Sie sind hier

Suchformular

Die Mörderischen Schwestern machen Schule

Federwelt
Vorlesesituation auf der Bühne

Christine Neumeyer, Oberschwester der Region Österreich bei den Mörderischen Schwestern e.V., über ein Pilotprojekt in Sachen Sprach- und Literaturförderung an einer sogenannten „Brennpunktschule“. Im Zentrum: die 25 Kinder der 4B, davon nur fünf mit Deutsch als Muttersprache.

Die Vision
„Wie kann man Menschen zum Lesen verführen?“ Diese Frage stellte ich im Sommer 2018 bei der von Juliane Jacobsen organisierten Online Marketing Messe für Autoren. AutorInnen müssten sich an die Menschen halten, die das Erlebnis Lesen bereits für sich entdeckt hätten, war die Antwort. Das stimmte mich nachdenklich. Sind wir AutorInnen wirklich machtlos? Würden in Zukunft noch Bücher gelesen werden? Würden Netflix und Co. die Leselust immer weiter schwächen? In dieser Zeit der Überlegungen kam mir bei Facebook eine interessante Meldung zu. Das Netzwerk für Vorlesen und Leseförderung im Ortenaukreis Lesewelt Ortenau e.V. stellte sich vor. Anlass war die IGLU-Studie von 2016, nach der 18,9 Prozent der 10-Jährigen in Deutschland nicht richtig lesen können. In Österreich sahen die Zahlen vermutlich nicht besser aus.
Als Oberschwester der Regionalgruppe Österreich der Mörderischen Schwestern e.V. beschloss ich, mit meinen Kolleginnen über die Idee einer Förderung der Lese- und Schreibkompetenz bei Wiener Schulkindern zu reden. Selbst wenn nur wenige Kinder durch unser Engagement ihr Interesse für geschriebene Geschichten entdeckten, wäre dies ein Erfolg. Wenn wir Eltern nicht überzeugen konnten, wie wunderbar Lesen ist, dann vielleicht deren Kinder. So die Intention.

Diskussion und Startschuss
Bei einer Arbeitsbesprechung unserer Regionalgruppe in einem Wiener Lokal diskutierten wir das Thema heftig. Der Funke sprang über. Wie sich herausstellte, pflegte Sabina Naber seit Jahren freundschaftlichen Kontakt zur Pädagogin an einer Schule mit Kindern, die zum großen Teil aus Migrantenfamilien kommen oder aus Elternhäusern, in denen Geld und/oder Zeit fehlen. Die Pädagogin, Frau Maritta Petschnigg, suchte seit Längerem nach einer Förderung der Lesekompetenz ihrer Klasse durch SchriftstellerInnen. Unverzüglich nahmen wir Kontakt mit ihr auf und erarbeiteten ein Konzept. Zum Start des Projekts übermittelten wir Pressemeldungen an Kulturredaktionen diverser österreichischer Medien, um auf das Problem der Leseschwäche und unsere Aktion aufmerksam zu machen.

Wer sind die Mörderischen Schwestern?
Die Geschichte der Mörderischen Schwestern begann 1996 – mit der Gründung des German Chapter der schon seit 1986 netzwerkenden Sisters in Crime. Daraus gingen 2006 die heutigen Mörderischen Schwestern hervor, die seit 2013 als eingetragener Verein zur Förderung der von Frauen geschriebener Kriminalliteratur firmieren. Heute gehören der Gruppe über 500 Mitglieder aus Deutschland, der Schweiz und Österreich an: neben zahlreichen Autorinnen zählen dazu auch Leserinnen, Buchhändlerinnen, Bibliothekarinnen, Übersetzerinnen, Lektorinnen und andere Buchbranchenprofis.

