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Rettungsinseln im Meer der Recherche. Shirley Michaela Seul im Gespräch mit Gunna Wendt

Federwelt
Zwei Hände ragen aus einer tosenden Welle heraus, eine weitere Hand versucht nach ihnen zu greifen

Gunna Wendt lebt seit 1981 als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Aus ihrer Feder stammen Kurzgeschichten, Theaterstücke, Gedichte, Essays und mehr als 30 Bücher, darunter vor allem literarische Biografien. Ihre Protagonistinnen sind überwiegend Frauen, die ihren eigenen Weg gehen und sich selbst neu erfinden.
Unserer Autorin Shirley Michaela Seul hat sie verraten, wie sie beim Recherchieren vorgeht und wie es ihr gelingt, den Punkt zu finden, an dem sie genug Material hat, um zu sagen: Das trägt mich über ein ganzes Buch.

Was schätzen Sie: Wie viel Zeit Ihrer Arbeit an einer Biografie verbringen Sie mit der Recherche und wie viel mit dem Schreiben?
Schreiben und Recherchieren empfinde ich als einen Prozess. Ich höre nicht irgendwann schlagartig auf zu recherchieren, es läuft während des Schreibens weiter, wenn auch nicht so intensiv wie ganz zu Beginn. Allerdings fange ich mit meiner Recherche nie bei null an. Die Frauen, deren Lebensgeschichte ich aufschreibe, haben mich schon vor dem Buchprojekt interessiert wie Maria Callas, Ruth Drexel oder Lou Andreas-Salomé.

Das persönliche Interesse erleichtert die Arbeit?
Unbedingt! Man will ja selbst immer mehr wissen! Ich glaube, dass einem jede Arbeit leichter von der Hand geht, wenn man mit dem Herzen dabei ist. Allerdings kann ich mich auch für eine Person interessieren, die ich vorher gar nicht kannte. Das wäre der Fall, wenn ich im Auftrag eines Verlages eine Biografie gestalte. Ein weiteres Kriterium besteht darin, ob es bereits Biografien zu einer Person gibt, und wenn ja, welche Aspekte der Persönlichkeit sie in den Vordergrund stellen.

Wie gehen Sie konkret vor beim Recherchieren?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Der Nachlass von Liesl Karlstadt, Lena Christ und Franziska zu Reventlow befindet sich in der Münchner Monacensia, einem zur Stadtbibliothek gehörenden Literaturarchiv. – Das war schon einmal eine gute Ausgangsposition für die Recherche. Ganz anders bei Maria Callas. Ihr Nachlass ist in alle Winde verstreut. So klapperte ich die großen Opernhäuser ab, in der Hoffnung, dort fündig zu werden.

Das klingt nach Detektivarbeit.
So ist es! Recherche hat sehr viel mit Aufspüren, mit Entdecken zu tun. Und manchmal ist es mir auch gelungen, ein kleines Geheimnis zu lüften. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich das dann auch veröffentliche.

Kann eine Biografin objektiv sein?
Diesen Anspruch stelle ich nicht an mich. Ich bin viel zu sehr Psychologin, um mir die Illusion zu erlauben, ich könnte objektiv sein. Und das will ich auch gar nicht.

Ist Ihre Arbeit einfacher, wenn die Personen schon lange tot sind? Aber dann fallen Zeitzeugen zum Austausch weg ...
Ich schreibe auch über lebende Personen! Wenn es möglich ist, Zeitzeugen zu interviewen, die meine Protagonisten persönlich gekannt haben, erhalte ich ein anderes Bild. Doch solche Interviews sind mit Vorsicht zu genießen, da jeder Mensch ja ein ganz individuelles Verhältnis zu einem anderen hat und seine Subjektivität das Bild gestaltet, das er „objektiv“ von diesem Menschen weitergibt. Und dann muss man auch noch die Eitelkeit im Auge behalten, da manche Menschen nach dem Tode einer bedeutenden Persönlichkeit eine Nähe herbeispintisieren, die es zu Lebzeiten der Person nicht gegeben hat. Insofern gilt im Umgang mit Zeitzeugen dieselbe Maxime wie bei allen Quellen: höchste Sorgfalt, Seriosität prüfen!

