
Das Hörspiel
Die Zutatenliste
Von Agnieszka Lessmann
Um ein verbreitetes Missverständnis gleich auszuräumen: Hörspiel und Hörbuch sind nicht dasselbe. Das Hörbuch ist ein Buch, das vorgelesen wird. Das Hörspiel ist ein eigenes Genre – wie der Film, das Gedicht oder der Roman. Und da sind wir schon beim zweiten verbreiteten Missverständnis: Das Hörspiel ist nicht unbedingt ein dramatisches Genre, es gibt neben dramatischen Hörspielen auch erzählende, dokumentarische, lyrische, sprachkritische, musikalische und Soundart-Hörspiele. Genau diese Vielfalt ist es, die dieses Genre so faszinierend macht. Der Schreibimpuls kann also eine Geschichte sein, die man erzählen möchte, eine akustisch-künstlerische Idee oder auch ein spielerisches Arrangement.
Paul Plamper hat für „Ruhe 1“ zum Beispiel eine Gruppe von Schauspielern in den akustischen Raum eines gut besuchten Cafés gesetzt: Draußen, vor der Glasfront, prügelt ein Mann auf eine Frau ein. Auf der Grundlage von Figurenskizzen improvisieren die Schauspieler die Nicht-Reaktionen der Cafébesucher.
Seine Kontoauszüge und Mahnungen hat Stefan Weigl in „Stripped – ein Leben in Kontoauszügen“ vorlesen lassen, und Heiner Goebbels hat in „Die Befreiung des Prometheus“ Texte von Heiner Müller musikalisch umgesetzt. Es lohnt sich, diese Vielfalt kennenzulernen, bevor man sich an sein eigenes Stück setzt. Leider gibt es immer noch keine allgemein zugängliche Hörbibliothek, aber die Stadtbüchereien haben oft eine gute Auswahl, und bei den ARD-Sendern* kann man viele Stücke des aktuellen Programms herunterladen.
Die einzige verbindliche Regel, die sich aus dieser schillernden Bandbreite ziehen lässt, hat Ernst Jandl so formuliert: „Hör! Spiel! ist ein doppelter Imperativ.“
* www.ard.de/home/radio/ARD_Radios_im_Ueberblick/109996/index.html
„Hör! Spiel! ist ein doppelter Imperativ“
In seiner Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden formulierte Ernst Jandl die einzige gültige Regel des akustischen Genres. Er nahm ihn im Jahr 1969 gemeinsam mit Friederike Mayröcker entgegen. Das Wiener Autorenduo erhielt den ältesten und renommiertesten Hörspielpreis im deutschsprachigen Raum für das nur 15 Minuten kurze Stück „Fünf Mann Menschen“, einen Hörcomic, der bis heute knackig ins Ohr geht und als Meilenstein des Genres gilt.
Fangen wir mit dem ersten Imperativ an:
Hören Sie!
Dass die Leute nicht reden wie personifizierte Grammatiktabellen der Duden-Redaktion, wissen Sie natürlich. Entsprechend würden Sie in einem naturalistischen Dialog komplexe Nebensätze eher meiden. Aber auch jenseits dessen, was sich verschriftlichen lässt, gibt es in der wirklich gesprochenen Sprache jede Menge Elemente, die einem Dialog Tiefe und sinnliche Präsenz geben, seien es Nuancen in der Aussprache, kleine Laute, Betonungen, persönliche Eigenheiten. Im Hörspiel wird gesprochen, nicht gelesen. Um also ein genaues Empfinden für die gesprochene Sprache zu entwickeln, ist es ratsam, genau zuzuhören, wenn Menschen sprechen. Sehr gute Studienorte sind öffentliche Verkehrsmittel und natürlich Cafés. Unter Umständen schnappen Sie bei einem solchen Feldforschungstermin sogar einen Dialog auf, der Ihr nächstes Projekt in Gang setzt.
