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Charakterstudien: Vom Verlangen und anderen Problemen

Beemgee
Olaf Wielk

Geschichten handeln von Figuren, die etwas begehren und dazu etwas anderes brauchen. Ihr Verlangen ist die treibende Kraft des Plots. Interessant wird er durch Erkenntnis der Figur oder des Lesers. 

Leser erwarten, wenn sie sich auf eine Geschichte einlassen, ein emotionales Erlebnis.

Sie wollen berührt werden – auf eine Reise mitgenommen werden, die Gefühle auslöst. Dabei geht es um weit mehr als um Eskapismus. Es geht Lesern nicht lediglich darum, in eine andere Welt zu wechseln einen stressfreien Ausgleich zur eigenen Realität zu finden.

Der Wunsch nach Unterhaltung birgt im Grunde das Bedürfnis nach Lösungen für emotionale und psychologische Dilemmas. Leser wollen eigene Erfahrungen um fremde bereichern; dazu folgen sie dem Erkenntnisprozess der Figuren.

Die Struktur eines Werks kommt dem Bedürfnis des Lesers entgegen, wenn sich die Figuren durch ihr Handeln innerlich entwickeln oder wenn ihr Handeln den Leser selbst eine Entwicklung vollziehen lässt. Der Schlüssel dazu ist die Handlung. Eine Geschichte braucht also einen Plot, der vorangetrieben wird von den Wünschen der Figuren und von deren Transformation, die sich ergibt aus der inneren Notwendigkeit der Figuren, dazulernen zu müssen.

Der Wunsch der Figuren

Das explizit handlungsantreibende Verlangen fiktionaler Hauptfiguren unterscheidet sie von uns. Wir persönlich wollen auch dies und jenes – ein neues Bücherregal, einen anderen Job –, doch nicht immer ist dieser Wunsch so ausgeprägt, dass er sich in Handlung ummünzt und sich daraus die treibende Kraft einer Geschichte ergeben würde.

Bei Figuren ist hingegen häufig ein deutlicher Wunsch, ein dezidiertes Verlangen zu erkennen. Ödipus will die Plage aus Theben loswerden. Der Prinz will die Hand der Prinzessin und das Königreich erben. Ahab will sich am weißen Wal rächen. Humbert Humbert will Lolita. Die Maus will überleben – also nicht gefressen werden und erfindet dazu den Grüffelo.

Vielen angehenden Autoren ist es anscheinend ein Anliegen, lebensnahe Geschichten zu erzählen. Sie kreieren realitätsgetreue Figuren, deren Wünsche nicht zur treibenden Kraft werden – wie bei vielen von uns. Diese Figuren hadern und zaudern, leiden vielleicht an einer unbestimmten Unzufriedenheit, wissen nicht so richtig, was sie wollen. Das ist alles sehr menschlich.

Doch es ist Gift für die Handlung einer Geschichte.

Der Wunsch als Problem

Das Verlangen, dem eine Figur – aus dramaturgischen Gründen – folgt, kann einfach behauptet werden. Ein Autor kann etwa formulieren: „Markus X hegte schon immer den Traum, auf einer tropischen Insel zu leben.“ Ein einfallsreicherer Autor könnte diese Information etwas geschickter verpacken – nach dem Motto „show, don’t tell“ – und Markus X z.B. an einem Reisebüro vorbeilaufen und ihn dort sehnsüchtig auf das Plakat einer tropischen Insel blicken lassen. Beides sind durchaus geeignete Wege, den Lesern den Wunsch einer Figur zu vermitteln.

Allerdings ergibt sich der Wunsch als treibende Kraft einer Geschichte häufig aus einem externen Problem, das sich der Figur auf den ersten Seiten des Werks stellt.

Ödipus erfährt, dass er die Plage beseitigen kann, wenn er den Mörder seines Vorgängers Laios ausfindig macht. Der König bietet dem Prinzen die Hand seiner Tochter und damit die Thronfolge. Ahab sehen wir durch die Augen von Ishmael, doch klar ist, dass es Ahabs Wunsch nach Rache ist, die den Roman antreibt. Humberts Verlangen ist entfacht, und die Geschichte geht erst richtig los, als er das Mädchen sieht. Die Maus hat kein Problem, bis sie vom Fuchs aufgehalten wird. Im letzten Post hatten wir diesen Auslöser-Moment im Kontext der Stationen der Story Journey beschrieben.

Das Ziel als scheinbare Lösung, Teil eins

Mit dem Wunsch wird ein angestrebter Zustand beschrieben. Die wieder hergestellte Gesundheit in Theben, Ehe und Macht für den Märchenprinzen, Genugtuung für Ahab, Zweisamkeit und Lustbefriedigung für Humbert, für die Maus das nackte Überleben (und die Nuss on top).

Die Figuren setzen sich ein Ziel, das sie als Weg zur Erfüllung ihres Wunsches betrachten. Für Ödipus ist das die Enthüllung des Mörders von Laios, für den Märchenprinzen der Sieg über den Drachen, die Tötung des weißen Wals für Ahab, das Gewinnen von Lolita bzw. die Abwesenheit der Mutter für Humbert, das Überlisten des Fuchses und der anderen Tiere für die Maus.

