Lebendige Figuren entwickeln – mit dem Propensity Sorter
Teil 2: Was kann ich alles mit dem Propensity Sorter anstellen?
Von Martin Schabenbeck
Der Propensity Sorter, auf Deutsch wohl „Neigungssortierer“, ist ein psychologisches Modell zur Entwicklung von Figuren und Handlung. In Teil eins unserer Serie (Heft 112) erläuterte Martin Schabenbeck, was genau sich dahinter verbirgt. In diesem Heft zeigt er, welches Potenzial im Propensity Sorter steckt.
Sie können den Propensity Sorter für viele Dinge nutzen, zum Beispiel für die:
Figurenwahl
Sie können die Figuren innerhalb der Profile so wählen, dass sie zum bereits existierenden Handlungsansatz passen oder ihm gezielt widerstreben. Mein Artikel in Heft 112 hat sich bereits mit der Figurenwahl beschäftigt. Ich habe innerhalb der Propensity-Sorter-Profile einen Persönlichkeitstypus gewählt, der zum Handlungsansatz passte. Und zwar einen Typus, bei dem der Polizist zu den geeigneten Berufen gehört. So landete ich bei Ulrich, einem Kommissar mit unterentwickelter introvertierter Intuition. (Die introvertierte Intuition ist unter anderem die Fähigkeit, all das zu begreifen, was sich schwer in seine Bestandteile zerlegen lässt.) Ulrich musste seine introvertierte Intuition zutage bringen, da ihn die Details, die er ermittelt hatte, nicht weitergebracht hatten. Man hätte dem Kommissar auch eine extravertierte Intuition unterjubeln können. Dann hätte Ulrich anhand eines neuen ermittelten Details eine neue Theorie des Tathergangs aufgestellt. Sie sehen: Stärken und Schwächen eignen sich dazu, die Handlung weiterzuentwickeln.
Erstellen der Handlungsstruktur, „Want“ und „Need“
Filme und wohl auch viele Romane sind emotionale Medien; sie funktionieren, wenn sie Gefühle ansprechen, und daher geht es in Geschichten häufig um innere Konflikte. Wir wollen das Eine (Want), etwa Geld, brauchen aber das Andere (Need), zum Beispiel Anerkennung. Diese Konflikte gehören zu uns Menschen. Sobald wir gut im logischen Denken sind, tendieren wir dazu, unser emotionales Leben zu vernachlässigen. Dies gilt natürlich auch umgekehrt, Menschen, die nach emotionalen Kriterien funktionieren, denken eher mit dem Bauch.
In den Propensity-Sorter-Profilen sind sowohl effektive als auch ineffektive Wesenszüge eines jeden Typs festgehalten. Wenn Sie also ohne jegliche Vorstellung von einem möglichen Verlauf der Handlung anfangen, eine Geschichte zu planen, kann Ihnen der Propensity Sorter sehr behilflich sein. Sie könnten beim „Schmökern“ in den Profilen zum Beispiel über einen INFP stolpern. Ein INFP könnte aufgrund seines starken Rechtsempfindens Jura studieren und Anwalt werden wollen, wäre allerdings als Verteidiger oder Staatsanwalt im Gerichtssaal recht ungeeignet, da INFPs Konfrontationen meiden. Sie könnten so auf ein courtroom drama (ein Drama im Gerichtssaal) stoßen, in dem ein junger Anwalt zwar mit großem Enthusiasmus die Verteidigung eines Mandanten übernimmt, sich später aber durch sein Harmoniebedürfnis gezwungen sieht, sich außergerichtlich zu einigen, was nicht dem Interesse des Mandanten entspricht, aber dem Bedürfnis des Anwalts, Konflikte zu meiden. Sie könnten Ihren Anwalt allerdings auch zum Überwinden seiner Schwäche zwingen, indem Sie die Begleitumstände entsprechend gravierend gestalten. Oder Sie satteln auf einen anderen Anwaltstypus um? Im Verlauf des Schreibprozesses können Sie Geschehen und Figuren aneinander anpassen oder auch nicht. Dabei kann der Propensity Sorter Ihre kontinuierliche Inspirationsquelle sein.
