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Story Journey: In Bögen denken

Beemgee
Olaf Wielk
Beemgee.com - Stoffentwicklung und Dramaturgie

Geschichten haben bekanntermaßen einen Anfang und ein Ende. Dazwischen passiert etwas: die Story Journey.

Wesentlich ist dabei – und das wird gerne übersehen –, dass es nicht so sehr um die Reise des Helden geht, sondern um die des Rezipienten – des Lesers, Zuhörers oder Zuschauers.

Der Handlungs- oder Spannungsbogen verbindet den Anfang und das Ende. Er umspannt also die Story Journey und zeigt die Entwicklung auf, die durch die Reise entstanden ist. In der Regel ist das gleichzusetzen mit der Entwicklung, also der inneren Transformation des Protagonisten. Der Leser wird hier durch die Geschichte, die er mit den Figuren zusammen erlebt, auf eine Reise genommen, erfährt Schicksalsschläge und Verwicklungen, teilt Freud und Leid. Die Figuren sind dafür da, beim Leser emotionale Reaktionen zu erzeugen. Dem Autor kommt hier die Rolle des „Reiseleiters“ zu.

Was sind die Stationen der Story Journey und warum sollte der Autor darauf achten, sie zu durchlaufen?

 

Die Leser anfixen und miteinbinden

Zu Beginn wird die Prämisse der Geschichte etabliert – wir haben diesen Begriff im letzten Artikel an dieser Stelle beschrieben. Sie zeigt die Ausgangslage auf, damit Leser wissen,

  • in welcher Welt die Geschichte spielt,
  • wer die Hauptakteure der Geschichte sind,
  • was die Probleme sind, die es zu bewältigen gilt.

Mit Welt ist das Setting gemeint, die Erzählwelt, in welche die Geschichte eingebettet ist. Auch das Genre schwingt hier mit. Es werden Erwartungshaltungen beim Leser geweckt. Ferner setzt sich der Autor selbst die Spielregeln für Art und Aufbau der Erzählstruktur, bspw. wie mit Erzählperspektive umgegangen wird. 

Als Leser will man relativ bald wissen, um wen es in der Geschichte geht. So empfiehlt es sich, den oder die Protagonisten so früh wie möglich vorzustellen. Ein paar wichtige Figuren wird der Leser selbstredend erst im Laufe der Story Journey kennenlernen, bestenfalls vor dem Mittelpunkt der Geschichte. Es ist recht ungewöhnlich, Figuren, die für die Handlung besonders relevant sind, erst in der zweiten Hälfte einzuführen, birgt das doch die Gefahr des Deus-ex-Machina-Effekts. Wenn eine Figur erst spät in Erscheinung tritt, dann sollten die anderen Figuren bereits viel von ihr erzählt haben. Graham Greene hat in Der Dritte Mann ein hervorragendes Beispiel dieser Technik geliefert – im Buch und Film ist durchgehend die Rede von Harry Lime, doch die Figur taucht erst relativ am Schluss auf. 

Für gewöhnlich setzt ein Auslöser-Ereignis die Geschichte in Gang. Irgendetwas passiert, das die Balance der Ausgangslage stört. Dies mag ein an sich banales Ereignis sein, doch wird es große Auswirkungen haben. Die Szene ist wichtig, weil sie das Problem etabliert, das es in der Handlung zu lösen gilt. Im klassischen Detektivroman sieht man diesen Moment deutlich, wenn der Klient ins Büro des Ermittlers kommt und den Fall präsentiert. In Liebesgeschichten ist es häufig der Moment, wenn sich das Liebespaar zum ersten Mal begegnet. Doch in allen Geschichten, unabhängig vom Genre, gibt es diese Szene, die nicht unbedingt sonderlich spektakulär sein muss. 