Obwohl es nicht der Autor, sondern die Regisseurin ist, die sich um die akustische Umsetzung eines Hörspiels kümmert, kann es auch einem Autor nicht schaden, ein Gefühl für die Wirkung von Geräuschen zu entwickeln. Für das, was rein akustisch vermittelbar ist und was nicht. Besonders für Drehbuchautorinnen, die sich mit dem Hörspiel ein neues Medium erschließen wollen, ist das ratsam. Ein gutes Mittel dafür sind eigene Aufnahmen. Versuchen Sie zum Beispiel, mit dem Mikrofon einzufangen, wie eine Person hinter einer anderen herrennt. Sie werden anschließend in Ihrem Hörspielmanuskript (hoffentlich) Regieanweisungen meiden, die „Er verfolgt ihn durch die Tiefgarage“ lauten oder „Sie küssen sich lange und leidenschaftlich“. – Es sei denn, Sie schreiben eine Parodie.
Spielen Sie!
Hörspiele finden im Kopf des Hörers statt. Wie beim Lesen entstehen beim Hören die Bilder in der Fantasie, aber anders als das Buch ergänzt das akustische Medium die inneren Bilder durch reale Klänge. Die ästhetischen Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, sind faszinierend! Musik und Geräusche sprechen eine eigene Sprache. Sie können – wie der Soundtrack im Film – Gefühle und Stimmungen lenken und verstärken, das Gesagte ironisch kommentieren oder Assoziationsräume öffnen. Ein aktuelles und besonders schönes Beispiel für den kommentierenden Einsatz von Musik und Geräuschen ist „The King is Gone“, das akustische „Roadmovie“ von Andreas Ammer.
Noch mal: Die konkrete akustische Umsetzung ist Aufgabe der Regisseurin, aber sie ist umso ergiebiger, je deutlicher der Autor den Text bereits beim Schreiben hören konnte. Um dieses „innere Ohr“ zu schulen und anzuregen, können Sie Ihre akustische Feldforschung auf Geräusche und Umgebungen erweitern. Klicken Sie in der Recording-App Ihres Smartphones auf „Aufnahme“ und ziehen Sie los: in den Supermarkt, auf den Sportplatz, ins Wasserwerk oder wohin auch immer Ihre akustische Neugier Sie führt. Sie werden erstaunt sein, was man alles hören kann – und was nicht.
Einen Imperativ möchte ich noch hinzufügen, etwas, das dem Lautpoeten und Performer Jandl so selbstverständlich zueigen war, dass er es gar nicht erst erwähnte:
Sprechen Sie!
Flaubert hat seine Texte, bevor er sie einer letzten Korrektur unterzog, zum Fenster hinausgeschrien, und dabei schrieb er Romane, nicht Hörspiele.
Hermann Bohlen, einer der wenigen Autoren, die zugleich ihre eigenen Regisseure sind, macht darauf aufmerksam, dass man beim Hörspieleschreiben nicht nur „an der Literatur scheitern“ kann, sondern auch an einem „falschen oder ohne Haltung gesprochenen Satz“. Zwischen den von der Autorin mit Blut, Schweiß und Laptop erstellten Text und den Hörer hat die Physik des Hörspiels den Regisseur, die Tontechnikerin und den Schauspieler gestellt. Er kann einen nicht so ganz gelungenen Text gelegentlich retten, er kann ihn aber ebenso vollständig ruinieren. Je konkreter ein Schauspieler sich die äußere und innere Situation der sprechenden Person vorstellen kann, desto angemessener kann seine Interpretation werden. In den Anfängen des Radios hat man die Schauspieler noch in Kostüm und Maske vor das Mikrofon gestellt. Heutzutage vertraut man der Fantasie des Interpreten, aber sie stößt an ihre Grenzen, wenn die Autorin einem volltrunkenen Schulabbrecher und Kleinkriminellen elaborierte poetische Elogen in den Mund legt, so verständlich der Stolz der Autorin auf ihre sprachliche Erfindungskunst und Ausdruckskraft auch sein mag. Das tut manchmal ganz schön weh, aber überprüfen Sie Ihr Manuskript auf genau diese „schönen Stellen“, bevor Sie es abgeben. Und vergessen Sie vor der letzten Korrektur die laute Lesung nicht, ob bei offenem oder umsichtig geschlossenem Fenster.
