
Samstag, kurz vor neunzehn Uhr, ein dunkler Oktoberabend. Annika ist auf dem Weg zu einer Lesung in der Stadtbücherei, die im ersten Stock eines großen Einkaufszentrums untergebracht ist. Kurz vor dem Aufzug bremst sie ihren Rollstuhl ab. „Hoffentlich ist der nicht wieder defekt“, sagt sie. An diesem Abend funktioniert er und bringt Annika samt Rolli hinauf zur Bücherei. Glück gehabt. Barrierefreie Literaturevents? Sie zieht eine Grimasse. „Schön wär’s!“
Literatüröffner
Literatur für alle zugänglich zu machen – das ist das Ziel der barrierefreien und inklusiven Lesungsreihe Literatüröffner, die der Verein Rollipop e.V. (www.Rollipop.org) seit 2019 organisiert. Literaturevents von und für Menschen mit und ohne Behinderung. Schnell wurde bei der Veranstaltungsplanung klar: DIE barrierefreie Lesung gibt es nicht. Aber es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen oder Faktoren, die – je nach Zielgruppe und Veranstaltungsressourcen – Barrieren verringern. Für die Literatüröffner-Abende im realen Leben bedeutet das: Der Veranstaltungsort ist barrierefrei. Informationen werden in Schriftform und als Hörtext zur Verfügung gestellt. Jede Veranstaltung wird von Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetschern begleitet. Und auch im Rampenlicht wird inklusiv gearbeitet: Im Lese-Tandem laden eine Autorin oder ein Autor mit und ohne Behinderung zur literarischen Begegnung ein. (Dabei sein geht, sofern Corona es zulässt, in 2021 wieder.)
Barrierefrei-Ideen
Wie werden Literaturevents barrierefrei? Was gilt es dabei zu bedenken, zu tun on- und/oder offline? Greifen Sie in unseren unvollständigen und doch reichen Ideenpool. Sie haben freie Wahl! Jeder einzelne Punkt, den Sie berücksichtigen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Barrierefreiheit.
Grundsätzliches
- Sprechen Sie mit den Menschen, die das Thema „Barrierefreiheit“ betrifft, denn sie sind Expert*innen in eigener Sache.
- Setzen Sie auf Vielfalt bei Gesprächsgästen und Moderierenden.
- Erfragen Sie im Vorfeld und zu Beginn der Veranstaltung so weit möglich die individuellen Bedürfnisse.
- Weisen Sie bei Ausschreibung, Werbung und Internetauftritt der Veranstaltung auf die konkreten barrierefreien Bereiche und auf Barrieren hin. Das ermöglicht Betroffenen, sich entsprechende Hilfen zu organisieren. Außerdem signalisieren Sie hiermit: „Alle sind willkommen!“
- Achten Sie bei Flyern und Internetseiten auf ein gut lesbares, kontrastreiches Schriftbild.
- Gestalten Sie Ihren Internetauftritt möglichst barrierefrei, schaffen Sie zum Beispiel einen Button, den man schnell finden und anklicken kann, um anzugeben, dass man einen Rollstuhlplatz braucht. Fragen Sie sich: Kann jemand mit Rot-Grün-Sehschwäche alle Inhalte auf der Seite erfassen? Sind alle ALT-Attribute/Tags aussagekräftig ausgefüllt? Beschreiben diese klar, kurz und genau, was auf einem Bild zu sehen ist? (Diese Tags sind für Sehbehinderte wichtig, die wissen wollen, welche Bilder und Grafiken auf einer Website angezeigt werden. Normalerweise erscheinen sie auf einem Bildschirm nicht, aber: Man kann sie sich anzeigen und von einem Vorleseprogramm vorlesen lassen.)
- Bei großen Gebäuden ist eine auffällige Ausschilderung der Veranstaltungsräume in Schrift und Bild hilfreich.
- Sprechen Sie, ergänzend zur Lesung, zum Gespräch möglichst viele Sinne an (siehe hierzu auch den Artikel aus der Federwelt Nummer 134 >>> Bilder gegen die Dunkelheit: eine Pixi-Buch-Lesung für blinde, körperlich und geistig behinderte Kinder)
- Verzichten Sie auf englische Wörter.
