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Figuren durch ihre Umgebung charakterisieren - Die Zutatenliste

Federwelt
Daniela Nagel

Die Zutatenliste
Figuren durch ihre Umgebung charakterisieren
Von Daniela Nagel

Show don’t tell – dafür reicht schon ein Blick in den Kühlschrank

 

Wenn auf der Fertigpizza „schmeckt original wie beim Italiener“ draufsteht, beweist das noch gar nichts. Wenn der Autor behauptet, seine Figur sei pedantisch, chaotisch oder rücksichtslos, wirkt sie auf die Leserin noch lange nicht so. Das muss er oder sie uns erst zeigen! Wie? Am besten mit den sogenannten figuralen Charakterisierungsmethoden. Diese lassen Figuren durch ihr Handeln oder durch die Art, wie sie ihre Umwelt gestalten oder gestaltet haben, sofort lebendig werden. (Wer sich damit intensiv beschäftigen möchte, dem sei Manfred Pfisters „Das Drama“ empfohlen.)

 

Ich entführe Sie jetzt in die Küche von Emma und Kurt, um Ihnen zu zeigen, was an Charakterisierung durch die Umgebung möglich ist. (Und ja, mir ist bewusst, dass Sie sofort eine junge Frau und einen älteren Mann vor sich sehen, schließlich gehört die Namensgebung zu den einfachsten auktorialen Charakterisierungstechniken. Zu den Techniken also, mit denen die Autorin die Figur beschreibt – im Nebentext oder durch geschicktes in Kontrastsetzen, etwa, indem jede Figur anders auf dasselbe Ereignis reagiert.)

Fast so einfach wie Tütensuppe kochen – Kommentare von der und über die Figur

„Bei Marianne hatte ich wenigstens immer was Ordentliches zu essen“, murmelte Kurt, während er im Kühlschrank zwischen veganem Aufstrich, Prosecco-Dosen, Tomaten und einer Großpackung Tiramisu vom Discounter, in der noch der Löffel steckte, nach der Leberwurst suchte.

„Dafür hast du bei mir alles andere“, antwortete Emma lachend.

Zwischen den Zeilen erzähle ich, dass Kurt seine Marianne für eine junge, selbstbewusste und lebenslustige Frau verlassen hat, die weder den Haushalt (Würde sie sonst Tomaten im Kühlschrank lagern?) noch ihren Geliebten sehr ernst nimmt. Oder lacht sie nur, um die Reue zu verdrängen, die in seiner Aussage mitschwingt? Wenn alles toll wäre, würde er sich definitiv nicht über fehlende leibliche Versorgung ärgern.

Sie schnappte sich an seinem Arm vorbei das Tiramisu und küsste ihn. „Du bist der Beste!“

Aussagen der Figuren müssen nicht glaubwürdig sein, manchmal sagen sie besonders viel, wenn sie es nicht sind. Als Autorin kann ich so zeigen, dass Emma Kurt wohl besänftigen möchte – und sich selbst durch eine Extraportion Süßes beruhigen. Dass sie pragmatisch veranlagt ist, vermittele ich eindeutig: Emma nimmt den Löffel von gestern.

Ist der Umgang mit Menschen derselbe wie mit Lebensmitteln?

Zu behaupten, wer Essen wegwirft, schmeißt auch leichtsinnig den Partner raus, ist zu weit hergeholt. Dennoch kann der Umgang der Figuren mit den Requisiten viel über sie aussagen oder ihre Charakterzüge unterstreichen:

„Emma, kommst du jetzt mit zu meinen Eltern oder nicht?“, fragte Kurt, während er die Leberwurst zurückstellte und dabei eine Saftflasche im Kühlschrank umstieß. Orangensaft tropfte aus der Flaschenöffnung. Kurt schloss die Augen und zählte im Stillen bis zehn. Wie oft hatte er Emma schon ermahnt, den Deckel richtig zuzudrehen!

„Kann ich das kurzfristig entscheiden?“

Meine „Botschaft“: Emma lässt nicht nur Verpackungen offen.

Eigentlich wollte Emma sich noch eine Reiswaffel mit Paprikatomatenpaste streichen, aber als sie den dicken Schimmelpelz darauf bemerkte, schloss sie den Deckel und stellte das Glas schnell wieder in den Kühlschrank.

So lege ich meinen Leserinnen und Lesern den Schluss nahe, dass Emma mit zwischenmenschlichen Problemen ähnlich umgeht. Statt den Konflikt auszutragen oder das Glas wegzuschmeißen, weicht sie dem Ärgernis aus.