Und man darf sich beim Recherchieren nicht auf eine einzige Quelle stützen?
Auf keinen Fall. Außerdem sollte man akzeptieren, dass man immer nur gewisse Persönlichkeits-Aspekte eines Menschen herauspicken kann. Ich bezweifle, dass es möglich ist, einen Menschen in seiner Gesamtpersönlichkeit darzustellen. Als Biografin wähle ich einzelne Aspekte der Persönlichkeit aus, die ich mit meiner Recherche gezielt verfolge. Das ist enorm wichtig, denn sonst besteht die Gefahr, im Meer der Informationen im wahrsten Sinne des Wortes zu ertrinken. Wenn ich weiß, wonach ich suche, kann mir das nicht passieren. Was natürlich bedeutet, dass ich vorher schon so viel Kenntnis über die zu beschreibende Person erlangt habe, dass ich eine These wage, aus der sich der rote Faden des Buches entwickelt. Diese These wiederum hilft mir dabei, konkrete Fragen zu stellen. 
Bei Lena Christ beeindruckte mich besonders ihr Glücksanspruch, den sie trotz ihres harten Lebens lange aufrechterhalten hat. Wie schaffte sie das, fragte ich mich – und diese Frage leitete meine Recherche. 
Bei Maria Callas fiel mir die Spaltung in ihrer Darstellung auf. Einerseits die kalte Diva, andererseits die betrogene, verletzte Frau. Das war mir zu wenig, um ihre Karriere zu erklären. Da muss doch noch etwas anderes sein, dachte ich mir – und suchte danach.

Sie raten also dazu, dass man beim Recherchieren eine bestimmte Fährte verfolgt, die man am besten vorher festlegt?
Ja, wenn das möglich ist. Manche Fährten ergeben sich allerdings erst aus der Recherche. Ich würde sagen, dass Recherchieren immer nur der erste Schritt sein kann. Die Recherche allein schreibt kein Buch. Der wichtigere Schritt ist das Weiterdenken.

Woher wissen Sie, dass Sie genug Material haben, um mit dem Schreiben beginnen zu können?
Das ist ein Erfahrungswert. Es gibt aber auch gewisse Alarmzeichen. So merke ich beispielsweise, dass ich mich von dem, was ich ursprünglich für interessant hielt, entferne. Ich folge dann sozusagen dem Material, nicht aber den Aspekten, die ich in meinem Buch thematisieren möchte. Dann verliere ich mich vielleicht in Details und vergesse darüber meine eigenen Fragen. Wenn ich das merke, gehe ich zurück zum Ausgangspunkt und vergegenwärtige mir, um welche Aspekte es mir ging. So gewinne ich wieder Klarheit, die für das Recherchieren unabdingbar ist. Mit dem Schreiben beginne ich aber nicht erst, wenn das Recherchieren beendet ist, das ist es nämlich nie, so lange ich mit einem Buch befasst bin. Ich beginne zu schreiben, wenn ich noch nicht alles weiß. So bleibe ich neugierig. Aber natürlich habe ich die wichtigsten Fakten dann bereits recherchiert.

Aber man weiß doch nie alles!
Das ist richtig. Zum Glück blockiert mich kein Vervollständigungsdrang. Denn dann könnte ich womöglich niemals ein Buch beenden. Beim Recherchieren muss man einen Punkt setzen können, auch wenn man weiß, dass man noch lange nicht alles weiß. Das ist manchmal nicht einfach, aber zwingend erforderlich. Und hier dienen die Aspekte, von denen ich eben sprach, als Rettungsinseln. Wenn ich weiß, wonach ich suche, und wenn ich dazu genug Material habe, dann komme ich damit über das Meer der vielen Persönlichkeitsanteile, die einen Menschen ausgemacht haben. Ich weiß nicht alles, doch genug, um auf sicherem Boden unterwegs zu sein. Wenn ich heute meine Bücher anschaue oder aus älteren Büchern lese, denke ich manchmal, dass ich an dieser oder jener Stelle noch hätte weiterforschen können. Eine Biografie ist immer auch eine Momentaufnahme dessen, was mich als Biografin zum Zeitpunkt des Schreibens am meisten interessierte. Das kann sich verändern. Zehn Jahre später würde ich vielleicht zusätzlich den einen oder anderen Aspekt vertiefen.

Gibt es einen speziellen Moment, an dem Sie beschließen: Jetzt fange ich zu schreiben an?
Ja. Aber das muss nicht unbedingt klappen. Ich erinnere mich gut einen ganz bestimmten „Anfang“. Den ganzen Tag drückte ich mich ums Schreiben herum. Ich hatte viel Material gesammelt, allein die Struktur des Buches fehlte mir noch, aber ich war sicher, ich würde sie beim Schreiben finden. Dazu hätte ich aber mal anfangen müssen. Stattdessen besuchte ich einen Vortrag mit anschließender Diskussion. Es ging um künstliche Intelligenz, kein verwandtes Thema zu meinem. Doch plötzlich passierte es: Die Struktur materialisierte sich. Ich packte meinen Notizblock aus und schrieb die Kapitelüberschriften auf. Am Ende der Veranstaltung sprach mich eine Frau an und meinte, ich müsse ja sehr beeindruckt gewesen sein, weil ich so viel mitgeschrieben hätte. Diesen Impuls, jetzt losschreiben zu müssen, habe ich schon oft erlebt. Ich beherzige ihn immer, weil er mir sagt, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich die Regie übernehme. Recherchieren ist ja ein Folgen. Schreiben ist Bestimmen.