Gestaltung persönlicher Konflikte
Sie können Figuren einander so entgegensetzen, dass durch deren Wahrnehmungsunterschiede Konflikte entstehen. Judgers (entschieden Handelnde) und Perceivers (flexibel, sich anpassend Handelnde) etwa gehen mit sich wandelnden Situationen verschieden um. Ein Judger würde schnell ein Urteil fällen oder eine Meinung formulieren, was einem Partner, der Perceiving ist, widerstreben könnte. Umgekehrt kann ein Perceiver sich schnell auf neue Gegebenheiten einstellen und seine Pläne oder Meinungen entsprechend anpassen, sie sogar gänzlich verwerfen, was einen Judger aus dem Gleichgewicht werfen oder ihm zuwider sein könnte. Fühlende (Feeling) und Denkende (Thinking) hingegen gehen unterschiedlich mit gefühlsgeladenen Situationen um. Fühlende verstehen andere oder passen ihr Verhalten den Gefühlen anderer an. Denkende hingegen können Logisches besser erfassen. In Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ etwa liegt der Konflikt zwischen Elizabeth Bennet und Mister Darcy im Umgang mit dem Faktischen und den emotionalen Konsequenzen: Mister Darcy versucht nach großer Überwindung, Elizabeth zu erklären, dass er sie trotz ihrer „niederen Herkunft“ liebt. Elizabeth empfindet den Hinweis auf ihre niedere Herkunft jedoch als beleidigend und erwidert, dass er der Letzte wäre, den sie heiraten würde. Beide sind ausgeprägte Judger und bilden sich daher schnell ein Urteil, welches sie einander um die Ohren werfen.
Dialoge und Sprechweise
Verhaltensforscher haben festgestellt, dass Sprechart und Persönlichkeitstypus zusammenhängen. Sie können also die Sprechart der Typen für die Figuren nutzen. Einige Typen sprechen, indem sie ihre Aussagen vertiefen. Sie geben ein generelles Beispiel, machen vielleicht auch eine Ansage zum Erzählziel und konkretisieren ihr Anliegen dann. Andere heften gleichwertige Detailaussagen aneinander, bauen beim Erzählen keinen Spannungsbogen auf und man weiß erst hinterher, warum sie einem die Informationen überhaupt gegeben haben. Typen mit ausgeprägter Intuition sprechen eher abstrakt, während Sensoriker, also Typen mit ausgeprägter Sinneswahrnehmung, sich eher konkret ausdrücken. Einige Typen sind behutsam mit dem, was sie sagen, andere hingegen können in ihrer Ausdrucksweise nahezu verletzend sein. In den Propensity-Sorter-Profilen finden Sie Hinweise zur Sprechweise sowohl unter Sprechgewohnheiten als auch unter Stärken und Schwächen. Wenn Sie diese einsetzen, verfassen Sie Dialoge, in denen die Sprechenden sich nicht nur durch ihre soziale Herkunft unterscheiden, sondern auch durch ihre Persönlichkeit.
Die Anatomie eines Streits 1
Wenn Sie noch planvoller ans Dialogschreiben herangehen möchten, können Sie über die vier Seiten einer Nachricht (nach Friedemann Schulz von Thun; www.schulz-von-thun.de/index.php?article_id=20) ermitteln, wie Ihre Figuren miteinander kommunizieren, ob sie einander verstehen oder missverstehen, weil sie jeweils mit „unterschiedlichen Ohren“ hören.
Die vier Seiten einer Nachricht/Das Kommunikationsquadrat – nach Friedemann Schulz von Thun
Wenn Menschen miteinander kommunizieren, hat die gesendete Nachricht zumeist vier Seiten:
1) eine Sachebene, die über Fakten und Daten informiert;
2) eine Selbstoffenbarungsebene, die Aufschluss darüber gibt, was der Sprecher durch die Botschaft über sich zu erkennen gibt;
3) eine Beziehungsebene, die zeigt, welche Beziehung Sprecherin und Empfängerin zueinander haben,
4) und eine Appellebene, die kommuniziert, was der Sprecher erreichen möchte.
Wenn ich sage „Das Fenster ist offen“, kommuniziere ich eine Tatsache, die Sender und Empfänger mit einer ausgeprägten Empfindungsfunktion als Aussage über eine Tatsache „hören“ würden.
„Das Fenster ist offen“ sagt aber auch etwas darüber, wie der Sprecher sich fühlt, was Sender und Empfänger mit einer ausgeprägten Fühlfunktion wahrnehmen würden.