Sozialstudie nahe dem Gefrierpunkt

Aber nicht nur das Verhalten, sondern auch die soziale Herkunft kann mithilfe von „Requisiten“ illustriert werden.

Emma ekelte sich zwar vor der Leberwurst, weil ihre Mutter ihr Fleisch allerhöchstens als Fruchtfleisch einer frischgepressten Orange hatte durchgehen lassen, aber all die bunten Plastikbecher in ihrem Kühlschrank – mit Zutatenlisten voller Chemie – lösten in ihr die gleichen Gefühle aus wie die erste Zigarette auf dem Schulklo: ein Glückskribbeln im Bauch und einen Hauch schlechtes Gewissen.

Auch über die Religionszugehörigkeit oder die Gegend, in der man aufgewachsen ist, kann die Nahrungsmittelauswahl eine Menge verraten. Kalbsschnitzel in Sahnesoße? In der koscheren Küche ein Tabu. Hackbraten am Freitag? Bei konsequenten Katholiken ist da „Veggie Day“. Und der Kölner holt sich für den „Halven Hahn“ nur eine Scheibe Käse für sein Roggenbrötchen. Wecke, Schrippe … fast jedes Bundesland hat einen eigenen Namen für Brötchen und bietet Aufhänger, um etwas über die Figuren zu erzählen. Mein Mann hat mal im Kiosk nach einem Raider (heute Twix) gefragt und wurde von dem jungen Verkäufer mitleidig angestarrt: „Ey Mann, aus welcher Zeit kommst du denn?“

Neben generationstypischen Begriffen und dem Dialekt gibt es auch den Soziolekt. Um noch mal Klischees zu bemühen: Wer sagt wohl „Tu mir mal die Butter“ oder „Die Milch ist alle“ – „Schantall“ oder „Charlotte“?

Pfirsichhaut oder Apfelbäckchen – wie sehen die Figuren aus?

Man kann das Äußere einer Figur wunderbar über ihr Essen beschreiben: Als Kurt das Leberwurstbrot zum Mund führte, war die Stulle kaum von seiner Haut zu unterscheiden. Vielleicht haben Emmas Haare die Farbe des Tiramisus, das sie gerade löffelt. Vielleicht ist sie auch so klein, dass sie sich strecken muss, um an das oberste Fach des Kühlschranks zu kommen, während Kurt so groß ist, dass er seine Bierdosen dort sicher lagern kann.

Keiner ist zwar, was er isst (obwohl J. K. Rowlings Art, die Dursleys, die Harry Potter quälen, feisten Schweinen ähneln zu lassen, auf den Punkt bringt, wie die Familie tickt), aber einen gewissen Zusammenhang zwischen Schnapsnasen, Bierbäuchen und der Lebensweise ihrer Träger gibt es ja doch. Lässt Ihre Figur den Salat im Gemüsefach vergammeln, weil sie dem Hüftspeckgürtel den Krieg erklärt hat, dann allerdings doch lieber zum Hamburger greift?

Eine Figur, die im Kühlschrank Lippenstift und Creme lagert, stelle ich mir perfekt geschminkt und organisiert vor – ranzig wird bei ihr nichts.

Auch Romanfiguren leben nicht nur von Luft und Liebe

Das Ganze funktioniert natürlich auch mit Kleiderschränken, Schreibtischschubladen, Schulranzen, Handtaschen und jedem anderen beliebigen füllbaren Gegenstand oder Raum. Wenn Sie Ihre Figuren noch nicht gut genug kennen, dann schicken Sie diese einfach in die Küche und schauen, was passiert. Aber keine Sorge, Sie müssen nicht genau wissen, wann Ihre Helden den ersten Möhrenbrei gelöffelt haben. Statt der Figur eine detaillierte Biografie aufs Auge zu drücken, was oft nur eine Pflichtübung ist, versuchen Sie lieber, Ihre Figuren wirklich kennenzulernen. Konfrontieren Sie sie mit den unterschiedlichsten (alltäglichen) Dingen, in denen sich ihre Eigenschaften spiegeln können. Wenn Sie wissen, wie es im Kühlschrank Ihrer Figuren aussieht, können Sie auch erahnen, wie diese sich verhalten, wenn sie einen Mord begehen oder plötzlich erfahren, dass sie ein Zauberer sind.

 

Autorin: Daniela Nagel | www.danielanagel.de | www.marieadams.de
                                          | www.plotbox-koeln.de
In: Federwelt, Heft 120, Oktober 2016