Die Umsetzung
Nach intensiver Kommunikation in der Gruppe starteten Christine Figueiredo, Sylvia Grünberger, Sabina Naber und ich am Montag, den 17. September 2018 das Projekt in der 4B an der Volksschule Ortnergasse in Wien. Wir kleideten uns bühnenreif in schwarz und rot – passend zum Logo unseres Vereins. Wir packten auch Dekorationsmaterial in rot und schwarz mit ein, das wir für die Ladies Crime Night-Lesungen verwenden, und von uns geschriebene Krimis. Schließlich wollten wir uns eindrucksvoll vorstellen.
In der Klasse angekommen, sprachen wir kurz über unseren Verein und diskutierten mit den Kindern den Begriff Verbrechen, wobei wir verschiedene Delikte aufzählten und deren Hintergründe erklärten. Selbstverständlich redeten wir auch über die positive Seite des Krimi-Genres: über die ermittelnden Polizisten und Detektive. Zum Abschluss lasen wir in verteilten Rollen aus einem Vorlesebuch von Sylvia Grünberger. Die Kinder zeigten sich begeistert.

2. Besuch: 08. Oktober 2018
An diesem Tag stellten wir der Klasse verschiedene Krimi-Genres vor und dazu bekannte Detektiv- und Ermittler-Figuren. Wir sprachen darüber, was eine gute Geschichte braucht: Figuren, Recherche, Perspektive, Konflikte, Wendepunkte. Frau Petschnigg teilte ihre Klasse in Gruppen und gab ihnen die Aufgabe, eigene Geschichten zu entwickeln, sei es in rein erzählender Form oder in Bildern mit Text. Abschließend veranstalteten wir mit den Kindern ein Krimi-Rätselspiel. Sabina Naber hatte zu ihrem früheren Arbeitgeber, dem ORF, Kontakt hergestellt. Der war sofort begeistert, und so konnten wir den Besuch des österreichischen Fernsehens ankündigen. Die Schulbehörde erteilte die Drehgenehmigung und Frau Petschnigg holte die schriftlichen Einverständniserklärungen der Eltern ein.

3. Besuch: 5. November 2018
Ein Kameramann und eine Journalistin des ORF begleiteten uns in die Klasse. Wir diskutierten mit den Kindern über das bereits Gelernte zur Figurencharakteristik, wieder gab es ein Rätselspiel. Derart „aufgelockert“ präsentierten die Kinder ihre ersten Entwürfe in Form einer Kollage zu den Geschichten.
Beim Interview gaben die Kinder erstaunlich unaufgeregt Auskunft, wobei sie ihr gewecktes Interesse am Lesen bekundeten. Wir Autorinnen sprachen über unser Engagement zur Förderung der Lesekompetenz und über die Schwierigkeiten mancher Kinder mit dem Verständnis der deutschen Sprache, so verwenden viele z.B. kaum Adjektive.
Der ORF drehte während des gesamten Besuches mit, insgesamt 90 Minuten. Bereits einen Tag später, am 6. November, kurz vor Beginn der Messe Buch Wien erschien der auf wenige Minuten gekürzte Beitrag in der Sendung Wien heute mit dem Titel Lesen lernen mit Krimis.

4. Besuch: 17. Dezember 2018
Die Kinder begrüßten uns mit Weihnachtsliedern sowie mit der Europahymne. Wir waren gerührt. Danach lasen wir gemeinsam eine weitere Geschichte aus Hugo Waldgespenst und seine Freunde vor. Darin geht es um einen kleinen, lieben Drachen, der glaubt, die Menschen müssten sich vor ihm fürchten, bis er auf jemanden trifft, der ihn mag, so wie er ist.
Nach dem Lesen halfen wir den Kindern beim Ausarbeiten ihrer Geschichten. Am meisten Mühe bereitete den Kindern das Beschreiben der Charaktere. Viele beschrieben ihre Figuren nur äußerlich. Wir erklärten, dass Figuren eine Vergangenheit brauchen sowie Bedürfnisse und starke Gefühle. Anhand von Beispielen aus der Literatur zeigten wir, wie der Wille einer Figur die Handlung vorantreibt. Die Kinder erhielten als Hausaufgabe die Verbesserung und Erweiterung ihrer Geschichten.

