Vorlesen für Fortgeschrittene
Ein Rezitationskurs von Michael Rossié
Folge 58: Die Länge der Lesung
Wie lange sollten Sie denn lesen? Die einfache Antwort: „Kommt drauf an, wie gut Sie sind!“ Wenn die Zuschauer nicht merken, wie die Zeit vergeht, darf es ruhig ein bisschen länger dauern. Wenn die ersten nach einer Viertelstunde auf die Uhr sehen ...
Keine Filmszene, einige Kunstfilme ausgenommen, dauert länger als drei Minuten. Die Drei ist in Film und Theater eine magische Zahl. Die meisten Filme dauern 90 Minuten. Das ergibt sich aus der dreiaktigen Struktur. Menschen können sich nur eine bestimmte Zeit konzentrieren, bevor sie abschalten. Außerdem hat es mit unseren Gewohnheiten zu tun. Wir haben uns bei Veranstaltungen an eine bestimmte Länge gewöhnt. 90 Minuten wären eine gute Länge. Oder auch 60 Minuten Lesung und danach 30 Minuten Fragen.
Wenn es Bewirtung gibt, wird man Ihnen eine Pause vorschreiben, die Sie sehr gut zum Verkauf Ihrer Bücher nutzen können. Denn viele wollen nach der Veranstaltung direkt nach Hause, weil der Babysitter wartet. Dann könnte es vor der Pause eine knappe Stunde dauern, eventuell mit einem Musiker, der zwischen den Kapiteln spielt, und dann nochmal mindestens 30 Minuten nach der Pause. Wichtig ist: Der Teil nach der Pause sollte kürzer sein als der Teil vor der Pause. Auch daran haben wir uns gewöhnt und wären irritiert, wäre es anders.
Auf keinen Fall frage ich „Wollen Sie noch etwas hören?“ ins Publikum. Wie sollen Sie da jetzt eine repräsentative Antwort bekommen? Da schreien dann ein paar Fans, und die anderen sind festgenagelt. Sie als Autor entscheiden, wie lange es dauert, und daran wird während der Lesung nicht gerüttelt, von einer kleinen Zugabe mal abgesehen.
Ein weiteres Kriterium für die Länge ist der Eintrittspreis. 25 Euro sind viel, wenn es gilt, dafür einer Autorin zuzuhören, die 45 Minuten mit gesenktem Blick aus ihrem Buch vorliest. 90 Minuten Multimedia-Show für 5 Euro ist ein absolutes Schnäppchen.
Jemanden gut zu unterhalten, ist eine Frage der Vorbereitung.
Autor: Michael Rossié | www.sprechertraining.de
In: Federwelt, Heft 118, Juni 2016