
Was kommt nach Selfpublishing?
Von Stephan Waldscheidt
Haben Sie schon alle Wände Ihrer Wohnung mit Verlagsabsagen tapeziert, den Fußboden damit ausgelegt und die Decke beklebt? Ärgern Sie sich über Kritiken Ihrer Bücher, weil sie unfair, falsch oder dumm sind oder von Ihrer ehemaligen Deutschlehrerin kommen und so punktgenau dorthin treffen, wo es am meisten wehtut?
Fühlen Sie sich von Coverdesignern übervorteilt, von Korrektorinnen genasführt, von Lektoren ruiniert und von Ihrer Geliebten missverstanden? Stinkt Ihnen die Notwendigkeit, bei Facebook, Twitter, Instagram, Google+ und Snapchat so dauerpräsent sein zu müssen wie Kim Kardashian oder Richard David Precht? Grämen Sie sich über Testleserinnen, die Sie zum Dank für ihre Mühe ins Sterne-Restaurant einladen, die aber dann auf fünfhundert Seiten nur zwei Kommafehler bemängeln (beide fälschlicherweise)? Nervt Sie Ihr Partner, der für Ihren Roman selbst nach der siebten Überarbeitung nicht mehr übrig hat als ein „Der Text da? Mm. Wann gibt’s Abendessen?“? Frustrieren Sie die Verkaufszahlen Ihrer Bücher, die nur noch von der Besucherzahl Ihrer Lesungen und der Durchschnittstemperatur von Wladiwostok im Januar unterboten werden? Piesackt Sie Ihr Agent abwechselnd mit monatelangem Dauerschweigen, Absage-Bombardements oder „lustigen“ YouTube-Filmchen über sein rauschiges Meerschwein? Können Sie die Unfähigkeit, Untätigkeit, Unsäglichkeit von Marketing und PR in Ihrem Verlag einfach nicht länger ertragen? Bringen Sie es nicht mehr über sich, bei jeder Gelegenheit Ihr Buch als das tollste Ding seit Erfindung der Blutdruckmanschette anzupreisen?
Haben Sie mehr als zwei Mal laut „Ja!“ gerufen oder genickt, sind Sie reif für etwas Neues. Haben Sie mehr als zehn Mal laut „Ja!“ gerufen oder genickt, sind Sie reif für einen sehr langen Urlaub. Auf einer sehr einsamen Insel.
Von einer sehr belebten Halbinsel, Südkorea, schwappt seit Anfang des Jahres eine Trendwelle um den Globus, die verspricht, mehr als ein kurzatmiger Hype zu werden. Publishing ist müde, Selfpublishing ist so passé wie das Wort passé – der moderne Autor erkennt, dass ihn nur eins wirklich dauerhaft glücklich macht:
Selfreading!
Das Wort sagt schon alles: Der Selfreader liest die von ihm selbst verfassten Texte – und er schreibt die Texte, die er liest. Ein perfekter Kreislauf, Yin und Yang in Vollendung – das Nirvana für Autoren.
So wie das Selfpublishing aus der zunehmenden Frustration der klassischen Verlagsautoren entstanden ist, die keinen Verlag fanden oder von ihrem Agenten, ihrer Lektorin schlecht behandelt oder schlicht ignoriert wurden, hat sich auch das Selfreading aus einer Frustration heraus entwickelt. Immer mehr Selfpublisher sind unzufrieden. Sie beklagen mäßige Verkaufszahlen, eine Verweigerungshaltung des stationären Handels ihren Büchern gegenüber, das miese Wetter und ein anhaltend schlechtes Image – und das trotz leidenschaftlicher Schufterei als Autor, Buchgestalter, Buch- und Selbstvermarkter. Und trotz ruinöser Bestechungsgelder an Rezensenten und die Amazon-Hitparade.
Eine der Trendsetterinnen ist Che Yun. Die in Seoul lebende Autorin von, wie sie ihre Literatur selbst nennt, bilderlosen Romance-Porno-Mangas, schreibt nur noch für sich – und liest nur noch, was sie schreibt.
