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Angeschlagene Schönheiten - Literatur im Wandel

Federwelt
Susanne Konrad
Angeschlagene Schönheiten - Literatur im Wandel

Der etablierte Literaturbetrieb, der neue Untergrund und vom Sichtbar-Werden, wenn man kein strahlender Sieger ist.

Die Postmoderne ist vorbei. Im herrschenden Literaturbetrieb ist dies aber noch kaum spürbar, die neuen Strömungen brodeln im Untergrund. In Zeiten von Flucht und Asyl, sozialem Gefälle und der Aufspaltung der Gesellschaft in Randgruppen aller Art mit diversen Weltanschauungen erheben diejenigen ihre Stimme, die im weitesten Sinne eine Minderheit vertreten. Dabei wird wieder nach Gefühlen und nach Sinn gesucht. Erlittenes darf auch dann in Text umgesetzt werden, wenn der Schmerz noch „triggert“.
Der Größenwahn Verlag in Frankfurt am Main ist ein Beispiel für diese Bewegung. Der Verleger, Sewastos Sampsounis, gehört selbst einer Mehrfach-Minorität an, sein Lebensweg ist durch Unterdrückungs-, ja Demütigungserfahrungen geprägt. Bei mir als Autorin ist es ähnlich. Verlierer schreiben eine andere Literatur als Sieger. Sie können aber die Stimme von morgen sein.

Impulsgeber für die neue Bewegung – die Migrationsliteratur
War Emine Sevgi Özdamar (Mutterzunge) vor zwanzig Jahren noch eine Exotin, war Feridun Zaimoglu mit Kanak Sprak noch ein absolutes Randgruppensprachrohr, so sind beide heute im Literaturbetrieb fest verankert. Sigrid Löffler schrieb 2013 in Die neue Weltliteratur [...]: „Die Zuwanderer und deren Kinder beginnen, sich selbst die Geschichte ihres großen Lebensbruchs, ihrer Entwurzelung und Entortung zu erzählen [...]“ Dass sie es zunächst in stammelndem, gebrochenem Deutsch taten, war ein Tabubruch in der schöngeistigen Literaturwelt, die einen sprachlichen Perfektionismus vorschrieb und es größtenteils heute noch tut.
Ich habe selbst miterlebt, wie diese Literatur vom Rand in die Mitte rückte: 1997 gründete die iranische Schriftstellerin Shirin Kumm in Frankfurt am Main eine Schreibwerkstatt für Migrantinnen. Die Kerngruppe bestand aus gebildeten Frauen aus dem Iran, aus Kanada, Finnland und Tschechien. Für sie war es neu, Erzählungen und Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben. 1999 erschien eine erste Anthologie, Bunt & bündig, in dem kleinen Migrationsverlag Glaré. In den nächsten Jahren zeigte sich ein zunehmender Trend zur literarischen Gestaltung. Aus der Schreibwerkstatt wurde ein Club, aus diesem ein Verein. Es wurden erfahrene LektorInnen herangezogen, an den Texten wurde gefeilt, die nächste Anthologie Von fernen Gefühlen und Orten [...] hatte einen semiprofessionellen Anspruch. Heute ist der Literaturclub (der) Frauen aus aller Welt e.V. im Rhein-Main-Gebiet eine anerkannte Größe. Nicht mehr vornehmlich Aktivisten der Alternativszene besuchen die vielen Lesungen der AutorInnen, sondern ein bürgerliches Publikum.

