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Vorlesen für Fortgeschrittene - Folge 57: Die trockene Pointe

Federwelt
Michael Rossié

Vorlesen für Fortgeschrittene
Ein Rezitationskurs von Michael Rossié

Folge 57: Die trockene Pointe

 

Eine Pointe ist dann am besten, wenn sie „trocken“ gesetzt wird.

Eine „Pointe trocken setzen“ bedeutet, dass der Satz möglichst beiläufig gesprochen wird, ohne Gestaltung, ohne emotionalen Unterton. Bei Flugreisen empfiehlt es sich, immer vorn zu sitzen. Dann kommt beim Absturz der Getränkewagen nochmal vorbei. (Ingolf Lück)

Wenn Sie diesen Witz ganz ernst vortragen und das nicht im Mindesten verwunderlich finden, wird der Witz komisch. Wenn Sie aber vor dem dann schon ein prustendes Lachen unterdrücken müssen und vor dem nochmal eine große Pause machen und im übertragenen Sinn mit zwei Glöckchen klingeln, ist die Pointe weg.

Auf der Bühne lachen Komiker in der Regel nicht über ihre eigenen Witze. Auch wenn Mario Barth in seinen Shows das Gegenteil beweist. „Na hören Sie mal, das ist doch wohl der Gipfel!“, faucht der Kollege, „Ich erzähle Ihnen, dass meine Frau ein Baby erwartet, und Sie fragen, von wem!“ „Nun regen Sie sich mal nicht auf!“, versucht der andere ihn zu beruhigen, „Ich dachte ja nur, Sie wüssten es.“

Der letzte Satz verträgt keine Häme, keine Wut, keinen Sarkasmus. Der muss einfach trocken gesetzt werden. Die zweite Person merkt gar nicht, dass es eine Pointe ist, und dadurch wird es für uns komischer.

Warum bekommt man eine Frau so schwer aus der Küche weg? – Wegen der Herdanziehungskraft.

Der Sprecher lässt den Satz einfach locker fallen. Er will alles, nur keinen Witz machen. Denn wir lachen nun mal mehr über jemanden, dem ein Missgeschick passiert oder etwas Blödes herausrutscht, als über jemanden, der mit viel Anlauf EINEN WITZ ERZÄHLT.

Auch wenn es absurd wird, ist es wichtig, dass die Sprecherin oder der Autor ruhig bleibt und das Ganze trocken erzählt. Als Jennifer nach Hause kam, stand in der Küche ein riesiger Baum. Natürlich kann ich diesen Satz auch aus Jennifers Sicht sprechen und mit einem ungläubigen Erstaunen unterlegen, aber die komische Wirkung ist dann weg. Die Stimmung wird so eher bedrohlich oder verrückt.

Jemanden gut zu unterhalten, ist eine Frage der richtigen Vorbereitung!

 

Autor: Michael Rossié | www.sprechertraining.de
In: Federwelt, Heft 117, April 2016