfische geschlafen?

Waldscheidt: Goldfische schlafen nicht, obwohl ich mir bei John Irving (so heißt der mit den dicken Ringer-Flossen) nicht sicher bin, weil er andauernd gähnt.

Fan: Goldfische gähnen nicht, du Kackfresse.

Nicht posten? Ist Liebesentzug!

Ja, so entstehen in den sozialen Netzwerken echte Gespräche von Mensch zu Mensch, die unsere Leben bereichern, uns emotional wärmen und gleichzeitig klüger machen. Kraftausdrücke? Sind ein Zeichen tiefer Verbundenheit. Nicht zu posten wäre Liebesentzug!

Zum eigentlichen Schreiben von Artikeln, Geschichten, Sachbüchern, Romanen komme ich da kaum noch. Sobald mir das mal wieder bewusst wird, beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass ich ja mal alle meine Postings zu Büchern summieren könnte. Wenn ich nur die Zeit dazu fände! Warten Sie kurz, diesen paradoxen Gedanken muss ich gleich twittern und ein Selfie von mir mit diesem paradoxen Gesichtsausdruck auf meine Pinterest-Seite pinnen.

Wie Sie sehen, wirken sich die sozialen Medien – auf die Allgemeinheit bezogen – im Schnitt positiv aus. Allein Facebook hat, nach konservativer Schätzung des Börsenvereins, allein 2015 gut 1.239 miese Romane, 176 überflüssige Sachbücher und 19 sich anbahnende Ehen zwischen Autoren verhindert, letzteres durch ehrliche Kommentare über die Qualität eines Postings und die Niedlichkeit von Katzenbabys. Den betroffenen Autoren blieb somit die öffentliche Demütigung erspart. Oder die private. In einer Ehe.

Ja, unterm Strich sorgen die sozialen Netzwerke für eine bessere Welt. Ob meine Fans das auch so sehen, lasse ich sie gleich mal auf Facebook abstimmen.

Das Ergebnis ist aufschlussreich. 19 Prozent meiner Fans sagen, sie mögen es, wie ich schreibe; 28 Prozent finden meine Frisur „old-school“, aber cool; 31 Prozent würden die Abstimmung lieber bei Google+ sehen, weil sie Mark Zuckerberg hassen; und 32 Prozent schreiben: „Halt endlich mal die Fresse, du Vollspast!“

Worum ging es bei der Umfrage noch mal? Vermutlich wieder darum, dass soziale Medien die Aufmerksamkeitsspanne der User auf die einer Fruchtfliege verringern. Eigentlich kommt bei meinen Umfragen immer das Gleiche heraus: Die Leute mögen mich, denn ich bin irgendwie ziemlich cool. Ja, soziale Medien heben das Selbstwertgefühl jedes Autors um etwa das gleiche Maß, auf das Verlage, Agenten und Leser es regelmäßig wieder stutzen.

Aber, und auf diese Frage haben alle unter Ihnen gewartet, die professionell schreiben: Was bringen die sozialen Netzwerke finanziell? Merkt auch mein Bankkonto, dass ich unermüdlich online bin und mehr poste, als ein Old-School-Postbeamter stempeln konnte?

Die wichtigste literarische Form: der Kontoauszug

Ja. Aber aus anderen Gründen, als Sie denken.

Den Verkäufen meiner Bücher schadet mein Dauerbombardement mit Werbung, Meinungen, dummen Witzen und den Fotos „meiner“ Goldfischbabys. Vielen Lesern reicht, was sie von mir auf Facebook oder Twitter lesen. (Das Verb „reichen“ bitte ich, auf zweierlei Art zu verstehen.) Anderen Lesern fehlt die Zeit, meine Bücher zu kaufen und zu lesen, weil sie dauernd online mit mir diskutieren: über den Sinn des Lebens, des Schreibens und des Goldfischzüchtens. Andere wiederum haben den Drang verloren, meine Bücher zu kaufen und zu besprechen, weil sie schon in ihren Kommentaren ihr Vokabular an Kraftausdrücken, Schmähwörtern und Obszönitäten erschöpft haben.

Für den Rest meiner Leserschaft gehöre ich durch meine Dauerpräsenz auf all ihren internetfähigen Geräten schon ebenso zum Haushalt wie ... ich möchte nicht sagen wie Hund oder Katze, das wäre dann doch etwas herabwürdigend (für die Tiere), sondern eher wie Silberfische, Lebensmittelmotten und der hartnäckige Geruch nach im Ofen verkohltem Pizzakäse.

Würden Sie ein Buch von einem Vorratsschädling kaufen, der Ihnen beim Frühstück aus der Müslischale entgegengrinst? Sehen Sie.

Der Grund, warum sich mein Bankkonto als Folge meiner Facebook-Sucht, Twitter-Liebe und Pinterest-Manie füllt, ist ein anderer. Ich habe schlicht keine Zeit mehr für Einkäufe bei Amazon.

Autor: Stephan Waldscheidt | facebook.com/waldscheidt | twitter.com/schriftzeit | pinterest.com/stephanwaldsche
In: Federwelt, Heft 116, Februar 2016
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PS: Die sozialen Netzwerke sorgen auch dafür, dass man einfach nicht mehr weiß, wann es genug ist. Es ist nämlich nie genug. Facebook wird und wird nicht voll und Twitter frisst schneller deine 140 Zeichen, als du retweeten kannst.

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PPPS: Jetzt muss ich aber dringend, äh, los. Solche langen Texte sind nix mehr für meinen alternden Metabolismus.