Der neue Untergrund ist nicht postmodern
Die Literatur der MigrantInnen war zunächst autobiografisch und stellte das Ich wieder in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. So etwas wurde in der Postmoderne als „Betroffenheitsliteratur“ gebrandmarkt. Die Postmoderne spielte mit der Sprache um ihrer selbst willen, sie dekonstruierte die Gebäude der abendländischen Denktraditionen, aber sie vertrieb auch die Involviertheit in den Erzählstoff, das Leid des Erzählers aus den Texten.
Die Literaturkritikerin Meike Feßmann hielt im Mai 2017 auf der Fachtagung narrativa einen Vortrag über die Tendenzen gegenwärtigen Erzählens. Sie berichtete nicht nur von den vielen jungen eingewanderten SchriftstellerInnen, die beim Bachmannpreis 2016 zum Wettlesen antraten, sondern erklärte auch, dass es in jüngster Zeit ein neues Bedürfnis nach sinnhaften Erzählsystemen gebe. Die Moderne sei nun von einer Übermoderne überlappt, in der es eine Überfülle dessen gebe, was es bereits in der Moderne gegeben habe: immer beschleunigtere Arbeitsprozesse, den Druck, in immer kürzerer Zeit immer mehr zu leisten. Meike Feßmann erinnerte an die Bedeutung des Empfindsamkeits-Romans im 18. Jahrhundert, der Intimität schuf. In der „Erkundung der Innenwelt“ mit Gefühl und Sprache liege auch heute wieder ein großes Potenzial des Romans.
Feßmanns Worte haben mir gefallen, denn mit ihnen lässt sie die postmoderne Kälte hinter sich. Ob ein Text autobiografisch ist oder nicht, wird zweitrangig. Entscheidend ist die emotionale Beziehung zum Erzählthema. Schreibt der Autor, die Autorin beobachtend oder einfühlend? Betrachtet er die Figuren von außen oder teilt er von innen ihre Verletzungen?
Zu mir sagt mein Verleger Sewastos Sampsounis oft: „Schreib mit Gefühl. Schreib nicht so analytisch.“ Aber der Zwang zur Kälte ist mir durch meine Erfahrungen mit dem Literaturbetrieb der letzten dreißig Jahre aufgedrängt worden, und es ist nicht leicht, sich davon zu befreien.

Mein Herz darf bluten, während ich schreibe
Viele Vertreter des literarischen Establishments denken auch heute noch so. Die Grundhaltung ist, dass Literatur ohne erzählerischen Abstand zum Sujet nicht zur künstlerischen Reife erwachsen könne, weil ihr die notwendige Distanz und ästhetische Abstraktion fehle. Auch wird gesagt, man könne zwar persönlich Erlebtes in den Mittelpunkt stellen, aber es müsse verarbeitet sein. Dadurch ist die Außensicht des Beobachters entstanden, die Kälte des Sezierers. Jetzt geht es darum, die ästhetische Nähe wiederherzustellen.
Für mich ist das seit fast dreißig Jahren Thema. Aber ich fühlte mich mit meiner Meinung sehr allein. Ich habe aber erst jetzt begriffen: Man kann die Polarisierung von „Leib“ und „Geist“ und allen philosophischen Vorstellungen, die daran hängen, nicht rein analytisch überwinden. Erst, wenn ich selbst liebe und leidenschaftlich fühle, schließt sich der Graben und die Integration der Gegensätze wird möglich. Man darf wieder Beziehung zu Körpern und Dingen haben. Mein Herz darf noch bluten, während ich schreibe. Mit der Integration des empathischen Fühlens in die Erzählhaltung ist auch ein sprachlicher Wandel verbunden. Die Lektorin Lisa Kuppler berichtete auf der narrativa, dass sich das Präsens als Erzählzeit in den letzten Jahren stärker durchgesetzt habe, denn dieses sei unmittelbarer bei der Gefühlsexpression als das Imperfekt. In diese Richtung zielte auch das Motto des Größenwahn Verlags 2017: „Wir lieben Adjektive“. Gemeint ist, Sprache darf wieder reicher an Schmuck sein, sie darf Emotionen transportieren.
Wie würde ich die Sprache von Autorinnen und Autoren dieser neuen literarischen Bewegung beschreiben? Sie ist gefühlvoll und gleichzeitig rau, enthält melodische Dissonanzen und schiefe Bilder, sie ist sehr tief und warm, Unebenheiten aller Art sind erlaubt. Die Sprache darf manchmal sogar ungelenk klingen. Ein Beispiel ist die Lyrik von Safiye Can. Im Bereich Prosa kann man die Kurzgeschichten von Kyro Ponte oder Jannis Plastargias nennen.

