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Lehrbuch einmal anders: die Fallstudie als Genre

Federwelt
Florian Bliefert
Bild zum Thema Lehrbuch einmal anders

Fallstudien sind keine neue Erfindung: Im Jahr 1870 wurden sie als Lehrmethode von Davis A. Garvin an der Harvard Law School in den USA eingeführt. Garvin wollte damit den bisherigen, sehr theoretischen Unterricht revolutionieren und seinen Studenten die Rechtswissenschaften anhand realer Gerichtssituationen näherbringen.

1920 fing dann auch die Harvard Business School an, mit Fallstudien zu arbeiten. Seither hat sich diese Lehrmethode weltweit an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen verbreitet. Fallstudien können helfen, trockene Theorie und komplexe Zusammenhänge anschaulich darzustellen, und damit den Lernerfolg erhöhen: Da sich die Studierenden bei der Lösung intensiv mit dem Fall auseinandersetzen müssen, sind sie emotional deutlich stärker am Thema beteiligt als beim konventionellen „Pauken“.

Zwei Arten von Fallstudien
Es gibt zwei verschiedene Arten von Fallstudien. Variante eins: Tatsächliche Ereignisse werden ausführlich geschildert und die Studierenden müssen die getroffenen Entscheidungen der Beteiligten bewerten. Ein Beispiel: Die Fusion von Daimler und Chrysler ist gescheitert, aber welche Entscheidungen wurden damals getroffen und welche Fehler wurden dabei gemacht? Was hätte man anders machen können?

Die zweite Möglichkeit sind konstruierte Situationen, bei denen die Studierenden selbst eine Entscheidung treffen und begründen müssen. Üblicherweise haben sie – wie im richtigen Leben – nicht alle wichtigen Informationen zur Verfügung, und es gibt vielleicht auch nicht die „richtige“ Entscheidung, nur gute und weniger gute.

Ich verwende in meinen Vorlesungen gerne eine eigene Fallstudie mit einem konstruierten Fall: Restaurantbesitzer Willi Rahlfs möchte als zweites Standbein einen Imbissstand eröffnen. Er hat aber bereits für sein bestehendes Restaurant zu wenig Personal und muss bei der Personalplanung oft improvisieren, mit negativen Folgen für die Qualität seiner Dienstleistung. Zusätzlich gibt es in der Geschichte noch seinen alten Freund Erich aus Ausbildungstagen. Der hat zwar kein Geld, möchte aber in das Geschäft mit dem Imbissstand einsteigen. Die Studierenden müssen sich zur Lösung der Fallstudie Gedanken über die Organisation des Restaurants und des Standes machen, über die Standort- und Rechtsformwahl sowie über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten.

Wie geht Fallstudie?

Nun zum Handwerklichen – wie sieht eine Fallstudie aus Sicht der Autorin/des Autors aus?

Je nachdem ob Sie eine reale Begebenheit schildern oder einen eigenen Fall konstruieren möchten, gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Eine Fallstudie über tatsächlich Geschehenes hat viel mit einem Bericht zu tun: Es gilt, Fakten zu recherchieren und anschaulich zu präsentieren. Sie beleuchten Hintergründe, dürfen als AutorIn dabei aber keine persönliche Wertung einfließen lassen. Genau das ist auch die Herausforderung, die die Studierenden in der Fallstudie meistern müssen.

Beim Schreiben einer Fallstudie brauchen Sie vorher eine Vorstellung über das Problem, das gelöst werden soll. Denken Sie wieder an die Daimler-Chrysler-Fusion: Mit allen dazu verfügbaren Informationen könnten Sie ganze Bücher füllen. Möchten Sie gezielt auf das Problem der unterschiedlichen Unternehmenskulturen (deutsche Daimler : amerikanische Chrysler) eingehen, müssen Sie die Informationen entsprechend filtern.