 

Den Lesern geben, was sie brauchen

Es kommt der Moment, wenn der Protagonist die gestellte Aufgabe angeht bzw. für sich akzeptiert und loszieht, um das Problem zu lösen, d. h. den Fall zu knacken oder sich in eine Beziehung zu stürzen. Häufig wird dieser Punkt mit einem ersten Test, einem Hindernis, markiert: Der Protagonist muss eine Schwelle überschreiten, um die Reise anzutreten. Sodann befindet sie oder er sich auf unbekanntem Terrain und im zweiten Akt der Geschichte. Gleichzeitig ist spätestens dies der Punkt, an dem der Leser eine emotionale Bindung zu dem Protagonisten aufgebaut haben sollte. Ab hier geht es nicht mehr um reine Informationsaufnahme, sondern ums Mitfiebern.

Häufig erscheint kurz darauf eine Figur, die zum Verbündeten wird – meistens reisen Protagonisten nicht alleine. So eine Figur verkörpert das „Fremde“, diese (andersartige) Welt, tritt als Mittler auf – für den Leser gleichermaßen wie für den Protagonisten – und steigert somit die Neugierde beim Leser, denn das Spannende an einer fremden Welt (und sei es nur die Wall Street, eine Straße in Dublin oder ein Dorf in den Alpen) ist nicht die Landschaft, sondern es sind die Leute dort.  

Nun gilt es, erste Abenteuer zu bestehen. Die Erwartungen, die im ersten Teil beim Leser geweckt wurden, sollten nun bedient werden. Handelt es sich um eine Abenteuergeschichte, muss der Autor auch Abenteuer liefern. Auch genreunabhängige, literarische Werke brauchen eine stringente Handlung, denn gerade diese fesseln nicht allein durch schöne Sprache und tiefe Bedeutung, sondern durch starke Figuren, die wiederum auf den Leser durch ihre Taten wirken. Diese Taten ergeben letztendlich den Plot. 

Nun kommt die, strukturell gesehen, nächste wesentliche Station, womöglich der wichtigste Punkt überhaupt: der Midpoint, der Mittelpunkt. Diese zentrale Szene kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: Manchmal zeigt sie einen Moment der Wahrheit, eine erste Erkenntnis; möglicherweise erreicht der Protagonist hier das Ziel und die zweite Hälfte der Geschichte dreht sich um die Auswirkungen. In der Göttlichen Komödie übergibt Vergil in der Mitte der Trilogie die Führung Dantes an Beatrice. In James Camerons Titanic kollidiert in der Mitte des Films das Schiff mit dem Eisberg. Wann wird Hamlet endlich aktiv, indem er Polonius erdolcht? Und wann kommt die Szene, die Hitchcocks Psycho so berühmt gemacht hat? Und wann trifft die Maus den Grüffelo? Genau, jeweils in der Mitte.
Dieser Moment markiert den Zenit des Handlungsbogens und teilt die Geschichte entzwei. Der Mittelpunkt schafft ein selten beachtetes, doch mächtiges Strukturmerkmal: Symmetrie. In der ersten Hälfte werden Fäden aufgenommen, Fragen gestellt. In der zweiten geht es drum, die „losen Enden“ zu verknüpfen und Antworten zu bieten. Bestenfalls hat jede Szene in der ersten Hälfte ein Äquivalent in der zweiten. 

 

Nach dem Mittelpunkt – der lange Weg zum Schluss

In der zweiten Hälfte häufen sich die Ereignisse. Sie kommen nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber im Groben sehen wir hier in Geschichten aus allen Zeitaltern und Kulturkreisen immer wieder folgende Szenentypen:

  • Der Druck wächst, der Antagonismus zeigt sich. Häufig erscheint nun der Tod, sei es auch nur metaphorisch, z. B. als Abschied. Verlust ist wichtig als Gegenpol zur Vollkommenheit, um ausreichend Spannung zu erzeugen. Eine gute Geschichte lebt vom Wechselspiel der Emotionen.
  • Ein Moment des Innehaltens, die sogenannte Campfire Scene, also im Western die Szene, in der die Hauptfiguren am Lagerfeuer sitzen und etwas psychologisch Wichtiges aus ihrer Vergangenheit enthüllen. Ruhe ist wichtig, damit die darauf folgende Aufregung wirkt.  
  • Der Tiefpunkt, an dem alles aussichtslos erscheint. Glück kann nur empfunden werden, wenn das Gegenteil bekannt ist.
  • Eine Idee, ein neuer Plan, eine Erkenntnis – es gibt doch eine Hoffnung, aus der ausweglosen Situation zu entkommen.
  • Die Krise
  • Die Konfrontation
  • Die Erlösung