Kein Imperativ, aber ein gut gemeinter Rat:
Beschäftigen Sie sich mit etwas Wirklichem
Wer etwa eine Stunde lang konzentriert zuhören soll, braucht einen guten Anker für seine Aufmerksamkeit. Versponnenen Gedanken oder immer abstruser abdriftenden Fantasien mag man eventuell folgen, dann müssen sie aber wirklich komisch oder exzeptionell fantastisch sein. Es ist einfacher, den Hörer zu fesseln, wenn es um etwas geht, das Relevanz hat. Ob politisch, gesellschaftlich, psychologisch oder philosophisch – ein klar umrissenes Thema macht es der Hörerin und meistens auch dem Autor oft erst möglich, sich innerhalb dieser Grenzen auf Abenteuer einzulassen.
Ebenso helfen anschaulich eingeführte Orte dem Hörer, bei der Stange zu bleiben. Anders als im Theater und ähnlich wie in Film und Erzählung ist es im Hörspiel ein Leichtes, von einer Hochhausterrasse in Tel Aviv in ein sächsisches Asylbewerberheim zu springen und sich kurz darauf in der Sahara wiederzufinden. Allerdings braucht die Fantasie der Hörerin ein paar Hilfsmittel für solche Reisen. Dabei sollten Sie sich nicht auf die akustische Szenerie verlassen, die die Regisseurin schon irgendwie hinkriegen wird. Die einfachste Möglichkeit ist es, einen Erzähler als Reiseführer zu engagieren. Möglich sind auch Hinweise in Dialogen, die wie nebenher klarmachen, wo man sich befindet. Natürlich können Sie eine Situation auch bewusst eine Zeit lang offen lassen, um Spannung zu erzeugen. Denn selbstverständlich ist Spannung auch im Hörspiel wichtig, hier gelten dieselben Gesetze wie für Film, Drama oder Erzählung.
Zur Manuskriptgestaltung
Benutzen Sie eine gut lesbare Schrift wie Courier oder Arial, Schriftgröße 12, anderthalbfacher Zeilenabstand – Regisseurin, Schauspieler und Tontechnikerin sollen sich auf den Inhalt konzentrieren können, nicht auf das Entziffern hübsch geschwungener Buchstaben. Lassen Sie rechts und links vom Dialog Platz für Kommentare, und geben Sie nur absolut notwendige Regieanweisungen. Ein Beispiel aus meinem Hörspiel „Cobains Asche“:
Geräusch/Raum: (Flughafenhalle L. A., Nirvana: „Come as You Are“)
Angestellter: Sicherheitskontrolle. Bitte öffnen Sie Ihren Koffer!
Courtney: Oh shit!
Angestellter: Das, was Sie da unterm Arm haben auch, Madam.
Courtney: Das ist ein Teddybär.
Angestellter: Darf ich ihn bitte trotzdem mal sehen?
Courtney: (genervt) Bitte!
Angestellter: Das ist ein Rucksack.
Courtney: (trotzig) Sag ich doch. Ein Teddybärrucksack!
Angestellter: Was ist da drin?
Courtney: (wütend) Mein Mann!
(sie öffnet den Rucksack) Da, sehn Sie. Das war mein Hochzeitskleid. Und das (hantiert)
Angestellter: (entsetzt) Das ist ja Asche!
Musik: (Nirvana „Come as You Are“)
Geräusch: (Schuss. Stille.)
