Dichten lernen
Baustein 4: Kühn und präzise poetische Bilder entwerfen
Von Michaela Didyk
Poetische Bilder überraschen durch ihre ungewohnte Perspektive. Oft sogar im Widerspruch zur Logik zielen sie direkt auf das Gefühl. Die Lyrikerin Ulla Hahn spricht vom „‚Geisterblick‘ [...], der blitzartig das Entlegenste aneinanderrückt“, sodass „die Wörter einander auf[schließen]“. (1)
Bilder im Alltag
Für den Schriftsteller Raoul Schrott ist das „Bilddenken“ eine grundlegende menschliche Eigenschaft. Die Fähigkeit, über Bilder Informationen zu erschließen, verwenden wir ständig. „Wir denken in Analogien, Vergleichen und Metaphern; über Ähnlichkeiten stellen wir neue Bezüge her [...]. Jeder kreative Akt und jede kreative Erfindung baut auf den neuen Beziehungen auf, die eine Metapher als einziges sprachliches Instrument herstellen kann.“ (2)
Das Ungewohnte verliert sich allerdings in der Wiederholung. Das Bild erstarrt zum Begriff, wie er im Lexikon steht. – Denken Sie noch daran, dass bei Worten wie Flaschenhals oder Glühbirne Bildanteile aus ursprünglich fernen Bereichen übertragen wurden? Das ist Schnee von gestern! Selbst unsere Redewendungen sind verblasst und stereotyp.
Unser Denken – analytisch oder intuitiv
Von früh an werden wir zum logischen Denken erzogen, damit wir nach Ursachen fragen und systematisieren. (3) Das erleichtert in vielem den Alltag. Denn wer will schon jedes Mal das Rad neu erfinden?
lechts und rinks (4) heißt es im Gedicht lichtung von Ernst Jandl (1925–2000). Im Buchstabentausch klingt ein Richtungswechsel an. Dieser ist mehr zu erahnen als analytisch genau zu bestimmen.
Mit unserer rechten Gehirnhälfte, dort, wo wir in Bildern denken, erfassen wir dagegen intuitiv, was Sache ist. Ohne auf Details zu achten, „springt“ unsere Vorstellung. Wir überschauen etwas und (er)spüren Zusammenhänge. Hilde Domin (1909–2006) charakterisiert diese Denkweise so:
[...]
Die rechte sagt man
ist leer von Worten
Auslauf für das unbenutzte
Vokabular
der Erinnerung (5)
Beim Dichten verbinden Sie beide Formen des Denkens: die logische und die bildhafte. Sie bringen zunächst nur vage Erkanntes zur Sprache, indem Sie eine Idee umkreisen und nach den richtigen Worten suchen. Mit poetischen Bildern schmücken oder malen Sie ein Erlebnis jedoch nicht aus. Die Verfremdung muss hinzukommen. Sie arbeiten mit Vergleichen oder Metaphern, um durch eine Essenz, eine Art Skizze, Ihre LeserInnen zur eigenen Bildfantasie anzuregen. Die Qualität Ihres Gedichts hängt nicht von der Menge der Motive ab, sondern davon, wie Sie diese strukturieren und aufeinander abgestimmt zu einer Ganzheit verknüpfen.
Poetische Bilder im Überblick
Ähnlich wie bei den rhetorischen Figuren (Heft 115) gibt es auch zu den bildhaften Stilmitteln mehrere Varianten, die teils ineinander übergehen. Die wichtigsten Bilder sind:
- Metapher (Sonderformen: Synästhesie, Personifikation und Allegorie)
- Vergleich
- Symbol
Unterschiedliche Bildbereiche
Kühne Bilder gehören in der Lyrik zur Königsdisziplin. Viele kreative Methoden zielen darauf, den „Geisterblick“ zu üben, um die oft nicht mehr rational erklärbaren Bildüberlagerungen zu schaffen. Was der Zufall an Material – etwa bei der „Schnitzeljagd“ (6) – bereitstellt, fordert beim Schreiben zu ungewohnter Kombination heraus. Nur so kann aus einem Wort-Sammelsurium ein neues Ganzes entstehen.