Wie mein Verleger meine spezifischen Stoffe aus mir lockt
Der Größenwahn Verlag macht sich für einige Gruppen von „Minoritäten“ besonders stark: Vor allem betont er die Themen sexuelle Orientierung und Migrationserfahrung. Da kann man fragen, was ich als Autorin in diesem Kontext suche. Meine Liebesgeschichten sind heterosexuell, meine Lebens- und Ursprungsorte liegen in Deutschland. Und doch bin ich ein gebrochener Mensch – aus verschiedenen Gründen. Ich dachte immer, ich müsste das verstecken, unterdrücken, verdrängen und von mir weisen, wenn ich Literatur schreiben wolle. Nach dem herrschenden Diskurs war das auch so. Doch Sewastos Sampsounis lockte meine spezifischen Stoffe aus mir heraus: Die an Leib und Seele Gekränkten, die sozial Benachteiligten, die Älteren und Verwitweten sind die ProtagonistInnen meiner Geschichten. Ja, sie sind die Hauptpersonen, die Träger der Identifikation, diejenigen, die Erfüllung erfahren. Sie sind keine Nebenfiguren.
2016, nach einem wundervollen Urlaub mit meinem Lebensgefährten, schrieb ich eine Novelle. Darin schuf ich die Utopie einer großen Liebe, die sich im Angesicht von Alter und Tod nur noch mehr intensiviert. Wie wichtig dieses kleine Werk ist, kam mir gar nicht zu Bewusstsein. Denn ich arbeitete noch an einem großen, analytischen Familienroman. Diesen lehnte mein Verleger ab. Ich war geschockt. „Das Gefühl fehlt“, war die Begründung. Aber da steckt mehr dahinter. Ich soll nicht mehr veraltete Weltbilder und daraus resultierende Werte nur analysieren und dekonstruieren. Nein, ich soll mich durchringen, soll meine eigenen inneren Klischees und Tabus überwinden und positive, neue Entwürfe schreiben. Darum hat Sewastos Sampsounis den Roman zurückgewiesen und nach der Novelle gegriffen, die zur Frankfurter Buchmesse 2017 unter dem Titel Die Liebenden von Wiesbaden erschienen ist.

Literatur der Verlierer?
Das digitale Zeitalter bietet uns viele Möglichkeiten, neue Erzählformen zu finden. Christina Schachtner, Professorin für Medienwissenschaft, machte in ihrem narrativa-Vortrag auf die Multimedialität des Erzählens im digitalen Zeitalter aufmerksam: Bild, Interaktivität, Sound, alles sei einsetzbar.
Darin steckt noch ein weiterer wichtiger Aspekt unseres aktuellen Zeitalters: die Transdisziplinarität. Vorher gab es Interdisziplinarität: Pädagogen, Ärzte, Soziologen saßen zum Beispiel in einem Team zusammen. Dabei blieb aber jeder Vertreter seiner Sparte. Heute verschmelzen auch diese Grenzen. Fachleute suchen sich aus der jeweiligen Schule das heraus, was sie brauchen. Als ich vor einiger Zeit psychisch angeschlagen war, weil ich mit meiner schriftstellerischen Entwicklung nicht weiterkam, besuchte ich ein Coaching bei einer sehr interessanten Frau. Sie machte mit mir systemisches Figurenstellen, um die Erzählstoffe, die in mir virulent sind, mit mir herauszuarbeiten. Unbefangen brachte sie Elemente aus Freuds Psychoanalyse und C. G. Jungs Archetypenlehre ein sowie Pragmatisches aus der modernen Personalberatung. Dasselbe gilt für die Literatur: Genres können kombiniert werden.
Bei meinem Verlag ist Platz für die verschiedensten Genres, wenn nur die Grundrichtung stimmt und der Text überzeugt. Dann wird für den Text das passende Format gefunden, egal, ob er zwanzig, fünfzig oder zweihundert Seiten hat.
Im etablierten Literaturbetrieb ist dies oftmals nicht möglich. Dort werden den AutorInnen Genre und Umfang vorgegeben. Auch herrschen bestimmte Spielregeln beim Einsatz von Motiven oder Handlungsverläufen. Das gilt für die Unterhaltungsliteratur. Und die Hochliteratur? Hier herrschen oftmals noch postmoderne Werte vor.
Professor Schachtner würdigte die Kreativität und Fantasie vieler literarischer KünstlerInnen, die sich der aktuellen Formen des Bloggens, der Collage oder des Kommentierens bedienen. Sie sprach auch vom Mut vieler, auf „Statusdenken und kommerzielle Ausrichtung“ zu verzichten. Doch das ist gar nicht so einfach: Ohne Statussymbole bleibt man von der Integration in den Literaturbetrieb ausgeschlossen, zumindest in den herrschenden. Man kann nicht in anerkannten Literaturzeitschriften veröffentlichen, wird nicht als ReferentIn geladen, erzielt keine hohen Auflagen und man wird nicht von überregionalen Medien besprochen.
Wie präsentieren sich SchriftstellerInnen auf der Bühne? Immer strahlend, als Vorbilder. Um so sein zu können, müssen sie bestimmte Voraussetzungen mitbringen: Buchverkäufe, Rezensionen, Auszeichnungen, namhafte Verlage. Nicht nur das: Sie müssen seelisch kerngesund sein, müssen ihren Erzählstoff stets im Griff haben, sie müssen sich präsentieren, vermarkten, eine Rolle spielen, sich zur Marke machen. Mich hat das immer gestört. Ich wollte das nie. Ich möchte keine tausend Follower, sondern einen Austausch auf Augenhöhe mit den Rezipienten meiner Texte. Aber wie erreiche ich die? Wenn ich in der Vermarkungsmaschinerie nicht mitspiele, bleibe ich gänzlich unbekannt – ohne Anerkennung, ohne Würdigung, ohne LeserInnen.
Das ist dann auch nicht das Schriftstellerglück, das ich mir wünsche.