Schreiben Sie viel mit der Hand? Wie verwalten Sie Ihr Rechercheergebnisse? Auf Karteikarten, in Dateien?
Ich sammle die Aspekte in Ordnern, am Computer. Wichtige Erkenntnisse notiere ich mit der Hand in eine Kladde.

Wenn Sie über Persönlichkeiten schreiben, die schon lange tot sind, müssen Sie ja auch deren Lebensumstände in der damaligen Welt berücksichtigen.
Natürlich. Viele meiner Figuren haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelebt. Ich weiß mittlerweile, wie der Alltag für die Menschen damals aussah. Bei meiner ersten Biografie musste ich das alles recherchieren. Aber auch heute noch entdecke ich immer wieder neue Fragen, die ich klären muss. Als ich die Biografie über Paula Modersohn-Becker verfasste, wollte ich auch über ihren Aufenthalt in Paris schreiben. Aber wie kam man damals nach Paris? Wie lange dauerte die Bahnfahrt ab Bremen? Gab es schon eine U-Bahn oder war Paula in Paris mit einer Pferdedroschke unterwegs?
Bei meinem Buch über die Familie Bechstein musste ich zurück bis 1850 – da war von U-Bahnen noch lange keine Rede! Ich finde es sehr reizvoll, sich in völlig andere Lebensumstände hineinzudenken – und natürlich ist es manchmal auch bedrückend. Frauen, die sich nicht so verhielten, wie es das damals vorherrschende Korsett für sie vorsah, wurden schnell entmündigt oder in die Psychiatrie gesteckt. Insofern sind Biografien immer auch Gesellschaftsgeschichten. Und man muss sehr gut aufpassen, damit einem keine Fehler unterlaufen. Maria Callas war stark kurzsichtig – aber man hat sie nie mit Brille auf der Bühne gesehen. Gab es in den 1950er-Jahren schon Kontaktlinsen? Und wenn nicht: Wie hat sie sich zurechtgefunden?

Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit dem Lektorat für Sie?
Das ist eine Art Absicherung. Ich habe einige wirklich beglückende Erfahrungen mit Lektorinnen gemacht, die mich inspiriert, korrigiert und ermutigt haben, wenn es notwendig war. Sie haben sich auf mein Selbstverständnis als Biografin und meine Art des Schreibens – ich verstehe eben eine Biografie als Dialog mit der jeweiligen Figur – eingelassen und auf dieser Ebene Vorschläge gemacht. Das hat mir weitergeholfen.

Besteht bei manchen Rechercheergebnissen die Gefahr, die LeserInnen mit zu vielen Details zu überfordern?
Ich muss gestehen, dass ich während der Arbeit an einem Buch nicht an die Leserinnen und Leser denke. Ich selbst lebe so sehr in dieser Welt, dass ich einfach mal annehme, die LeserInnen werden später alles genauso spannend und interessant finden wie ich. Doch dann kommen die Korrekturdurchgänge – und da streiche ich schon. Manchmal kann ich mich allerdings nicht von einem Detail trennen und beschreibe es dann ausführlicher, um seinen Platz in dem Buch zu rechtfertigen.

Es geht also bei der Verwertung der Recherche um sehr viele Entscheidungen?
Ja. Vor allem um die Frage, was wichtig und was unwichtig ist. Hier helfen wiederum die Aspekte, die ich herauspicke, da sie die Linie vorgeben. Ich habe früher viel fürs Radio gearbeitet, dabei habe ich ein Gefühl für das richtige Timing entwickelt. Das spielt ja auch eine wichtige Rolle, wann man im Text welche Rechercheergebnisse verarbeitet. Oder sie eben weglässt. Da mir die Handlungsbögen und die Struktur wichtiger sind als Details, fällt es mir nicht allzu schwer, auf manche Kleinigkeiten zu verzichten. Zu viele Details können eine Figur wie konstruiert erscheinen lassen. Wichtig ist für mich die Geschichte im Gesamten, die ich erzählen will, und natürlich, dass eine Figur lebendig wird.

Autorin: Shirley Michaela Seul | www.shirley-michaela-seul.de | www.gunna-wendt.de | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 133, Dezember 2018
Blogbild: Sue Carroll, unsplash

 

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