Dabei gilt es, einen Mittelweg zu finden zwischen nur wenigen Sätzen und weitschweifigen Erzählungen. Bauen Sie den Bericht um Ihre Kernaussage herum („Die Fusion ist daran gescheitert, dass niemand die kulturellen Unterschiede der beteiligten Unternehmen beachtet hat.“) und beleuchten Sie dabei die Hintergründe. Gerade bei Fallstudien, in denen Managemententscheidungen bewertet werden sollen, müssen die Beweggründe der handelnden Personen offensichtlich werden. Wenn diese nicht aus frei zugänglichen Quellen zu erhalten sind, müssen Sie zumindest so viele Informationen einbauen, dass die Studierenden Raum für eigene Interpretationen der Handlungsmotive haben.
Auch bei frei konstruierten Fällen ist Recherche wichtig. Hierbei recherchieren Sie aber eher die Lerninhalte, die vermittelt werden sollen. Üblicherweise sind das Methoden oder Werkzeuge, die die Studierenden anwenden sollen, um Probleme zu lösen. Denken Sie dabei wie bei einem klassischem Geschichtenaufbau – machen Sie es Ihrem Protagonisten möglichst schwer!
Wenn Sie wissen, welche Werkzeuge die Studierenden anwenden sollen, dann kennen Sie auch die Nachteile dieser Werkzeuge. Bieten Sie verschiedene Lösungsansätze an, die alle einen Haken haben. Die Studierenden sollen dabei lernen, eine Entscheidung zu treffen und diese auch zu vertreten. Soll der Restaurantbesitzer seinen Imbissstand als GmbH gründen und sein finanzielles Risiko begrenzen? Dann könnte aber sein Freund nicht mit einsteigen, da dieser kein Kapital beisteuern kann. Gründet er mit seinem Freund jedoch eine Gesellschaft ohne Kapitaleinlage, kann Rahlfs damit sein bestehendes Restaurant und seine Existenz gefährden.
Obwohl Fallstudien einen gewissen Anspruch an die LeserInnen stellen sollen, da sie auch als Prüfung verwendet werden, darf das Lesen selbst keine Schwierigkeiten bereiten. Das bedeutet für Sie als AutorIn, dass Sie auch bei Fallstudien darauf achten, gut und klar verständlich zu schreiben.

Seien Sie konkret!
Da Fallstudien sich häufig mit trockenen Themen befassen, ist es umso wichtiger, die Sprache lebendig zu gestalten. Schreiben Sie nicht: Durch die Ausgestaltung der geplanten Unternehmung als GmbH ist es dem Inhaber möglich, sein persönliches Haftungsrisiko auf die geleistete Einlage zu begrenzen. Das ist zwar sachlich richtig, aber vielen Studierenden fallen hier beim Lesen die Augen zu. Schreiben Sie lieber: Wenn Willi Rahlfs den Imbissstand als GmbH gründet, müsste er nicht mit seinem Privatvermögen haften.

Arbeiten Sie mit Verben, vermeiden Sie Adjektive!
Auch wenn in Fallstudien oft wenig Handlung vorkommt, sollten Sie immer starke Verben verwenden. Die machen Ihre Fallstudie anschaulich und die Studierenden haben mehr Freude am Lesen. Allein dadurch beschäftigen sie sich intensiver mit dem Text. Schreiben Sie nicht: Die korrekte Durchführung der Bestellungen des Imbissstands soll durch Willi Rahlfs gewährleistet werden. Schreiben Sie: Willi Rahlfs kümmert sich um die Bestellungen.

Vermeiden Sie Floskeln!
Es gibt viele Floskeln und Modewörter, die durch Unternehmen geistern und oft nur dazu dienen, die eigenen Worte möglichst eindrucksvoll klingen zu lassen. Hier ist die Gefahr groß, dass Sie solche Worthülsen übernehmen und damit Ihren Text schwächen. Ich möchte Sie besonders vor Anglizismen warnen. Es geht im „Business“ nicht immer nur um „quick wins“ und „results“. Das Gehalt wird ja auch von der Personalabteilung überwiesen und nicht von „H(uman)R(esources)“.

Brechen Sie die Regeln!
Fallstudien haben immer Prüfungscharakter. Daher dürfen Sie – im Gegensatz zu anderen Sachtexten – hier auch Fachbegriffe verwenden, ohne diese zu erklären. Eventuell können Sie den Leser sogar in die Irre führen und eine Figur falsche Informationen streuen lassen. Oder Sie locken den Leser auf eine falsche Fährte zur Lösung. Achten Sie aber darauf, dass diese Finten trotzdem fachlich korrekt sind. Nichts ist schlimmer für einen Dozenten, als unsinnige Fallstudien zu korrigieren, nur weil sich die AutorInnen beim Erstellen der Fallstudie vertan haben.