Interaktion und Solidarisierung
Was machen SchriftstellerInnen, die keinen Zugang zu Feuilleton, Lesereisen, zum größeren Buchhandel bekommen, sich aber öffentlich äußern wollen? Klar, sie publizieren im Netz, bloggen und twittern. Aber das ist nicht alles. Es gibt neue Formen der Solidarisierung, die so vor einem Jahrzehnt noch nicht existiert haben. Beispielsweise veröffentlichte ich 2016 beim Größenwahn Verlag die literarische Anthologie Frankfurter Einladung. Sie beinhaltet zu jedem der 43 Stadtteile Frankfurts eine Erzählung, eine Betrachtung oder ein Gedicht. Ich habe das Buch nicht allein geschrieben, sondern es herausgegeben, habe dreißig AutorInnen angefragt, von denen ich annahm, dass sie viel über ihren Stadtteil wissen und vor allem: dass sie eine lebendige Beziehung zu ihm haben. Mit diesen AutorInnen habe ich dann auch Gruppenlesungen veranstaltet, in verschiedenen Stadtteilbibliotheken. Die Organisation von Gemeinschaftsprojekten ist in unserer Zeit ein probates Mittel, Öffentlichkeit zu bekommen, wenn anderweitig nichts geht. Zum Beispiel ist der erwähnte Literaturclub (der) Frauen aus aller Welt e.V. ein Autorinnen-Kollektiv, das zusammen Lesungen veranstaltet.
„Auf Statusdenken und kommerzielle Ausrichtung zu verzichten“ – ist leichter gesagt als getan, weil Status und Kommerz ja Bewegungsfreiheit garantieren. Ein Verlag muss existieren. Wenn er überleben will, muss er ausreichend Bücher verkaufen. Für Größenwahn ist es ein Balanceakt, Umsatz zu machen und seiner Idee treu zu bleiben. So geht es auch mir als Schriftstellerin. Ich folge meiner Werkidee seit vielen Jahren, aber wenn mich niemand wahrnimmt, habe ich nichts davon.
Weil mir die neuen Strömungen aber sehr wichtig sind und weil ich langsam begreife, dass ich nicht die einzige bin, die so denkt und fühlt, freue ich mich sehr und bin motiviert, weiterhin zu schreiben und das Geschriebene zu kommunizieren.

Autorin: Susanne Konrad | www.susanne-konrad.de
Weiterlesen in: Federwelt, Heft 127, Dezember 2017
Foto: Carola Vogt und Peter Boerboom

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