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Aus der Werkstatt des Schriftstellers

Federwelt
Oliver Uschmann
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Die Handschrift: Bei Schullesungen fragen die Kinder so einiges. „Wie reich sind Sie?“ Oder: „Fährst du Mercedes?“ Jungs fragen: „Gladbach oder Dortmund?“ Mädchen fragen: „Twilight oder Vampire Diaries?“ Aber egal, in welcher Schulform oder ob Mädchen oder Junge – fast immer höre ich weiterhin die Frage: „Schreiben Sie mit der Hand?“

Selbstverständlich ist das Schreiben mit Füller und Stift einem Schulkind immer noch näher als den meisten Erwachsenen. Gleichzeitig sind die Teenager ungleich schneller mit dem Kurznachrichtendaumen. Wie dem auch sei: Die Frage ist berechtigter, als es erscheint. Natürlich verfassen 95 Prozent aller Kolleginnen und Kollegen ihre Romane per Tastatur auf dem Rechner. Dennoch gibt es Augenblicke im Schaffen meiner Frau und mir, in denen wir das Klackern des Kunststoffs bewusst gegen das leise Kratzen des Bleistifts tauschen. Im Bordbistro eines Zuges zum Beispiel, wo es dauert, das Gerät beim Aufkommen einer guten Idee aus dem Koffer zu holen. Im Garten, wenn der Wind durch die Hainbuchen fegt und die Libellen kreisen. Im Bett, wenn die Abendlektüre oder ein Motiv in einem Videospiel auf der Handkonsole mit einem Mal eine Idee für das aktuelle Manuskript erzeugt.

Geistesblitze sofort festhalten!
Die Geistesblitze, die in solchen Momenten auftauchen, sollten unbedingt auf der Stelle per Hand auf jeden Fetzen Zellstoff, Karton oder Umverpackung gebracht werden, dessen man habhaft werden kann! Warten Sie nicht die fünfzig Sekunden, die es braucht, Ihren Rechner hochzufahren! Vergeuden Sie keine einzige Sekunde auf der Suche nach Tablet oder Smartphone. Notieren Sie Ideen also in Ihrer Handschrift und in genau dem unverständlichen, von niemandem sonst entzifferbaren Kauderwelsch aus Buchstaben, Symbolen und bezugnehmenden Pfeilen, das Ihnen und nur Ihnen auch zwei Wochen später noch etwas sagt.

Denn das ist der große Vorteil handschriftlicher Notizen. Ein Vorteil, den sich im 21. Jahrhundert viele Kollegen überhaupt nicht mehr bewusst machen: Stift und Papier sind frei. Das Schreibprogramm hingegen zwingt die Notizen in die lineare Zeile-für-Zeile-Form und engt somit auch die Gedanken ein! Wer sich auf der Stufe des Konzeptuellen, auf dieser so wichtigen schöpferischen Ebene, bevor die Geschichte aufgeschrieben wird, durch die Begrenzungen der Technik selbst die Hände bindet, verschenkt unendliche Möglichkeiten. Das extremste positive Gegenbeispiel erlebten ich und andere erstaunte Teilnehmer in einem meiner Workshops, als der „Primus“ der Runde den Figuren- und Handlungsentwurf seines komplexen Vatikan-Romans vor uns ausbreitete – als Mischung aus Karte, Stammbaum und Verweissystem: in mikroskopischer kleiner Bleistiftschrift auf einem raumgroßen Bogen Architekturpapier.

Spielerisch und schnell: mit der Hand
Geht es nach dem Konzipieren ans Verfassen selbst und gehört man zu den Autorinnen und Autoren, für die Sprache mehr als „nur“ Mittel der Erzählung ist, hilft es ebenfalls, per Hand zu schreiben. Vor allem, solange man noch auf der Suche nach einem poetischen Ansatz und einem Tonfall ist, der den Text auch formal künstlerisch interessant macht. Das Spiel mit Worten, Klang, Takt, Rhythmus und Symmetrie geht in der bewusst verlangsamten und visuell viel flexibleren Form der Handschrift bedeutend forscher und mutiger voran. Und zu guter Letzt tut man mit der Gewohnheit, wenigstens einen kleinen Teil des Manuskripts auf diese Art zu produzieren, den literarischen Archiven einen Gefallen. Denn wie sagte Dirk Bogdanski vom Museum für Westfälische Literatur in Oelde bei einer Veranstaltung im Dezember 2014 so schön: „Wenn ihr alle nur noch Dateien produziert, können wir im Jahr 2050 statt Manuskripten nur noch USB-Sticks ausstellen.“ Und das sieht ja nun wirklich nicht aus.

Oliver Uschmann: www.wortguru.de

In FEDERWELT: Heft 113, August/September 2015

 

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