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Recherchieren mit der Klartraumtechnik

Federwelt
Leonhard F. Seidl
Mensch mit geschlossenen Augen im Wald

Martin Beyer hat sich in das Leben eines Henkers eingeträumt. Durch luzides Träumen ist es möglich, seine Träume bewusst zu erleben und sie auch zu steuern, also sich aktiv in Settings hineinzuträumen.

Martin Beyer im Gespräch mit Leonhard F. Seidl

Martin Beyer hat für seinen Roman Und ich war da mithilfe der Klartraumtechnik recherchiert. Darin schildert er, wie August Unterseher Henkershelfer der NS-Schergen wird, und zwar bei den Hinrichtungen der Geschwister Scholl. Der mit der Hinrichtung beauftragte Scharfrichter Johann Reichhart, eine historische Figur, fragt Unterseher, ob er nicht aushelfen könne, da seine Gehilfen erkrankt seien. Dieser, traumatisiert durch die Kriegserlebnisse im Russlandfeldzug und wegen seiner Verwundung nutzlos am väterlichen Hof, sagt ohne langes Zögern zu.
Die größte Herausforderung beim Schreiben? „Bestand darin, die Kriegserlebnisse von August Unterseher in Russland zu schildern. Ich wollte nichts aussparen“, sagt Beyer. „Ich habe lange nach einem Weg gesucht, denn hier trifft das Diktum vom Unerzählbaren der Geschehnisse vermutlich am ehesten zu. Durch ein Interview mit einer Klartraumforscherin bin ich auf die Lösung gekommen, zumindest auf meine Lösung.“

Wie sah die Lösung konkret aus?
Durch luzides Träumen ist es möglich, seine Träume bewusst zu erleben und sie auch zu steuern, also sich aktiv in Settings hineinzuträumen. Sportler trainieren so etwa bestimmte Bewegungsabläufe; mein Vorhaben bestand darin, diese Technik zu erlernen und mich in Kriegsszenarien des Zweiten Weltkriegs hineinzuträumen. Hierzu gibt es mittlerweile viele Hilfestellungen, Videokurse im Internet oder das Buch Klarträume – Wege ins Unterbewusstsein von Robert Waggoner und Caroline McCready (Heyne). Das „Klartraum-Training“ besteht darin, sich immer wieder tagsüber zu fragen: „Ist das ein Traum?“ – sich also bewusst zu machen, ob man träumt oder wach ist. Das wird auch „reality check“ genannt. Darüber hinaus ist es ratsam, regelmäßig ein Traumtagebuch zu führen und zu identifizieren, welche Traummuster wiederkehren.

Haben Sie Tipps für Anfängerinnen und Anfänger?
Wiederkehrende Traummuster, eine Prüfungssituation oder dergleichen, sind gute Einstiegsmöglichkeiten in einen Klartraum, weil es dann im Traum leichter ist, sich des Träumens bewusst zu werden. Meditations- und Suggestionstechniken helfen zudem, sich auf einen Klartraum vorzubereiten. Außerdem wird man auf verschiedene Wege stoßen, einen Klartraum einzuleiten. Die sogenannte MILD-Technik (MILD ist die Kurzform von: Mnemonic Induced Lucid Dream) etwa – oder das WBTB, es steht für Wake-Back-To-Bed. Dies bedeutet, dass man nach vier bis fünf Stunden Schlaf aufsteht, sich mit dem Klarträumen beschäftigt, und wieder einschläft. Dies soll die Wahrscheinlichkeit eines Klartraums erhöhen, da man leichter in eine REM-Phase (REM = Rapid Eye Movement) kommt, in der die Träume am intensivsten sind. Die Vorbereitung auf einen Klartraum erfordert Disziplin und einen durchaus langen Atem. Ich empfehle in der Rückschau, hier keine Alleingänge zu wagen, sondern in enger Absprache mit Vertrauten oder mit Begleitung von Klartraumforschern vorzugehen.