Kühnheit heißt dabei nicht unbedingt, groß vom vertrauten Kontext abzuweichen. Der Literaturwissenschaftler Harald Weinrich sah in Paul Celans (1920–1970) bekannter Metapher schwarze Milch aus dem Gedicht Todesfuge die Provokation gerade in der minimalen Verschiebung:
Diese Metapher ist so kühn, [...] weil sie so gering abweicht. [...] Bei großer Bildspanne bleibt die Widersprüchlichkeit in der Regel unbemerkt. Eine kleine Bildspanne hingegen erzwingt unsere Aufmerksamkeit für diese Widersprüchlichkeit [...]. (7)
Der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972) reflektierte immer wieder seine Kunst. (8) So inspirierte ihn die Klarheit der fernöstlichen Bildsprache, besonders wenn sie sich wie im Haiku auf lediglich siebzehn Silben beschränkt. Der folgende Zweizeiler von ihm zeigt, wie ein verblüffendes Bild – Pound nennt es Image – den Alltag überblendet und verwandelt:
In einer Station der Metro
Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge:
Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast. (9)
Direkte Sinnesansprache
Die Synästhesie kombiniert mindestens zwei Sinnesbereiche und löst vielschichtige Erfahrungen aus: Die gläsernen Paläste klingen spröder/an deinen Blick. (10)
Rainer Maria Rilke (1875–1926) drückt den Vorgang des Sehens (Blick) akustisch aus (klingen) und lässt den Ton über den Tastsinn (spröder) „greifbar“ werden.
Eduard Mörike (1804–1875) entscheidet sich für die Personifikation. Er verlebendigt das Naturbild und lädt mit der „vermenschlichten“ Nacht zur Identifikation ein.
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Waage nun. (11)
Auch die Allegorie übersetzt einen abstrakten Begriff ins Bild, lässt es jedoch rational erklärbar. Heinrich von Kleist (1777–1811) empfahl zum Beispiel, den Menschen mit einem Klavier zu vergleichen:
[...] Da müßtest Du dann Saiten, Stimmung, den Stimmer, Resonanzboden, Tasten, den Spieler, die Noten etc. etc. in Erwägung ziehen, und zu jedem das Ähnliche bei dem Menschen herausfinden. (12)
Probieren Sie es doch mit einem humorvollen Selbstporträt und schauen Sie sich in Küche oder Speicher nach Material um!
Vergleich und Symbol
Werden Bilder mit wie, gleich(sam), ähnlich, als ob eingeleitet, handelt es sich um einen Vergleich. Gottfried Benn (1886–1956) hielt nicht viel von diesem Stilmittel. Allzu unbedacht werde dabei oft ein Teilstück angefügt, ohne das tertium comparationis, das dritte verbindende Vergleichselement, zu berücksichtigen. Dieses Element ist in Heinrich Heines Vers Rosen, wild wie rote Flammen die Leidenschaft – und in seinem Beispiel Liljen, wie kristallne Pfeiler die Reinheit. Hier mischen sich Vergleich und Symbol: Das sinnlich Fassbare (Rose, Lilie) steht für ein Abstraktum (Leidenschaft, Reinheit).
(1) Hahn, Ulla: Klima für Engel. dtv 1993, S. 111
(2) Schrott, Raoul: Die Erde ist blau wie eine Orange. dtv 1999, S. 21
(3) Die Gegenüberstellung beider Denkweisen ist stark vereinfacht.
(4) lichtung. Jandl, Ernst: Laut und Luise. Reclam 1986, S. 135
(5) Linke Kopfhälfte. Domin, Hilde: Der Baum blüht trotzdem. S. Fischer 1999, S. 36
(6) Aus einem beliebigen Zeitungs- oder Buchtext werden „blind“ fünf bis sieben Wörter als Ausgangsmaterial für ein Gedicht gewählt.
(7) Semantik der kühnen Metapher. Weinrich, Harald. Zitiert aus: Braak, Ivo: Poetik in Stichworten. 8. Auflage. Ferdinand Hirt 2001. S. 45
(8) Das Programm des Imagismus und Credo. In: Ezra Pound Lesebuch (Hg. Eva Hesse). dtv 1987, S. 9 f. und 25 ff.
(9) In einer Station der Metro. Pound, Ezra. Ebenda. S. 31
(10) Spätherbst in Venedig. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Band 1: Gedichte – Erster Teil. Insel 1987, S. 609 f.
(11) Um Mitternacht. Mörike, Eduard: Gedichte. Reclam 1986, S. 71
(12) Kleist, Heinrich von: Brief an Wilhelmine von Zenge. Quelle: http://kleistdaten.de/index.php?title=Brief_1800-11-29
Autorin: Michaela Didyk | www.unternehmen-lyrik.de
In: Federwelt, Heft 116, Februar 2016
Weitere Lyrik-Bausteine von Michaela Didyk finden Sie in diversen Federwelt-Ausgaben sowie auf: https://blog.unternehmen-lyrik.de/category/themen-der-lyrik/lyrisches-handwerk/