Auf der Beziehungsebene sagt „Das Fenster ist offen“ möglicherweise, dass der Empfänger permanent das Fenster offen lässt, was sowohl Sprecher als auch Empfänger mit einer ausgeprägten Intuitionsfunktion wahrnehmen würden.
„Das Fenster ist offen“ kann auf der Appellebene sagen: „Schließe bitte das Fenster!“ Menschen mit einer ausgeprägten Denkfunktion nehmen die Botschaft auf dieser Ebene wahr.
Die Anatomie eines Streits 2
Streitgespräche entstehen häufig aus Stress. Dieser Stress entsteht, wenn Menschen mit ihrer Haupt- und Hilfsfunktion* Situationen nicht zufriedenstellend interpretieren können. Zur Erinnerung: Menschen nutzen im täglichen Leben eine Hauptfunktion und eine Hilfsfunktion, um ihre Eindrücke so einzuordnen, dass sie für sie Sinn machen. INFPs fühlen primär introvertiert und haben die extravertierte Intuition als Hilfsfunktion. Im Normalfall nehmen sie eigene Gefühle zwar ausgeprägt wahr, können durch die Hilfsfunktion aber eine neue Sicht erschließen, etwa erfassen, dass ein gefühlter Angriff gar nicht so gemeint war.
(* Die „Erklärung der Funktionen“ finden Sie in Heft 112 auf den Seiten 20 und 21.)
Im Stress klammern wir uns an unsere Hauptfunktion, argumentieren ausschließlich durch sie und vergessen die anderen Funktionen. Im Drehbuch kann der Verlauf eines Streits so konzipiert werden, dass er sich anfänglich an den stärksten Funktionen der TeilnehmerInnen orientiert und auf dem Weg zur Lösung auf schwächere Funktionen übergeht. Ein Beispiel: Eine/n INFP könnte sich vernachlässigt fühlen und dies ihrem/seinem ISTJ-Partner vorwerfen. Der/die ISTJ würde darauf hin nachfragen, wann diese Vernachlässigung stattgefunden hat. Obwohl der/die INFP über die letzten Wochen die Vernachlässigung gespürt hat, hat er/sie keinen Sinn für die detailgetreue Reproduktion von Daten, die der/die ISTJ benötigt. Für den/die ISTJ ist das zu wenig konkret. Er oder sie kann es daher nicht mit der Hilfsfunktion (dem extravertierten Denken, das es ermöglicht, logische Konsequenzen des Handelns zu sehen) vereinbaren und reagiert gleichgültig. Der/die INFP sieht dies als „Beweis“ der Vernachlässigung. Das wiederum passt nicht in das detailorientierte Denkschema des/der ISTJ. Und BANG, ein Streit bricht vom Zaun! Im Verlauf des Streits lernt allerdings der/die INFP auf die unterentwickelte Funktion (extravertiertes Denken) zurückzugreifen, um zu erklären, aus welchen Situationen der Gesamteindruck der Vernachlässigung entstanden ist. Der/die ISTJ versteht nun, greift auf ihre/seine unterentwickelte introvertierte Fühlfunktion zurück, kann das Gefühl nun nachvollziehen und schenkt nun Zuwendung, was für einen extravertierten Denker die logische Konsequenz ist.
Und was geht noch?
· Helden strukturieren: Da jeder Persönlichkeitstypus seine eigenen Stärken und Schwächen hat, können Sie diese gezielt innerhalb der Geschichte herausfordern oder eine Handlung um die natürlichen Entwicklungsstadien der Typen herum entwickeln. So können Sie das erregende Moment gezielt um die Schwäche des Helden konzipieren. Ich habe es oben schon angesprochen, eine junge ISTJ-Figur könnte zur Entdeckung ihrer noch ruhenden introvertierten Fühlfunktion herausgefordert werden, indem sie erlebt, wie sehr sie ihren Partner durch ihr emotionsloses Verhalten verletzt.