Wie ging das Klarträumen nach der Einstiegsphase weiter?
Mir ist es nach einigen Monaten Training tatsächlich gelungen, luzide Träume zu erleben. Diese Erfahrung ist anfangs so überwältigend, dass es schwierig ist, nicht sofort aufzuwachen. Man kann den Traum aber stabilisieren, etwa, indem man die Hände reibt. Dann habe ich versucht, mich in meinen Roman hineinzuträumen, wobei ich nicht immer in Szenarien landete, die nach dem Zweiten Weltkrieg aussahen. Aber: Sie haben mir Strukturen und Bilder mitgegeben haben, die ich verarbeiten konnte. So hatte ich von einem religiösen Versöhnungsritual geträumt, das ich sehr gut aufgreifen und in die entsprechende Zeit transportieren konnte.
Mir kam dann auch die Idee, dass die Romanfigur selbst diese Technik erlernt, um noch einen anderen Zugang zu den eigenen Traumata zu finden. Daher habe ich die Kriegserlebnisse im Mittelteil des Romans als Traumprotokolle von August Unterseher geschrieben, in denen alles zusammenkam: das Erträumte, das Gelesene, das Gesehene. Dass sich August dieser Technik öffnet, ist ein Zugeständnis an seine Tochter Anna, die von ihm fordert, endlich über seine Erlebnisse während der Nazi-Diktatur zu erzählen. Bevor er stirbt. Anna studiert in den 1980ern in Frankfurt am Main – dort wurde zu dieser Zeit von Paul Tholey der Grundstein für die Klartraumforschung gelegt. Und bereits Tholey hat über Klarträume im Dienst der psychischen Heilung und der Persönlichkeitsentfaltung – so der Titel eines Aufsatzes – publiziert, sodass es nicht abwegig erschien, dass das Klarträumen auch ein Ansatz zur Traumata-Behandlung sein könnte.

Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?
Da ein Klartraum viel stärker wirkt als ein „trüber“ Traum, da die sinnliche Qualität voll gegeben ist, waren die geträumten Kriegsszenen eine sehr intensive Erfahrung, die aber sicher trotzdem nur eine leise Ahnung davon vermittelt, wie es einem Soldaten damals wirklich ergangen ist. Mich so intensiv mit diesen menschlichen Abgründen zu beschäftigen, war nur in kurzen Phasen mit jeweils langen Pausen dazwischen möglich. Geholfen hat es mir sehr, in ein normales Familienleben eingebunden zu sein, sonst hätte ich mich in diesen Dunkelheiten verlieren können. So oder so bleibt es eine intensive Erfahrung, denn die Klarträume kann man natürlich auch zu anderen Experimenten nutzen, am beliebtesten ist wohl das Fliegen.

Was von der Recherche ist in welcher Form im Text gelandet?
Da August sich mithilfe der Klartraumtechnik selbst seiner Vergangenheit und seiner Schuld stellt, konnte ich mich darüber auch der moralischen Dimension dieser Figur nähern. Was sind die Faktoren, die einen Menschen zum Mitläufer machen, und den anderen zu einem Widerstandskämpfer? Wie sehr unterscheiden sich die Biografien wirklich? Heute leben wir wieder in einer Schwellenzeit, und „Nein“ zu sagen bei Angriffen auf unser demokratisches Selbstverständnis wird immer wichtiger. Deshalb konnte ich beim Schreiben sehr gut zwischen den Zeiten wechseln, mich und meine Entwicklung in der Entwicklung August Untersehers spiegeln. Es ging mir nicht darum, eindeutige Antworten zu geben. Die Figur August Unterseher erzählt als alter Mann, so kommt über ihn eine bestimmte Haltung in den Roman. Das Empfinden von Schuld und Reue, das Betrauern vergebener Möglichkeiten, die Frage: „Warum darf ich, der Unentschiedene, der Mitläufer, noch leben, während andere für ihre Ideale gestorben sind?“
Doch auch August kann keine klaren Antworten geben. Sein spätes Projekt ist es, ehrlich und schonungslos zu erzählen, an seinem Beispiel etwas zu zeigen, Fragen aufzuwerfen. Dass das, was er getan hat, unentschuldbar ist, weiß er mittlerweile am besten.

Linktipps

Autor: Leonhard F. Seidl | www.textartelier.de | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 141, April 2020
Blogbild: Motoki Tonn auf Unsplash

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Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 141, April 2020: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-22020
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