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Der Kinderroman - Die Zutatenliste

Federwelt
Gabi Strobel
Gabi Strobel; Foto: copyright Michael Schober

Der Kinderroman - Die Zutatenliste
Von Gabi Strobel

Man nehme für das perfekte Kinderroman-Rezept als kreativer Textkoch vor allem folgende Zutaten:

1. Eine außergewöhnliche Idee beziehungsweise ein Thema, das Kinder fasziniert und das in dieser Form noch nicht zigmal in der Kinderliteratur zu finden ist. Ja, genau das ist das Schwerste ... Manchmal gelingt dies auch durch die Kombination mehrerer Aspekte, da die attraktiven Kinderthemen schon sehr oft aufgegriffen wurden; hier ein bereits existierendes Kombinations-Beispiel, um das zu verdeutlichen: Es gibt Pferdebücher und es gibt Detektiv-Kinderromane. Der Pferdedetektiv-Roman oder die Pferde-Prinzessin war irgendwann mal eine Neuerung. Was könnte noch funktionieren? Die Prinzessin im Fußballstadion oder doch eher der Astronaut im Zoo?

2. Kinder oder andere Wesen, mit denen die jungen Leser sich identifizieren können. Diese können durchaus eine wichtige Rolle neben dem Hauptprotagonisten spielen: Lindgrens Pippi Langstrumpf und ihre Welt ohne Erwachsene wäre im Sinne der Zutatenliste die „außergewöhnliche Idee“ gewesen, während Ben und Annika für die meisten Kinder die Identifikationsfiguren sind. Sie haben sich immer mit Pippi identifiziert? Okay, Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch noch, wenn es darum ging, mit wem Sie als Kind Weihnachten feiern wollten? Viele Kinder entscheiden sich lieber für die Protagonisten, die Eltern haben und in deren Welt sie sich wie zu Hause fühlen – auch wenn sie das Sams, Karlsson vom Dach oder Pippi heiß und innig lieben. Sie identifizieren sich mit deren Allmachtsfantasien und wünschen sich einzelne Fähigkeiten (Wünsche erfüllen, Pferde stemmen), würden aber lieber nicht so stark auffallen wie diese außergewöhnlichen Charaktere.

3. Eine lebendige Sprache, dialogreiche Szenen, Witz und Wortneuschöpfungen: Letztere wecken Neugier, Lust am Sprachspiel und machen Spaß. Die Dialoge lassen Figuren lebendig werden und Kinder lieben witzige Passagen. Natürlich würden poetische Texte anders funktionieren, doch diese haben es meist schwerer im Kinderbuchmarkt. Es gibt die poetischen Kinderromane, sie müssen aber ihre Leserinnen und Leser auf andere Weise mitnehmen. Kinder sind wesentlich schneller im Urteil als mancher Erwachsene: Langeweile oder umständlich formulierte Sätze führen sehr schnell zum Abbruch der Lektüre.

4. Originelle Schauplätze, die Kinderträume wahr werden lassen.
Natürlich nicht weitere kunterbunte Villen, strapazierte Baumhäuser oder Hausboote, sondern vielleicht eine neuartige Behausung auf einem Fantasie-Planeten, verschrobene Hütten oder eine unterirdische Höhle. Keine Bange, auch eine ganz normale Mietswohnung kann in wunderbaren Kinderromanen eine Rolle spielen. Die Funktion des Ortes ist nur eine weitere Möglichkeit, Ihr Szenario anders anzulegen, als es in zahlreichen existierenden Kinderromanen schon zu finden ist.

5. Einen mitreißenden Plot, der aus Kinderperspektive Abenteuer verheißt, Fragen beantwortet oder gar erst aufwirft, die Welt auf den Kopf stellt oder auch mal – auf unterhaltsame Weise – ganz nebenbei erklärt. Fragen Sie sich: Was faszinierte mich als Kind? Was begeistert Kinder heute? Und können diese Dinge, Wesen, menschlichen Bedürfnisse und lustigen Situationen unter dem Dach einer abwechslungsreichen Geschichte miteinander „spielen“?

6. Nehmen Sie Kinder und deren Weltsicht wirklich ernst – und schreiben Sie niemals aus einer pädagogisch anmutenden Erwachsenen-Perspektive – quasi „von oben herab“. Wenn Sie aus der Perspektive des Kindes erzählen, das Sie selbst einmal waren, überlegen Sie immer: Was hat sich seither verändert? Die Gefühle bleiben meist die gleichen, aber die Umstände in Schule, Familie und Gesellschaft verändern sich.

7. Ausschlaggebend im Kinderroman ist, dass seine Leserinnen und Leser die Figuren bewundern oder sich mit ihnen identifizieren können – deswegen sind seine Protagonisten im Schnitt immer mindestens zwei Jahre älter als die lesenden Kinder.

