
Vorlesen für Fortgeschrittene
Ein Rezitationskurs von Michael Rossié
Folge 61: Gegensätze betonen
Beim Betonen von Sätzen ergibt sich dann ein besonderes Problem, wenn wir als Vorlesende den nächsten Satz noch nicht kennen. Der Satz Sie nahm sich zwei Stück Kuchen ist völlig eindeutig. Aber nicht, wenn es weitergeht mit Und nicht wie sonst nur eines. Da hier die Menge im Vordergrund steht, hätte ich die Aufmerksamkeit des Hörers sofort auf diese Tatsache lenken müssen, damit er leichter versteht, was ich meine.
Kennt man den nächsten Satz, muss es heißen: Sie nahm sich ZWEI Stück Kuchen, und nicht wie sonst nur EINES. Jetzt ist klar, was der Autor sagen wollte. Das gleiche gilt für Sie NAHM sich zwei Stück Kuchen, es BOT ihr niemand etwas AN. Jemand der vorliest, muss also den Text schon so vorbereitet haben, dass er weiß, was kommt. Beim Erzählen wüssten wir ja auch, warum wir den einen Gedanken zuerst teilen und worauf wir mit unserer Geschichte hinauswollen.
Wie wichtig Sprechzeichen für die lesende Autorin, den lesenden Autor sind, habe ich ja schon in Folge 25 beschrieben. In so einem Fall sind sie unerlässlich. Es wäre unsinnig, sich da auf seine Intuition zu verlassen.
Besonders wenn Zahlen im Spiel sind, sollte eine Zahl die andere vorbereiten. Nach einhundertEINundzwanzig kann nur die einhundertZWEIundzwanzig kommen – oder eine andere einhundert...undzwanzig mit veränderter Einerstelle (siehe Folge 27).
Manche Satzkonstruktionen geben die Betonungen vor, ohne dass wir darüber nachdenken müssten. Nach EINERSEITS folgt ANDERERSEITS nach ERSTENS folgt ZWEITENS und nach WEDER folgt NOCH. Da betonen wir automatisch richtig, weil wir durch die Betonung dieser Wörter andeuten, dass da noch etwas kommt.
Aber bei Gestern war ihr Ziel noch klar muss ich den nächsten Satz kennen, um die Aufmerksamkeit der Hörer richtig zu führen. Ist das Gefühl heute nicht mehr klar? Ist das Ziel noch klar, aber der Weg bereitet ihr Kopfzerbrechen oder war das Ziel gestern noch so gerade klar, aber heute ist alles verschwommen? Nur wenn Sie das wissen, können Sie den Satz so lesen, dass Sie sofort verstanden werden.
Jemanden gut zu unterhalten, ist eine Frage der richtigen Vorbereitung!
Autor: Michael Rossié | www.sprechertraining.de
In: Federwelt, Heft 121, Dezember 2016