
Teil 1: Welche Art zu schreiben ist denn überhaupt literarisch?
Ich habe es geschafft, denke ich. Der Flieger landet sicher, ich fahre mit dem Bus zu meiner Unterkunft für die nächsten zwei Wochen, wie abgemacht liegt der Schlüssel unter der Fußmatte der Eingangstür. Ich betrete meine Stipendiaten-Wohnung am Stadtrand von Reykjavík. Das ist motivierend: Die Ehre, an diesem Ort schreiben zu dürfen. Das Honorar des Stipendiengebers, das mir den Aufenthalt versüßt. Die Freiheit, hier schreiben zu dürfen, was ich will.
Und dennoch setzt nach einer Stunde – die Heizung gluckst behaglich, die Lichter Reykjavíks leuchten in die nordische Nacht – ein Gefühl von Beklommenheit ein. Denn ich werde hier zwei Wochen allein sein. Schreiben bedeutet, seit ich den Beruf des Autors ausübe, sich immer wieder diesem Gefühl auszusetzen, viel und bewusst, nackt und roh allein zu sein.
Dann mache ich es mir eben gemütlich! Packe den Stapel Papier aus, den ich aus Deutschland mitgebracht habe – als ob es in Island kein Papier gäbe, aber halt: Autorinnen und Autoren haben ein närrisches Verhältnis zu Papier, ihrem geliebten Rohstoff – schreibe schnell eine Romanbesprechung für eine deutsche Tageszeitung. Die Druckfahnen habe ich im Flugzeug gelesen, alles klar. Aber dann: Ich sitze für die läppischen zwei Seiten zwei Tage an meinem Schreibtisch in Island, überarbeite, zerknülle, verwerfe, verzweifle – bis der Text, die Romanbesprechung, endlich vor mir steht. Willkommen in Reykjavík!
Was ich unter literarisch verstehe
Literarisches Schreiben verstehe ich als genreoffenes Schreiben. Man könnte auch vom Schreiben an sich reden, wenn diese Bezeichnung nicht allzu vage und widersprüchlich wäre – was ist dann Schreiben nicht an sich?
Literarisches Schreiben, wie ich es als Student am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) erlernt und dann als Autor angewandt habe, ist der Freistil unter den Schreibdisziplinen. Er kann jede Disziplin enthalten, jedes Genre wie Krimi, Thriller, Liebesroman et cetera. Oder er kann ganz eigene Wege gehen, wirklich Freistil sein. Das heißt: genreoffen.
Und deshalb ist Literarisches Schreiben auch, so erkläre ich mir das, verletzungsanfälliger. Eben Freistil statt Pflichtübung. Beispiel Island: Die Skizze meiner Ankunft enthält bereits alle typischen Schritte des Literarischen Schreibens, wie ich es erlebe: unsicherer Beginn – plötzlich einsetzende Produktivität – mühsames, oft quälendes Überarbeiten. Diese drei Stationen mögen so bei vielen Schreibprozessen auftauchen, selbst beim Schreiben eines Sachbuchs. Deshalb ein genauerer Blick: Literarisches Schreiben geschieht weniger inhaltlich oder formal verortet (sonst könnte man es ja als ein Genre bezeichnen), sondern vielmehr methodisch, prozessual. In anderen Ländern wird es daher oftmals auch Kreatives Schreiben genannt, was in Deutschland nach Volkshochschule klingt und deshalb zum Literarischen Schreiben veredelt wird –, so viel zu diesem etwas unscharfen Begriff.
Der Unterschied zu Genres
Der Unterschied zu Genres ist also der: Ein Text wird aus einer Methode heraus geschrieben, aus einem Prozess, und zunächst nicht nach inhaltlichen oder formalen Kriterien eingeengt. Er ist beweglich, kann jede Form haben. Und der Sinn des Literarischen Schreibens liegt eben für mich darin: neue Texte, überraschende Texte, andere Texte zu schreiben. So ist genau betrachtet auch das Schreiben eines Genre-Textes eine Methode, nur eine, die sich vielleicht schneller erschöpft.
Literarisches Schreiben, wie ich es verstehe, ist ein wirkliches, nie da gewesenes Abenteuer mit dem Text, siehe Reykjavík und die Romanbesprechung. Eines, das sich nicht von diesem oder jenem Genre abgrenzen muss. Als ideal betrachte ich eine Mischung von 50 Prozent Literarischem Schreiben und 50 Prozent Genre. Nur Literarisches Schreiben, das kann Selbstzweck sein, eine blutleere Methode. Denn eine gekünstelte Schreibe allein – ohne eine Geschichte und Figuren, die mich packen – fasziniert mich nicht.
Übung macht ... Spaß!
Über die Genres wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kommen wir also – Vorhang auf! – zur ersten Übung: in allen Genres schreiben. Das heißt, neben der Schreibdisposition, die ich mitbringen sollte (die Art und Weise, wie ich am besten ins Schreiben gerate und weiterschreiben kann – jeder tickt hier anders), sollte ich eine gewisse Beweglichkeit besitzen, also das Schreiben als eine Technik beherrschen und auch gut anwenden können. Genreoffen schreiben heißt für mich: In allen Genres schreiben können. Und damit das Ganze in etwas fußt, ob nun Genre oder nicht: den Plot kennen, alles rund um den Plot, Plots wälzen. Schauen, wie macht das Kino Plots, wie macht das Fernsehen Plots et cetera.
Ein kleiner Plot: 500 Meter von meiner Stipendiaten-Wohnung in Reykjavík entfernt steht die Halle, in der Bobby Fischer und Boris Spasski 1972 um den Titel des Schachweltmeisters kämpften. Und nun durch die Genres gehen (mögliche Anfänge zählen, der Rest ist Schreiben – allein deshalb ist auch für das Literarische Schreiben die Kenntnis aller Genres notwendig):
Essay: Der Ort, an dem eines der erbittertsten Sportduelle des Kalten Kriegs stattfand, der Geburtsort einer überlebensgroßen Figur, von Schachweltmeister Bobby Fischer, dieser magische Ort liegt nur einen Steinwurf von mir entfernt.
Roman: Man konnte mit ziemlicher Gewissheit sagen, Anton Sergejewitsch, der Sekundant von Boris Spasski, hatte an diesem Tag den beschissensten Job in ganz Reykjavík.
Hörspiel: FISCHER Erlauben Sie, dass ich ziehe? Ihre Zigarettenschachtel. Sind Sie erschrocken? Das sollten Sie nicht, Spasski. Dieser Park gehört uns allen. Russen und Amerikanern. Und Ihre Parkbank wirkt gemütlich.
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Jan Decker im Internet: www.decker-jan.de
In FEDERWELT: Heft 113, August/September 2015
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