5. Besuch: 28. Januar (bei uns: Jänner) 2019
Diesmal hatte die Vorlesegeschichte von Sylvia Grünberger Vorurteile von Waldbewohnern gegenüber einer Zuwanderin zum Thema. Bei der Beratung der Schreibgruppen merkten wir: Durch die detaillierteren Personenbeschreibungen haben sich die Inhalte der Geschichten stark verbessert. Als Hausübung gaben wir: Die Wendepunkte und den Spannungsaufbau in den Geschichten sorgfältig ausarbeiten.
Wenige Tage nach unserem Besuch informierte uns Maritta Petschnigg: Die letzte Deutsch-Schularbeit war deutlich positiver ausgefallen. Die Kinder hatten ihren Wortschatz erweitert, verwendeten nun auch öfter Adjektive.

6. Besuch: 11. März 2019
Vorstellung der Gruppenarbeiten: Eine der Geschichten hatte eine Länge von über fünf getippten Seiten und war mit erstaunlichen Formulieren, Wendungen, Personenbeschreibungen und Spannungselementen gespickt. Zwei weitere Geschichten waren ebenfalls bis zu Ende gedacht und bedurften nur kleiner Korrekturen. Die zwei letzten waren noch nicht abgeschlossen, so gaben wir Tipps zur Fertigstellung und Verbesserung.
Sabina Naber hatte inzwischen den Kontakt zu Thalia Wien hergestellt, wir wollten die Geschichten dort vorstellen. Man merkte den Kindern bereits die Vorfreude auf dieses Ereignis an, und es kam uns vor, ihr Eifer und Fleiß steigerten sich mit jedem unserer Besuche.

„Schließt euch zusammen – für mehr Spaß und Sichtbarkeit!“
Für ihre ehrenamtliche Aufgabe entschied sich Christine Neumeyer „trotz“ ihrer „30-Wochenstunden-Berufstätigkeit“ an der Universität Wien. „Zur Aufgabe einer Mörderischen Regio-Oberschwester zählt“, so Neumeyer, „neben der Organisation von regelmäßigen Mitglieder-Treffen – zwecks Erfahrungsaustausch, Freundschaftspflege – auch die Information, zum Beispiel über das jährlich ausgeschriebene Stipendium der Mörderischen Schwestern“. Allerdings hätten die Treffen wenig Wirkung nach außen. „WIR möchten jedoch verstärkt UNSERE Werke der Öffentlichkeit präsentieren. WIR möchten sichtbar werden. Eine Promotion, also die Vermarktung UNSERER Produkte, UNSERER Krimis, bedarf eines weiteren Schrittes.“
In diesem Sinne empfiehlt sie „die Organisation von Lesungen im Duett oder in der Gruppe“: „Schließt euch zusammen und veranstaltet Lesungen mit Diskussionen, Krimifrühstücke zu einem gewissen Thema, Benefiz-Veranstaltungen, was auch immer gemeinsam mit euren AutorInnen-KollegInnen durchführbar ist und versucht die lokale Presse einzuladen. Doppelpack/Gruppen-Veranstaltungen mit einer guten Moderation wirken weitaus lebendiger und bringen euch und eurem Publikum doppelten Spaß = doppelte Promotion. Garantiert!“

Der 7. Besuch – am 29. April 2019 – ...
... bildete den Abschluss mit einer Diskussion zu den Geschichten und es gab letzte Verbesserungsvorschläge. An alle Schülerinnen und Schüler und Frau Petschnigg teilten wir Fragebögen aus, um ein Feedback zu erhalten.