Literatur
• Hans-Jürgen Krug: Kleine Geschichte des Hörspiels. UVK
• Andreas Stuhlmann: Radio-Kultur und Hör-Kunst. Königshausen & Neumann
• Lajos Egri: Dramatisches Schreiben. Theater – Film – Roman. Autorenhaus
Linktipps
• www.ardmediathek.de: Links zu den Mediatheken der einzelnen Sender
• www.hoerdat.de: sehr umfassende Hörspieldatenbank
Lese-/Hörtipps
• Ernst Jandl/Friederike Mayröcker: „Fünf Mann Menschen“
• Andreas Ammer: „The King is Gone”; www.br.de/radio/bayern2/inhalt/hoerspiel-und-medienkunst/hoerspiel-ammer-acher-acher-king-is-gone-100.html
• Walter Filz: „Pitcher“; www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/pitcher-100.html
• Ulrich Gerhardt/Günther Heß: „Übergang über die Beresina“; www.br.de/radio/bayern2/inhalt/hoerspiel-und-medienkunst/hoerspiel-beresina-tonaufnahmen-1941-1942-deutsche-kriegsjahre100.html
• Agnieszka Lessmann: „Monolog einer hässlichen Frau“; www.swr.de/swr2/programm/sendungen/hoerspiele/swr2-hoerspiel-am-sonntag-monolog-einer-haesslichen-frau/-/id=660014/did=16293512/nid=660014/1wdnl90/index.html
• Gesine Schmidt: „Oops, wrong planet“; www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/oops-wrong-planet-100.html
• Peter Steinbach: „Die Goldsteins“; www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/die-goldsteins-100.html
• Für alle Hörspielinteressierten sehr zu empfehlen sind die ARD-Hörspieltage, die jedes Jahr im November in Karlsruhe stattfinden: Es gibt dort Hörspiele mit anschließender Diskussion, Workshops, Vorträge und die Wettbewerbe zum Hörspielpreis der ARD, den ARD Online Award, den Deutschen Kinderhörspielpreis und einen speziellen Wettbewerb für die freie Hörspielszene, den ARD PiNball.
Für „Schnellkocher“ – das Wichtigste in Kürze:
• Hören Sie Hörspiele!
• Spitzen Sie die Ohren! In der Bahn, im Supermarkt, beim Jobcenter, bei der Party, in der Kneipe, beim Elternabend: Wie reden die Leute? Nutzen Sie Ihre Aufnahme-App: an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Tätigkeiten. Beschriften Sie die Aufnahmen nicht und legen Sie sie für ein paar Wochen weg. Hören Sie dann rein: Was wird allein aus den Geräuschen deutlich, was muss benannt oder signalisiert werden?
• Werden Sie Ohren-Detektiv: Was sind akustisch ergiebige Situationen? (Außer dem Anrufbeantworter, bitte, der ist durch.)
• Spielen Sie so viel Sie wollen, nur vergessen Sie beim Ergebnis den Spannungsbogen nicht: Worum geht es?
• Erkundigen Sie sich, wie lang die Hörspiele der Sender sind, denen Sie Stücke anbieten wollen. Das Standardformat 54 Minuten und 30 Sekunden wird von allen Kultursendern bedient. Daneben gibt es aber auch Kürzesthörspiele, mittlere Formen und, sehr selten, längere Formate.
Agnieszka Lessmann hat Germanistik, Italianistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft studiert und schon in dieser Zeit begonnen, als Journalistin und Schriftstellerin zu arbeiten, Prosatexte, Lyrik, Hörspiele und Hörfunk-Feature zu verfassen. Zehn Jahre lang produzierte sie im eigenen Studio den „Hörspielkalender“ für den Deutschlandfunk. Ihr Hörspiel „Mörder“ war 2012 für den Prix Europa und den Hörspielpreis der Kriegsblinden nominiert. Ihr Ziel: weiter schreiben, Hörspiele, Theaterstücke, Romane und Gedichte. Eins nach dem anderen.
Autorin: Agnieszka Lessmann | www.agnieszkalessmann.de
In: Federwelt, Heft 119, August 2016