- Denken Sie Inklusion anders herum. So wie die blinde Autorin Pilar Baumeister, die Lesungen im Dunkeln anbietet.
- Und vor allen Dingen: Haben Sie keine Angst und begegnen Sie den Menschen auf Augenhöhe.
Check des Veranstaltungsortes für Gäste mit eingeschränkter Mobilität
- Gibt es eine ausreichende Anzahl behindertengerechter Parkplätze in der Nähe? Falls nicht: Wie weit sind die Parkmöglichkeiten entfernt? Gibt es in Parkhäusern und Tiefgaragen funktionierende (!) Aufzüge? Gibt es Einschränkungen bei den Öffnungszeiten der Parkhäuser? (Diese Infos gehören auf die Webseite.)
- Ist der Veranstaltungsort ebenerdig? Falls nicht: Werden Stufen oder Treppen mit Rampen, funktionsfähigen (!) Aufzügen oder Liftanlagen überbrückt?
- Sind die Sanitäranlagen rollstuhlgerecht eingerichtet?
- Sind die Türen breit genug für Rollstühle (oft problematisch bei Altbauten)? Bei Drehtüren: Gibt es einen alternativen Zugang?
Quick-Checkliste zum Vorbereiten einer Veranstaltung für Gäste mit Hörbeeinträchtigung
- Ist der Veranstaltungsort weitgehend frei von Nebengeräuschen?
- Gibt es eine Gebärdensprachdolmetscherin oder einen Gebärdendspracholmetscher, um Verbalsprache zu übersetzen? (Eine Liste mit Gebärdensprachdolmetscher*innen finden Sie hier: www.kestner.de/n/dolmetschen/dolmetschen-liste2.htm) Steht alternativ jemand zum Schriftdolmetschen zur Verfügung?
- Falls in Gebärdensprache übersetzt wird: Lesungen bis zu einer Stunde übersetzt in der Regel nur eine Person. Bei längerer Dauer braucht es zwei Übersetzende, die sich gegenübersitzen, um sich zu unterstützen. Moderations- oder Lesungstexte stellen Sie den Übersetzenden im Vorfeld zur Verfügung. Wichtig: Die dolmetschende Person sollte für das Publikum gut sichtbar sein (Position, Beleuchtung).
- Steht für große Veranstaltungsräume eine FM-Anlage (www.hoerkomm.de/fm-anlagen.html) oder eine induktive Höranlage zur Verfügung? Soll eine solche Anlage gemietet werden?
- Sollen audio-visuelle-Daten per Audio-Deskription oder Schrift-Dolmetschung angeboten werden? Achtung: Übersetzer*innen für Audio- und Schriftsprachdeskription müssen Sie frühzeitig anfragen! (Zur Erklärung: Was gesprochen wird, schreiben diese Dolmetscher*innen simultan mit. Für Hörbeeinträchtigte, die gut lesen können, ist das eine Möglichkeit zur besseren Teilhabe.)
- Tipp: Legen Sie Stift und Papier für den spontanen Austausch unter den Gästen aus.
Gästen, denen das Lesen und Schreiben Probleme bereitet, erleichtern Sie ...
- den Zugang zu Informationen, wenn Sie diese aufnehmen und auf Flyern, Webseiten, Postkarten, Plakaten und so weiter als QR-Code einbinden, der mit einer Audiodatei verknüpft ist.
- das Verstehen von Informationen, wenn Sie diese auch in leichter Sprache geben.
- das Lösen von Schreibaufgaben, wenn Sie sie ermutigen, einen „Wörterfresser“ (Diktiergerät, Smartphone) zu nutzen oder Zeichnungen anzufertigen und zum Teamwork anregen (Stichwort: Schreibassistenz).
Hilfen und zu Überprüfendes für Gäste mit Sehbeeinträchtigung
- Wenn Sie etwas zeigen, on- oder offline, beschreiben Sie es parallel dazu.
- Gibt es QR- Vorlesecodes auf Flyern?
- Gibt es Audio-Links auf Webseiten?