8. Kleine Macken und große Sehnsüchte: Kinder wollen mitbangen, die Welt retten, die Lösung des Rätsels im Detektivroman finden. Sie wollen dabei sein, wenn ihr Held am Ende siegt. Deswegen sind kindliche Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste, kleine Macken und Eigenheiten und interessante Hobbys kein Puderzucker, den Sie auch mal weglassen können. Denn genau diese Details verführen zum Mitfiebern und Dranbleiben.

9. Prüfen Sie, ob Sie aus einem langen Satz zwei kürzere machen können. Doch, das geht bei 90 Prozent aller Sätze. Solange es noch zu Ihrem Erzählstil passt. Wenn Ihr Text fast nur aus komplizierten Satzkonstruktionen besteht und Sie davon einfach nicht lassen können: Schreiben Sie lieber für Erwachsene. Und für diese auch nicht unbedingt leichte Unterhaltung.

10. Ironie ist ein wunderbares Stilmittel, das auch (die meisten) Kinder verstehen. Sie muss zur Textstelle passen und sollte nicht zu abgehoben sein. Doch es hängt davon ab, ob Kinder im eigenen Umfeld Ironie vermittelt bekommen. Das haben Sie nicht in der Hand. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, dass jedes Kind alles versteht: Verzichten Sie darauf. Aber wer hat als Kind schon jedes Buch von A bis Z verstanden? Spätestens ihre Kinderbuch-Lektorin wird sie darauf hinweisen, ob die Textstellen auch ohne Ironie-Verständnis rezipierbar sind.

Was Sie sonst noch wissen sollten:

Das Zielgruppenalter im Kinderroman geht von sechs bis zwölf Jahren, die Altersschubladen öffnen sich im Zweijahresabstand: Am häufigsten finden wir Kinderbücher ab 8 (bis 10) oder ab 10 (bis 12) Jahren. Da es für das Alter ab 6 Jahren sehr viele Erstlesebücher gibt, sind Erzählungen in diesem Alter seltener als 64-Seiten-Bände mit mehreren kurzen Geschichten zu unterschiedlichen Themen – Pferde, Fußball, Ritter und Prinzessinnen lassen grüßen. Doch Kinderbuch-Verlage veröffentlichen neben Erstleser-Reihen auch für Leseanfänger durchgehende Geschichten, die man mit gutem Willen als „Kinderromane“ ab 6 Jahren bezeichnen könnte.

Häufig lässt der Umfang bereits erkennen, welches Lesealter angesprochen werden soll: Die Werke für Leseanfänger haben oft nur bis zu 64 Buchseiten, ab 8 Jahren geht es bereits bis zu 128 Seiten, etliche sind auch umfangreicher. Ab 10 Jahren gibt es auch Kinderromane mit 200 oder mehr Seiten – neben Ausnahmen wie „Harry Potter“ haben in aller Regel aber Manuskripte zwischen 120.000 und 180.000 Zeichen größere Chancen. Bei der Zeichenmenge sollten AutorInnen berücksichtigen, dass die meisten Kinderbücher für bis 10-jährige LeserInnen illustriert werden, die Schriftgröße auch oft größer gewählt wird und man daher mit dem gleichen Manuskriptumfang letztendlich mehr Buchseiten füllt, als wenn es sich um einen Text für Erwachsene handelt. Manche Verlage führen Reihen, die ganz genaue Text-Umfänge erfordern, doch nur aus diesem Grund ein Manuskript plötzlich enden zu lassen oder sinnlos zu verlängern, ist wenig zielführend. Klar ist, dass die „Freiheiten“ in Bezug auf den Umfang in der Kinderliteratur eingeschränkter sind als in der allgemeinen Belletristik oder auch im Jugendroman. Doch hat sich im letzten Jahrzehnt sehr vieles verändert. Ihr erster Kinderroman sollte allerdings keine 300 Seiten umfassen – es sei denn, Sie wetteifern mit Joan K. Rowling, haben deren Selbstbewusstsein und die Geduld, die Absagen fast aller Kinderbuchverlage einzusammeln.

Zu guter Letzt: Schreiben Sie nicht für Kinder, nur weil Ihre Romanversuche für Erwachsene leider nicht von Erfolg gekrönt waren. Für Kinder zu schreiben ist nicht leichter, nur weil man diesen an Alter und Lebenserfahrung etwas voraushat. Es gibt (wenige) Naturtalente, die tatsächlich adhoc wunderbar für Kinder erzählen können. Doch das Schreiben für Kinder ist oft schwerer als für die Zielgruppe, der Sie selbst angehören. Sie müssen sich dafür an das Kind erinnern, das Sie selbst einmal waren oder in die Kinder hineinversetzen, die Sie kennen. Das Schreiben von Kinderromanen erfordert neben Ausdrucksfähigkeit und attraktiven Themen vor allem eins: besonderes Einfühlungsvermögen in die kindliche Gefühlswelt.

Autorin: Gabi Strobel | www.gabistrobel.de
In: Federwelt, Heft 117, April 2016
Foto: copyright Michael Schober