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Literarisches Schreiben - Teil 5

Federwelt
Jan Decker
Illustration zur Serie von Jan Decker

Literarisches Schreiben – eine Serie von und mit Jan Decker

Teil 5: Wie baue ich Spannung auf – auch ohne ACTION?

Inzwischen sind Besucher vor dem Fenster meiner Stipendiatenwohnung in Reykjavík aufgetaucht, Schlitten fahrende Kinder. Ich überlege einen Moment: weiterschreiben an meinem längeren Text oder lieber eine Pause machen? Spannungskonzepte und -dramaturgien gelten so auch für mein Schreiben selbst. Sie sind die Fäden, an denen mein Text hängt – zu locker oder eben gut gespannt. Und darüber entscheidet auch der Schreibakt: Ich brauche zum Schreiben vollkommene, pure, klare Stille.

Aber jetzt nicht, die Kinder können im Schnee herumtollen. Spannung aufbauen heißt auch: immer wieder die Zustände wechseln. Beim Schreiben. Ich trainiere meine Autorenstimme darauf, sich auch an ungewöhnlichen, belebten, geräuschvollen Orten abrufen zu lassen. Den Showdown meines letzten Hörspiels schrieb ich zum Beispiel an einem Strand mitten unter badenden Touristen.

Drama ist gut!

Showdown, das Wort ist gefallen. Es steht für das klassische actiongeladene Finale eines Hollywood-Films. Da wird ACTION großgeschrieben. Zum Literarischen Schreiben gehört: keine Berührungsscheu haben. Ich sollte die besten Möglichkeiten kennen, Spannung aufzubauen, und die kommen meiner Meinung nach aus der Dramatik, wo Spannung seit jeher von Schauspielern auf die Bühne gebracht werden muss; sie kommen aus klassischen Theaterstücken und aus Hollywood-Filmen. Ein Meer von Wissen über Spannung!

Es gibt drei Arten von Spannung:

1. Die rudimentäre Spannung, die im Schreibakt an sich.

2. Die elementare Spannung. Sie ist in den Plot eingeschrieben und resultiert meistens aus einer geschickten Verteilung von Wissen über die Figuren und den Ausgang der Geschichte: Ich teile den Leserinnen und Lesern also nicht auf Seite eins meines Krimis mit, wer der Mörder ist, sondern ich füge allmählich so viele Bausteine der Geschichte hinzu, dass die Auflösung am Ende geschieht.

3. Die partikulare Spannung, die in allen Teilen des Textes steckt. Sie funktioniert auch ohne ACTION.

Vielleicht ist die letzte Spannungsart eine spezifische Stärke des Literarischen Schreibens, so kommt es mir jedenfalls vor. Sie will originelle Spannung erzeugen, also Spannung, die nicht wie eine Masche wirkt. Dazu ist es wichtig, die eigene Seele zu öffnen, die eigenen Spannungen und Ängste freizulegen. Vielleicht ebenfalls eine Masche – aber noch ist sie nicht in den Text eingeschrieben. Es kann interessant werden.

Es spielt in mir

Ich habe lange nicht begriffen, dass Texte nicht an einem fernen, unerreichbaren Ort spielen, sondern zuerst in mir. Das heißt: das Schreiben in den Spielort Seele verlagern. Wem das zu verschwurbelt ist: bei sich anfangen. Aber nicht plump: „Ich fühle mich heute nicht gut.“ Sondern trickreich, eben spannend!

Um zu zeigen, was ich meine, hier ein fingiertes Gespräch mit meinem fingierten Agenten (der in Wirklichkeit weiblich ist) – das genau den Bereich ausloten soll, in dem ich originelle Spannung entstehen lassen kann.

Bezeichnenderweise, das wird gleich Thema sein, schließt das die Verwendung von Genres nicht aus:

„Na, wie läuft es in Reykjavík? Neue Themen, neue Stoffe?“

„Gestern. Ich gehe an einem Haus vorbei. Dort lebte, steht auf einer kleinen Tafel, der erste in Island verurteilte Mörder.“

„Ein Isländer?“

„Ja. Smurri Smurrisson.“

„Klingt nach einem Roman. Kriminalroman. Nordisches Flair. Interessant. Könnte ich mir vorstellen. Schreib das doch.“

„Warum nicht? Ich glaube, was mich an dem Stoff interessiert, ist, dass ich Spannung aus etwas ganz anderem entstehen lassen könnte als üblicherweise im Krimi; ich könnte abweichen vom Typischen: Mann tötet und wird gejagt.“

„Wie meinst du das?“

„Meine größte Angst ist es, hier in Island ins Meer zu fallen. Jetzt im Januar. Island ist umringt von Meer, einem kalten, unwirtlichen Meer.“

„Der erste isländische Mörder. Er hasst das Schwimmen.“

„Genau.“

„Beispiel?“

„Smurri Smurrisson hasste das Schwimmen. Er hasste das Schwimmen in diesem kalten, unwirtlichen Meer, das seine Insel umgab.“

„Gut. Möchtest du nicht den Fall recherchieren? Den historischen Fall?“

„Nein, der Fall ist nur der Auslöser für etwas in mir. Meine Spannung geht von der isländischen Natur aus. Stürme, Schneemassen, Lavaströme. Das ist mein Thema. Ich muss es nur in die Geschichte von Smurri Smurrisson übersetzen.“

Soweit das Beispiel. Wenn der Agent oder die Agentin dem Autor nicht blind vertraut, wird er oder sie irgendwann nach dem Plot fragen. Der Plot ist die Währung, in der Spannung ausgetauscht wird. Er macht sie verständlich, indem er sagt: Da und da ist sie platziert. In ihm ist aber auch jene partikulare Spannung eingeschrieben, auf die es ankommt, um wirklich originell zu erzählen, Neugier zu erzeugen, Erwartungen zu schüren. Partikular heißt: Spannung von Satz zu Satz auf- beziehungsweise ausbauen. Also: Smurri Smurrisson hasste das Schwimmen. Er hasste das Schwimmen in diesem kalten, unwirtlichen Meer, das seine Insel umgab. Seine Schwester Agnes liebte das Schwimmen im tiefen, blauen Wasser der Bucht vor Reykjavík.

Autor: Jan Decker | www.decker-jan.de
In: Federwelt, Heft 117, April 2016