· Konfliktpotenzial fürs Fish-Out-of-Water-Konzept finden: Eine recht populäre Herangehensweise ans Drehbuchschreiben ist das Fish-Out-of-Water-Konzept, bei dem der Held sich in einem Umfeld befindet, in das er/sie nicht passt. Filme wie „Der Himmel über Berlin“, „Ratatouille“ oder „Zurück in die Zukunft“ sind hierfür recht extreme Beispiele. Wenn Sie Ihre zentrale Figur zum Beispiel in einen Job stecken, den sie aufgrund ihres Typus nicht mag, haben Sie bereits viel Konfliktpotenzial. Und genau das ist eine gute Voraussetzung zum Schreiben. Es ist auch eine entschieden bessere Ausgangssituation, gewisse Konflikte nicht zu nutzen, als sich Konflikte aus den Fingern saugen zu müssen. Wenn eine Figur irgendwie nicht in ihr Umfeld passt, haben Sie, was Hitchcock als MacGuffin bezeichnet hat: also einen unbewussten/geheimen Antrieb für die Handlung.
· Verschiedene Handlungsmodelle entwickeln: Jeder Persönlichkeitstyp ist im Normalfall vollständig lebenstauglich. Ein unvollständig entwickelter Typ kann durch das Geschehen vervollständigt werden oder versagen. Ein vollständig entwickelter Typ hingegen kann durch das Geschehen herausgefordert werden, gegensätzliche Eigenschaften zutage zu bringen. Einem Helden kann dies gelingen, muss es aber nicht: Figuren können auch den Schatten zum Vorschein bringen und Helden können zu tragischen Helden werden.
· Persönliche Informationen aus Filmbiografien filtern: Persönliche biografische Informationen sind bei berühmten Personen, trotz ihres Bekanntheitsgrads, zumeist unbekannt. Völlig logisch. Sie sind ja auch nur Menschen und haben ein Bedürfnis nach Privatsphäre. Und so geben sie zum Beispiel nichts über ihr Sexual- oder Stressverhalten preis. Aber genau solche Informationen sind natürlich besonders interessant. Was für Entscheidungen haben jene Berühmtheiten getroffen oder wie haben sie sich verhalten, als die Weltöffentlichkeit nicht dabei war? Diese Informationen können Sie aus den Propensity-Sorter-Profilen herleiten, wenn Sie im Internet nachschauen, welcher Typ die Persönlichkeit ist oder war. Das ist ganz häufig hinterlegt.
Winston Churchill etwa war ein ESTP und in seinem Privatleben wohl recht enthusiastisch und interessiert daran, dass sich die Beziehung zu seiner Frau Clementine positiv und konstant entwickelt. Er war wahrscheinlich recht aufmerksam. Hinter verschlossenen Türen war er an Abenteuern interessiert und eher spontan. Intimität war für ihn allerdings eher eine Frage körperlicher Bedürfnisse als eine Gelegenheit, Zuneigung auszudrücken. Das Wenige, das über Winston Churchills Privatleben bekannt ist, bestätigt diese Beschreibung.
· Typen auf SchauspielerInnen zuschreiben: SchauspielerInnen wählen bewusst oder unbewusst Rollen, die ihrem tatsächlichen Wesen ähnlich sind. Für SchauspielerInnen ist dies (neben der Geschichte und der Entwicklung ihrer Figur) ein ausschlaggebendes Kriterium, sich einem Filmprojekt anzuschließen. Über den Propensity Sorter hinaus ist das Internet voll von Informationen über bekannte Persönlichkeiten und deren Myers-Briggs-Typus. Der kann dann auf die Propensity-Sorter-Profile übertragen werden. Wenn Sie nun unbedingt mit Til Schweiger drehen möchten, können Sie im Internet nach „Til Schweiger MBTI“ suchen. Er ist, wie Churchill, ein ESTP. Dann können Sie im ESTP-Profil nachsehen, ob und was Sie anpassen müssen, damit die gewünschte Figur und ihre Verstrickungen auf einen ESTP passen.
Sollte Ihnen all das zu kompliziert sein, können Sie die Propensity-Sorter-Profile auch nur hin und wieder als Inspirationsquelle nutzen: Wenn es hakt, beim Dialogschreiben, wenn der Konflikt nicht stimmig erscheint oder Ihr Held noch nicht die Schwäche hat, die ihn menschlich macht. Ich weiß, der Propensity Sorter ist recht komplex. Aber mir ist es lieber, mich darin einzuarbeiten, als auf eine leere Seite zu starren. Und er ist für mich eine Möglichkeit, wirklich etwas zu schreiben, was es so noch nicht gegeben hat.
Autor: Martin Schabenbeck | www.dramaturgenverband.org/mitglied/martin-schabenbeck
In: Federwelt, Heft 116, Februar 2016
Illustration: Peter Boerboom und Carola Vogt