Seien Sie kreativ!
Obwohl die Fallstudie zum Genre der Sachtexte gehört, ist hier durchaus Ihre Fantasie gefragt, besonders wenn Sie einen Fall konstruieren. Sie erhöhen den Lerneffekt, wenn der Fall spannend aufgebaut und interessant erzählt ist. Dabei können Sie sogar Dialoge verwenden, um Informationen zu übermitteln, genau wie in einem Roman. Aber Achtung: Der Umfang einer Fallstudie beträgt selten mehr als zehn Seiten.

Ideen finden
Sie brennen nun darauf, die Fallstudie als Genre auszuprobieren, haben aber keine konkrete Aufgabenstellung? Auch für Fallstudien liegen die Ideen auf der Straße oder stehen in der Zeitung. Wenn Sie gerne recherchieren und vergangene Ereignisse nachvollziehen möchten, bietet Ihnen die Welt der Wirtschaft ein weites Feld. Jede Nachricht hat Hintergründe und es gibt immer eine Vorgeschichte, warum Dinge so passieren, wie sie passiert sind. Erzählen Sie die Vorgeschichte und lassen Sie die LeserInnen der Fallstudie sich mit den Fragen befassen, die Sie sich selbst stellen. Warum wollte Porsche VW kaufen und warum hat es nicht geklappt? Welche Entscheidungen haben das Unternehmen Prokon in die Insolvenz geführt? Was hätte man anders machen sollen? (Je nach Anspruch der Fallstudie kann es gewollt sein, dass die Studierenden auch auf eigene Faust recherchieren müssen, um das Problem lösen zu können.)
Oder ärgern Sie sich, dass es Ihren Lieblingsjoghurt nicht mehr zu kaufen gibt? Recherchieren Sie doch die wirtschaftliche Situation des Unternehmens und wie sich die Verkaufszahlen des Produktes entwickelt haben. Wer sind die Konkurrenten und welche Strategie haben die entwickelt? Erzählen Sie eine Vorgeschichte und stellen Sie den Studierenden in der Fallstudie die Aufgabe, eine neue Strategie für den Verkauf Ihres Lieblingsjoghurts zu erfinden.
Wenn Sie nicht alle Informationen bekommen, die Sie benötigen – schreiben Sie einfach über ein Unternehmen, das ganz ähnlich aufgebaut ist und ein ähnliches Produkt verkauft. Wichtig ist, dass der Kern des Problems gleich bleibt, aber verfremden Sie die Geschichte so weit, dass Sie ungestraft erfundene Fakten nutzen können. Damit vermischen Sie die zwei Grundtypen der Fallstudie zu einer spannenden Geschichte. Fantasie und Spannung können die Welt der Sachtexte durchaus bereichern!

Wer braucht eigentlich Fallstudien?
Um eine Fallstudie zu vermarkten, gibt es mehrere Möglichkeiten. Natürlich ist es naheliegend, den „Verbraucher“ direkt anzusprechen: Schmökern Sie in Vorlesungsverzeichnissen von Bildungsinstitutionen oder in Trainerlisten von Seminaranbietern. Am besten stellen Sie den DozentInnen Ihre Idee in einem Konzept kurz vor. Fragen Sie sie, ob sie so etwas in ihren Unterricht einbauen möchten. Das Honorar ist Verhandlungssache.
Oft stellen Bildungseinrichtungen ihren Studenten Lehrmaterial zur Verfügung. Dieses beinhaltet nicht nur reine Textbände, sondern auch Übungsbände und Fallstudien. Stellen Sie auch hier Ihre Idee den StudienbetreuerInnen vor: mit einem kurzen Konzept. Das Honorar kann sich zwischen fünf und sechzig Euro je gedruckter Seite bewegen. Und denken Sie daran: Bildungseinrichtungen brauchen auch oft AutorInnen für Textbände!
Außerdem bietet sich eine Sammlung von Fallstudien zu einem bestimmten Thema auch fürs Selfpublishing an. Hier sind Sie frei in der Gestaltung (auch des Preises), müssen sich jedoch selbst um die Vermarktung kümmern. Dabei können natürlich Kontakte in die „Bildungsszene“ von Vorteil sein.
 

Von Florian Bliefert: www.florian-bliefert.de

In FEDERWELT, Heft 112, Juni/Juli 2015

 

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Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 112, Juni 2015: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-32015
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