„Ich habe“, sagt sie, „im Wortsinne zu mir selbst gefunden. Und: Ich habe endlich die ideale Leserin für meine Bücher entdeckt. Niemand weiß besser, was mir gefällt, als ich selbst. Finde ich einen Fehler, korrigiere ich ihn – falls ich in Stimmung bin. Ich muss nicht länger fürchten, dass jemand ein peinliches Foto von mir auf Instagram postet, nur weil ich statt Buchu-Kimchi Beg-Kimchi geschrieben habe oder wegen eines Recherchefehlers Riesling das beliebteste deutsche Bier nenne. Meine Eltern müssen sich nicht mehr für mich schämen, wenn wieder ein neues Buch von mir erschienen ist. Selbst als Braut bin ich interessanter geworden, da in Asien noch immer viele Männer kluge Frauen meiden. Die wahre Klugheit einer Selfreaderin“, fügt Che Yun weise hinzu, „kennt niemand als sie selbst.“
Vorteile des Selfreading gegenüber Selfpublishing:
+ Kein Zurschaustellen persönlichster Gedanken in der Öffentlichkeit (oder von Körperteilen zu Vermarktungszwecken).
+ Kein Ärger mit Zensoren, dem Jugendamt oder klagefreudigen Bekannten, die im Buch vorkommen, weil sie nie hinter ihrem kapitalen Rottweiler aufräumen.
+ Nie mehr schlechte Kritiken, dumme Kommentare, blöde Leserzuschriften oder Stalking!
+ Sich nie mehr für Werbung verbiegen müssen! Auch nicht die genannten Körperteile.
+ Ciao Facebook, bye-bye Twitter, f*** off eigene Website und eigener Newsletter zur Kundenbindung!
+ Lesungen nur noch in der eigenen Wohnung und, wenn Sie möchten, vor dem Spiegel.
+ Nie mehr Geld ausgeben für Korrektorat, Lektorat, Coverdesign, „unbestechliche“ Medienvertreter und so weiter.
+ Nie mehr Geld ausgeben für Bücher.
+ Nie mehr ärgern, aufregen, langweilen wegen der Bücher anderer Autoren – und vor allem: wegen deren Erfolgen.
+ Zeit beim Lesen sparen! Da Sie den Inhalt Ihrer Werke kennen, können Sie die langweiligen Passagen überspringen.
+ Endlich gemeinsam mit den Medien, Verlagen und Verlagsautoren über die eitlen Selfpublisher herziehen!
Dass auch das Selfreading Nachteile birgt, soll nicht verschwiegen werden. Erste Selfreader aus Kyoto, Seattle und Hildesheim berichten von einer Leseblockade. So schreibt der Hildesheimer Thrillerautor C. K. Lein auf seinem Blog „Ich mach’s mir selbst“: „7. Mai 2016. Leseblockade. Brutal. Ich kann meine eigenen Texte nicht mehr sehen. Sie k***** mich an. Immer dasselbe Geseire, unerträglich. Seit vier Tagen habe ich kein einziges Wort mehr von mir gelesen. SOS! Hat jemand Tipps? Bitte rein damit als Kommentar. Ach, sorry, Kommentarfunktion ist abgeschaltet. Brauche ich als Selfreader ja nicht mehr.“
Zur vielleicht größten Herausforderung für den Selfreader könnten sich zwei starke Bedürfnisse entwickeln: der Drang, von anderen gelesen zu werden, und der Drang, etwas von anderen zu lesen. Doch die erfahrene Che Yun hat auch darauf eine Antwort gefunden: „Wann immer es die Arbeit an meinen eigenen Büchern zulässt – das Schreiben und das Lesen –, stelle ich mein Talent anderen Autoren als Ghostwriterin zur Verfügung. So werde ich zwar gelesen, aber das bin nicht wirklich ich, die da gelesen wird, verstehen Sie? Und falls ich mal etwas von einer anderen Autorin lesen möchte, schreibe ich einfach einen anderen Namen über meinen Text. Das funktioniert jedes Mal.“
Und wenn das nicht klappt, he, warum gibt es Therapeuten? Für das Geld, das Sie durch Selfreading sparen, können Sie sich den besten leisten. Aber vereinbaren Sie die Termine bald. Bevor die anderen Selfreader sie Ihnen wegschnappen.
Autor: Stephan Waldscheidt | www.schriftzeit.de
In: Federwelt, Heft 119, August 2016
Foto:Hieu Le, pexels