Die öffentliche Präsentation ...
... der Ergebnisse unseres Pilotprojekts fand am 18. Mai um 19:00 Uhr bei Thalia Wien statt. Gemeinsam mit der Klassenlehrerin haben die Kinder und wir den etwa 25 Gästen die fünf Gruppenarbeiten vorgestellt und einzelne Textstellen vorgelesen. Der aus dem Schulbudget finanzierte Druck der dreißig Sammelbände wurde bis auf fünf Exemplare (zum Teil erst später – durch Social-Media-Werbung) gegen eine Spende an Interessierte verkauft.
Die in Österreich sehr gern gelesene Kronen Zeitung (krone.at) veröffentlichte dazu einen Artikel.

Auswertung der Fragebögen

  • Allen Kindern haben unsere Besuche gefallen. Die Mehrheit plant, künftig mehr zu lesen. Besonders gut kam/en an: die Krimi-Geschichten, die tanzende Hexe (wir hatten Stoffpuppen zum Thema der Vorlesegeschichten mitgebracht), die Geschichten der anderen Kinder zu hören, der Humor der Autorinnen, das Vorlesen, die Hilfe beim Selber-Krimi-Schreiben.
  • Was nicht so gefallen hatte? Wenn andere Kinder Blödsinn machten oder zu leise vorlasen, das Umändern der eigenen Geschichten. Ansonsten konnten wir lesen: „ „Die Autorinnen hätten öfter kommen sollen“ und „Schade, dass es vorbei ist“.
  • Maritta Petschnigg schrieb: „Die Noten der Deutschschularbeiten haben sich deutlich verbessert: die Ausdrucksweise der Kinder ist nun vielfältiger, es werden mehr Dialoge verwendet, die Arbeiten sind strukturierter. Das Interesse am Lesen ist generell gestiegen. So werde ich seit dem Beginn des Projekts immer wieder nach meinem eigenen Lesestoff gefragt. Der Arbeitsaufwand für mich als Lehrerin war durch das ehrenamtliche Projekt der Mörderischen Schwestern wohl etwas größer– aber er ist es wert, wenn man die Ergebnisse betrachtet.“ (Maritta Petschnigg unterrichtet mittlerweile an der Privatschule eigen:ART in Kärnten und setzt unser gemeinsam erarbeitetes Konzept dort fort.)

Fazit und Aussicht
Unsere anfängliche Befürchtung, die Kinder nicht begeistern zu können, hat sich nicht bestätigt. Die überwiegende Mehrheit der Kinder arbeitete und diskutierte fleißig. Dennoch kamen wir zur Überzeugung, dass bei manchen Kindern, wohl aufgrund des bildungsfernen Elternhauses, eine zusätzliche Unterstützung beim Lesen und Schreiben lernen dringend notwendig ist – selbst wenn sie eine sehr engagierte Pädagogin an ihrer Seite haben. So hoffen wir, dass unser Beispiel vielleicht NachahmerInnen findet.
Eine Förderung über das magere Schulbudget hinaus (welches wir bei diesem Pilotprojekt nicht in Anspruch genommen haben) war durch die Wiener Schulbehörde leider nicht zu erzielen. Dennoch planen wir, dieses Projekt fortzuführen.

Autorinnen: Mörderische Schwestern e.V. | www.moerderische-schwestern.eu | [email protected]
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 143, August 2020
Blogbild: Sabine Naber

 

SIE MÖCHTEN MEHR LESEN? 
Dieser Artikel steht in der Federwelt, Heftnr. 143, August 2020: /magazin/federwelt/archiv/federwelt-42020
Sie möchten diese Ausgabe erwerben und unsere Arbeit damit unterstützen?
Als Print-Ausgabe oder als PDF? - Beides ist möglich:

PRINT
Sie haben gerne etwas zum Anfassen, und es macht Ihnen nichts aus, sich zwei, drei Tage zu gedulden?
Dann bestellen Sie das Heft hier: /magazine/magazine-bestellen
Bitte geben Sie bei »Federwelt-Heft-Nummer« »143« ein.

PDF
Download als PDF zum Preis von 4,99 Euro bei:

Oder in vielen anderen E-Book-Shops.
Suchen Sie einfach mit der ISBN 9783967460087.