So vereinfacht dargestellt, mag das wie die Formel für eine Hollywood-Schmonzette erscheinen. Doch Hollywood bedient sich dieser archetypischen Struktur nicht umsonst. Sie ist so alt wie die ältesten Geschichten. In der Odyssee, nur als Beispiel, finden sich genau diese Elemente. Denn die Struktur ermöglicht das, was Rezipienten von Geschichten benötigen und zurecht erwarten: Emotionen.

Gefühle wirken am stärksten, wenn sie einander gegenübergestellt werden. Deswegen zeigen Geschichten Höhen und Tiefen auf. Wenn eine Geschichte auf ein schlimmes Ende zuläuft, ist es wichtig, dass vorher Glücksgefühle ausgelöst wurden – denn so kommt die Tragik des schlimmen Endes zum Tragen. Und natürlich umgekehrt beim Happy End. Homer wusste das und viele weitere Geschichtenerzähler auch, von Vergil, Dante, Shakespeare zu Graham Greene, Alfred Hitchcock oder James Cameron. 

 

Das große Aufatmen

Am Ende des Bogens befindet sich eine veränderte Situation, die weiterentwickelte bzw. wieder in Lot gebrachte Ausgangslage. Das Problem, das in der Prämisse etabliert wurde, ist gelöst. Wahrheiten wurden enthüllt. So sehen wir nun in der Regel einen Protagonisten, der am Ende der Reise weiser ist als vorher, weil sie oder er eine innere Transformation durchlebt hat.

Es ist durchaus möglich, Geschichten zu konzipieren, in der Figuren eine negative Entwicklung durchmachen – als abschreckendes, doch faszinierendes Beispiel für uns Leser, die wir erkennen, dass dieses Beispiel eines Verlaufs, wie wir ihn gerade gelesen haben, nicht wünschenswert ist. Wären wir in der Situation, würden wir hoffentlich anders handeln – so denken wir vielleicht. Das ist die Funktion des Antihelden. Wie Michael Corleone, der Sohn des Paten, der es nicht schafft, seiner Familie zu entkommen, und vom unschuldigen Studenten zum erbarmungslosen Mafiaboss wird.

Ferner ist es möglich, dass eine Hauptfigur sich gar nicht entwickelt, nichts dazulernt, und am Ende der Geschichte im Prinzip genauso ist wie am Anfang. Doch der Leser hat eine große Reise zurückgelegt und auf dem Weg durch das Wechselbad der Gefühle seine Erfahrungen gemacht. Beispiele solcher Geschichten sind Moby Dick oder Alice im Wunderland.

Mit jedem gelesenen Roman, mit jeder erlebten Geschichte hat ein Leser eine Art Reise vollbracht, ist eingetaucht in eine fremde Welt, wo sie oder er etwas erfahren und somit dazugelernt hat. So sind Autoren in gewisser Weise Reiseführer und ihre Leser Touristen in einem von ihnen erschaffenen Land.
 

Planen Sie die Reise Ihrer Leser sorgfältig, um sie nicht zu enttäuschen. 

 

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Storytelling – die Kolumne

Neben der Kerntätigkeit, den Erzählstoff in Worte zu fassen, muss jeder Schriftsteller ein weiteres, ebenso wichtiges Feld beherrschen: die Dramaturgie.
Intuition und ein Gespür für Zusammenhänge sind unersetzliche Fähigkeiten beim Komponieren einer Geschichte, das Arrangement der Handlung und die Ausformung der Charaktere ist eine komplexe Aufgabe – Storytelling will gelernt sein.

In dieser Kolumne schreiben wir über Plot‐Struktur und Figurenentwicklung, über Stoffentwicklung und Dramaturgie.