- Stehen bei Fotos auf Internetseiten Beschreibungen als Alternative zur Verfügung, die man sich vorlesen lassen kann? (Siehe oben, bei „Grundsätzliches“ der Punkt zu den Tags.)
- Ergänzen Sie analog präsentierte Bilder oder Gegenstände durch verbale Beschreibungen?
- Werden Printmedien in Großdruck, leichter Sprache oder Brailleschrift angeboten?
- Sind Assistenzhunde erlaubt? Ist das über einen Blick auf Ihre Webseite oder die des Veranstalters schnell zu klären oder gibt es den Griff zum Telefonhörer als Hürde?
Zusätzliche Überlegungen und ein Tipp für Moderierende oder Autor*innen mit Beeinträchtigung
- Ist der Zugang zur Bühne barrierefrei, gibt es eine Rampe, einen Lifter oder Aufzug?
- Ist die Bestuhlung auf der Bühne angemessen? (Je nach motorischer Einschränkung ist das Sitzen auf einem Barhocker schwierig ...)
- Gibt es ein Mikrofon, das nicht festgehalten werden muss, eine Umhänge-Vorrichtung etwa oder einen Mikrofonständer mit Gelenkarm?
- Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung hilft ein klarer schriftlicher oder piktografischer Ablaufplan.
Links zum Thema digitale Barrierefreiheit
- https://meine.barrierefreie.website/category/schulung/
- www.mindshape.de/kompetenzen/website-optimierung/ux-und-usability-optimierung/barrierefreie-websites.html
- www.barrierefreies-webdesign.de/knowhow/pdf-checkliste/pdf/Checkliste-Barrierefreies-PDF.pdf
- Checkliste für barrierefreie Webkonferenzen: www.dbsv.org/aktuell/barrierencheck-fuer-konferenzplattformen.html
Allgemeine Tipps und Links
- Projekte und Ideen: https://sozialhelden.de
- Barrierefreie Events planen, Fettnäpfchen vermeiden: https.ramp-up.me
- Viele größere Firmen oder Unternehmen vergeben Stiftungsgelder für inklusive Projekte. Projektförderung bietet auch die Aktion Mensch: www.aktion-mensch.de/foerderung.html
- Auch Selbsthilfegruppen und Integrationsfachdienste bieten Informationen und Hilfestellungen.
- Inspiration: Blog der Autorin, Speakerin und Rollstuhlfahrerin Laura Gehlhaar: https://lauragehlhaar.com/blog.html
- Verständliche Sprache für alle: https://leichte-sprache.de/leichte-sprache/was-ist-leichte-sprache/
- Freizeittandems für Menschen mit und ohne Behinderung: https://jungestadtkoeln.de oder www.freizeit-tandems.de. Nachahmenswert!
- Eine kostenlose Kurzübersicht „Barrierefreie Hygienekonzepte für Events“ gibt es zum Beispiel bei diesem Unternehmen: https://events-barrierefrei.de/hygienekonzepte-sicher-und-inklusiv/
- Selbermachen? Eine Bauanleitung für Rollstuhlrampen aus Lego® finden Sie hier: https://jungestadtkoeln.de/files/Projekte/100%20Lego-Rampen%20f%C3%BCr%20K%C3%B6ln/junge%20Stadt%20K%C3%B6ln_Lego-Rampen_Bauanleitung.pdf
Wichtig
Behalten Sie angesichts dieser Listen den Mut, das Thema anzugehen. Denken Sie an Michael Endes Straßenkehrer Beppo aus Momo: Konzentrieren Sie sich auf den nächsten, kleinen Schritt. Jede Veränderung in Richtung Barrierefreiheit ist besser als keine.
Autorin: Nicol Goudarzi | https://goudarzi.de | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 144, Oktober 2020
Blogbild: Carola Vogt
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Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 144, Oktober 2020: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-52020
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- umbreit: https://umbreit.e-bookshelf.de/federwelt-144-05-2020-oktober-2020-14476881.html
- buecher: https://www.buecher.de/shop/ebooks/federwelt-144-05-2020-oktober-2020-ebook-pdf/moehker-heidi-conrath-martin-zeichner-petra-bleckmann-daniel-fri/products_products/detail/prod_id/60312703/
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