Wunsch und Ziel können also unterschieden werden. Das erlaubt eine wirkungsvolle dramaturgische Technik: die der Erkenntnis, dass das Ziel falsch ist.

Einschub voller Erkenntnis

Der Moment der Erkenntnis ist häufig eine der stärksten Szenen einer Geschichte. Das hat damit zu tun, dass es bei Geschichten grundsätzlich um die Enthüllung von Wahrheit geht. Nicht nur für die Figuren – auch die Leser sollen nach einer guten Geschichte klüger sein als vorher. Sie haben also etwas erkannt, was zuvor unklar war. Meist wird dieser Effekt durch das direkte Miterleben des Erkenntnismoments des Protagonisten erzeugt. Das muss aber nicht sein. Es kann auch sein, dass die Figur im Dunkeln tappt, aber wir Leser die Wahrheit erkannt haben. 

Sehr klare Beispiele für den Erkenntnismoment: Ödipus merkt endlich, dass er selbst der Mörder von Laios ist. Die Maus erkennt, dass es den Grüffelo tatsächlich gibt. Humbert erkennt zwar am Ende, wie Lolita zu einer ganz normalen Frau wird, doch bei Humbert wie bei Ishmael und Ahab kann man argumentieren, dass Erkenntnis eher dem Leser vorbehalten ist – die Leser von Lolita und Moby Dick werden klüger als die Figuren. Im Märchen geht es eher darum, dass der Prinz erkennt, wie er den Drachen zu besiegen hat – wobei eine moderne Variante ihn vielleicht erkennen lassen würde, dass er den Drachen gar nicht töten muss, um die Hand der Prinzessin und das halbe Königreich zu gewinnen; in diesen tierlieben Zeiten würde er ihn eher zähmen (vielleicht nach erfolgreicher Behandlung eines schmerzhaften Zahnproblems) und in aller Freundschaft als Kaminanzünder statt Kaminvorleger mit nach Hause nehmen.

Das Ziel als scheinbare Lösung, Teil zwei

Das Ziel ist also Tor zum Wunsch, und die Sehnsucht nach diesem Zustand treibt die Figur an zu handeln. Daraus entsteht die treibende Kraft des Plots; die Lösung des externen Problems gibt der Handlung ihre innere Logik und Stringenz.

In der oben angedeuteten dramaturgischen Technik, ein falsches Ziel zu setzen, geht es darum, den Protagonisten bei Erreichen des  Ziels (quasi beim Zieleinlauf) erkennen zu lassen, dass sein anfangs gestecktes Ziel gar nicht das ist, was er wirklich benötigt, um seinen Wunsch zu erfüllen.

Die tiefere Bedeutungsebene betrifft die Transformation, also den Lerneffekt durch Erkenntnis. Hier verbindet sich die äußere Handlungsebene mit der tieferen Struktur der inneren Notwendigkeit der Figuren, die sich psychologisch und vor allem emotional darstellt: dem Bedürfnis nach Veränderung.

Innere und äußere Probleme

Der Wunsch, das Ziel und das externe Problem, das die Handlung in Gang bringt, betreffen die „äußere“ Ebene der Geschichte, weil sie das Handeln der Figuren bestimmen. Sie ergeben den Plot.

Doch die Leser empfinden erst Tiefgang, wenn sie die Entwicklung der Figur nachvollziehen können, die Figur sich verändert, etwas erfährt. Als bedeutungsvoll oder emotional wahr erscheint einem Leser eine Entwicklung, wenn sie den emotionalen oder psychologischen Zustand einer tragenden Figur betrifft. Mit anderen Worten, wenn wir empfinden, dass die Figur etwas lernt.

Um etwas zu lernen, muss die Figur eine Unzulänglichkeit (einen Makel, ein Verhängnis, eine Schuld) in sich tragen. Bei Ödipus ist das die Jugendsünde, einen frechen Mann auf der Straße ermordet zu haben. Humberts schreckliche Schwäche ist klar. Und selbst wenn Ahab seine Defizite nicht erkennt – der Leser tut’s.

Aus diesem Ansatz wird die duale Struktur von Geschichten sichtbar. Der Plot ist die Äußerlichkeit, doch was uns wirklich interessiert, ist die innere Transformation des Helden. Was lernt die Figur? Wie verändert sie sich, und was kann ich als Leser eventuell aus der Verwandlung lernen? 

 

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Die Kolumne – Storytelling von der Pike auf.

Das Schreiben ist die Verarbeitung von Inspiration, die Artikulation von Gedanken, die Ausführung von Ideen, die Umsetzung von Geschichten. Neben der Kerntätigkeit, die Geschichte in Worte zu fassen, muss jeder Schriftsteller ein weiteres, ebenso wichtiges Feld beherrschen: die Komposition der Story, die Dramaturgie, die Strukturierung des Stoffs.

Stoffentwicklung ist ein Handwerk, das Arrangement der Handlung und die Ausformung der Charaktere eine vielschichtige und komplexe Aufgabe. In dieser Kolumne schreiben wir über Plot-Struktur und Figurenentwicklung, über Stoffentwicklung und Dramaturgie.